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Streichquartette

Felix Mendelssohn-Bartholdy

Felix Mendelssohn Bartholdys Streichquartette umspannen beinah sein gesamtes Schaffen.

Streichquartett Es-Dur (op. 12)

  • Adagio non troppo – Allegro non tardante
  • Canzonetta. Allegretto – Più mosso
  • Andante espressivo
  • Molto allegro e vivace

Das Es-Dur-Quartett wurde zwar als Opus 12 publiziert entstand aber nach dem in der Zählungen folgenden a-Moll-Quartett. Wie dieses Schwesterwerk spiegelt es Mendelssohns intensive Beschäftigung mit den damals (wie in Wahrheit auch heute noch) als avantgardistisch und unverständlich geltenden späten Streichquartetten Ludwig van Beethovens, die ja zur Entstehungszeit der ersten beiden Mendelssohn-Quartette erst wenige Jahre alt waren.

Mendelssohn hat wiederholt darauf hingewiesen, daß er sich bewußt auf Elemente in Werken wie Op. 130 oder Op. 132 bezogen hätte. Wobei sich das Es-Dur-Quartett eher an den lyrischen Momenten in Beethovens Spätwerk orientiert, während das a-Moll-Stück leidenschaftlich und expressiv geriet.

Wobei die Mittelsätze beider Quartette viel mit den Liedern ohne Worte des Klavierkomponisten Mendelssohn zu tun haben und einem dann von Robert Schumann weiter verfolgten Stil den Boden aufbereiten, der die Ästhetik der Charakterstücke in die große Kammermusik und die Symphonik herüberholt.

Freilich gibt es mit Sätzen wie der Danza tedesca oder sogar der Cavatina aus Op. 130 auch für diese Tendenz bei Beethoven Vorbilder. Die Ungleichheit der Längen der Sätze gehört dazu: Das Andante des Es-Dur-Quartetts ist ein veritables Lied ohne Worte von nur 65 Takten – so sind die beiden Ecksätze jeweils doppelt so lang wie die Mittelsätze zusammengenommen.

Streichquartett a-Moll (op. 13)

  • Adagio – Allegro vivace
  • Adagio non lento
  • Intermezzo. Allegretto con moto – Allegro di molto
  • Finale. Presto – Adagio non lento

Das a-Moll-Quartett ist so etwas wie Mendelssohns Hommage an Beethoven. Es entstand in Beethovens Todesjahr 1827 und stellt die Verbindung zum großen Vorbild mittels einiger Zitate und zitathafter Passagen her. Die Beschäftigung mit Beethoven war für den 18-jährigen Komponisten auch eine Art Protest gegen die im Hause Mendelssohn herrschenden ästhetischen Doktrinen. Ein paar Jahre später erinnert sich der Komponist, wie

meine musikalische Thätigkeit auf meinem eigenen Wege anfing, und als Vater fortwährend in der übelsten Laune war, auf Beethoven und alle Phantasten schalt und mich darum oft betrübte.

Vor der Uraufführung in Paris schon stellte Mendelssohn den Bezug zum Wiener Klassiker her, indem er schrieb:

Morgen wir mein A-Moll-Quartett öffentlich gespielt. Cherubini sagt von Beethoven’s neuer Musik: Ca me fait éternuer, und so glaube ich, das ganze Publikum wird morgen niesen.

Tatsächlich kam es, wenn man dem Bericht des Komponisten glauben schenkt, anläßlich der ersten Aufführung tatsächlich zu Verwechslungen: Ein Mann im Publikum soll Mendelssohns Stück für ein Werk Beethovens gehalten haben.

Hellhörige Musikfreunde verstehen die Zusammenhänge auch ohne Mendelssohns einschlägige analytische Hinweise in einem Brief an den Komponisten-Freund Adolf Lindblad: Die langsame Einleitung des Quartetts klingt wie ein Nachahll der Les Adieux-Sonate, das chromatisierte Fugenthema, das im Adagio des Quartetts auftaucht und – wie die Introduktion – im Finale noch einmal zitiert wird, erinnert tatsächlich frappant an eine Passage aus Beethovens Siebenter Symphonie. Formal diente dem a-Moll-Quartett wohl Beethovens op. 132 in derselben Tonart als Muster: Vom heftig bewegten Übergang von der Einleitung ins Eingangs-Allegro bis hin zum Rezitativ, das dem Finale wie in einer Opernszene vorangeht.

Rezitativisch-beredt ist nicht nur diese Passage in Mendelssohns Werk. Schon die Introduktion zum stürmisch bewegten ersten Satz zitiert Mendelssohns eigenes Lied Frage und kehrt im Finale beziehungsvoll wieder. Im Mittelteil des Adagios setzt ein Rezitativ der heftigen Steigerung der Fuge, die erregt ganz aus den Fugen zu geraten droht, ein jähes Ende und führt zu einer Wiederkehr des sanften Liedes ohne Worte mit dem der Satz begonnen hatte – es erklingt nun kunstvoll verwoben mit den »gezähmten« Elementen des chromatischen Fugenthemas.

Wie ein Satyrspiel auf dieses Adagio nimmt sich das folgende Intermezzo aus: liedhaft über gezupfter Begleitung in den Außenteilen, wiederum fugiert im »Trio«.

Zerklüftet und hochexpressiv gibt sich das Finale, in dem die Gegensätze schroff gegeneinander ausgespielt werden. Selbst das vorwärtstreibende Marschthema, das den energischen Presto-Beginn ablöst, wird immer wieder durch kommentierende rhetorische Einschübe gehemmt. Das Wiederauftreten des Fugenthemas aus dem Adagio bringt das formale Gerüst vollkommen aus dem Gleichgewicht. Quasi una fantasia läuft die Bewegung in einem Violinsolo aus, dem wie ein andächtiger Schlußchor die Erinnerung an den Beginn des Werks folgt. Das Ende formuliert eher noch einmal die eingangs gestellte Frage als daß es eine Antwort geben könnte…

Hier diente wohl ebenfalls Beethoven mit seinem »Muß es sein«, das dem letzten seiner Streichquartette (op. 135) vorangestellt ist, als Vorbild – doch anders als dieses Vorbild, scheint Mendelssohn die Antwort letztendlich zu verweigern. Ein Beethoven’sches, affirmatives »Es muß sein!« bleibt er seinen Hörern schuldig.

Streichquartett D-Dur (op. 44/1)

  • Molto allegro vivace
  • Menuetto. Un poco allegretto
  • Andante espressivo ma con moto
  • Finale. Presto con brio

Wie bei den ersten beiden Quartetten täuscht auch im Falle der Dreierserie Opus 44 aus den jahren 1837/38 die gedruckte Reihenfolge über die Entstehung der Werke: Das D-Dur-Quartett war das letzte der drei Stücke. Es zieht quasi Bilanz und gehört zu den brillanteste, geschliffensten romantischen Versuchen im heiklen Genre – mit den virtuosen Passagen für den Primgeiger knüpft es an manche Haydn’sche »Geigenquartette« an, die man – wie dieses Mendelssohn-Werk als verkappte Violinkonzerte bezeichnet hat. Es wurde am 16. Februar 1839 in Leipzig uraufgeführt. Gewandhauskonzertmeister Ferdinand David musizierte mit drei Orchesterkollegen. Auf den »Konzertsatz« für Freund David läßt Mendelssohn ein gravitätisch-altmodisches Menuett folgen, das er wohl im Kopf hatte, wenn er diesem Werk ausdrücklich „Rococogeschmack“ zuschrieb. Das Andante, ist ein unverwechselbar mendelssohnisches Lied ohne Worte, dessen Melodie wieder ganz auf die Solovioline zugeschnitten ist, bei der Reprise aber in die Unterstimmen wandelt, um von tönenden Girlanden verbrämt zu werden. Damit stehen wie schon in den Quartetten op. 12 und op. 13 zwei Charakterstücke inmitten gewichtiger Ecksätze, wobei das Finale des D-Dur-Quartetts den »konzertant-virtuosen« Zug des ersten Satzes noch weiter zuspitzt zu einem veritablen akustischen Hochseilakt.

Streichquartett e-Moll (op. 44/2)

  • Allegro assai appassionato
  • Scherzo. Allegro di molto
  • Andante
  • Finale. Presto agitato

Gestern Abend wurde mein E-Moll-Quartett von David öffentlich gespielt, und machte großes Glück. Das Scherzo mußten sie da capo spielen, und das Adagio gefiel den Leuten am besten. Dies setzte mich in langes Erstaunen. In den nächsten Tagen will ich ein neues Quartett anfangen, das mir besser gefällt.

Selten war sich Felix Mendelssohn-Bartholdy über die Qualität eines Werks so im unklaren wie im Falle dieses chronologisch ersten, 1837 komponierten seiner »mittleren« Streichquartette. Die Tonart – und der Charakter des Hauptthemas des Kopfsatzes – nehmen zwar schon den großen Wurf des im Jahr darauf komponierten Violinkonzerts vorweg, doch die Struktur der Ecksätze des Quartett verrät doch den Kampf des Komponisten mit einer adäquaten Anverwandlung der klassischen Sonatenform, wobei die pulsierende Sechzehntelbewegung im Kopfsatz für mehr und mehr dramatische Energie sorgt und in keinem Moment den Eindruck von »Klassizismus« aufkommen läßt.

Publikum und Fachkritik waren sich im übrigen von der Uraufführung an einig: Die Sympathie gehört in diesem Fall uneingeschränkt den beiden Mittelsätzen, die – wie schon zuvor in den ersten beiden Streichquartetten Mendelssohns – zum Genre der romantischen Charakterstücke zu zählen sind.

Dem Scherzo in E-Dur, das für die Interpreten mit seinen Tremoli und brisanten Vorschlägen zu den heikelsten spieltechnischen Herausforderungen der romantischen Kammermusik gehört, folgt wieder ein typisches »Lied ohne Worte« mit einem von Arpeggien umflorten Gesangsthema.

Dieses Stück darf durchaus nicht schleppend gespielt werden

schreibt Mendelssohn als Vortragsanweisung in die Partitur: Der ununterbrochene Fluß der Melodie, erst spät von punktierten Rhythmen unterbrochen, verleitet zum Verweilen.

Am Finale fesseln vor allem die rhythmischen Verwirrspiele, die Mendelssohn im sonst geradezu volkstümlichen Ambiente treibt.

Streichquartett Es-Dur (op. 44/3)

  • Introduzione. Andante con moto – Allegro vivace
  • Andante con moto quasi Allegretto
  • Menuetto. Grazioso – Trio
  • Allegro molto

In diesem – auch in scheinbar unbeschwerten Momenten durchwegs melancholisch umflorten Werk, das Mendelssohn für das beste seiner mittleren Quartette hielt, das aber am seltensten in den Konzertsälen erklingt, verbeugt sich der Komponist vor zwei seiner großen Vorbilder: Der langsame Satz, seltsam unentschlossen, tastend wirkend, beginnt mit einem Mozart-Zitat und endet mit einer Hommage an Franz Schuberts B-Dur-Klaviertrio

Nicht einmal das Scherzo hat hier unbeschwerten Charakter, sondern trägt geisterhafte Züge. Die Ecksätze hingegen sind ungeheuer energetisch – wobei das Eingangs-Allegro von der einleitenden Sechzehntelbewegung regelrecht beherrscht wird: einmal vorantreibende Begleitfigur, dann wieder melodisches Element, und in der Durchführung insistierende Kraftquelle einer seltsam sinistren Reise über unsicherem Grund.

Streichquartett f-Moll (op. 80)

  • Allegro vivace assai – Presto
  • Allegro assai
  • Adagio
  • Finale. Allegro molto

Dies ist ein Bekenntniswerk, eines der persönlichsten, subjektivsten Dokumente, die je komponiert worden sind. Mendelssohn reagiert mit seinem letzten großen Werk auf den unerwarteten Tod seiner Schwester Fanny Hensel im Mai 1847. Fanny, hochbegabt wie ihr berühmter Bruder, starb unter tragischen Umständen mit 41 Jahren während sie eine Probe zu einer Aufführung der Ersten Walpurgisnacht ihres Bruders leitete. Jäh traf sie ein Schlaganfall, dem sie kurz daraf erlag. Felix Mendelssohn-Bartholdy hat diesen Verlust nie überwunden. Am 4. November desselben Jahres folgte er seiner Schwester ins Grab. Als Epitaph für seine Schwester komponierte er sein f-Moll-Streichquartett, Protokoll seines zerrütteten Seelenzustands.

Befreiung suchte Felix Mendelssohn bei einem Urlaub in den Schweizer Bergen.

Bis jetzt kann ich an Arbeit, ja an Musik überhaupt nicht denken, ohne die größte Leere und Wüste im Kopf und im Herzen zu fühlen.

Er malte zauberisch-schöne Idyllen und komponierte gleichzeitig ein fahles, hochdramatisch-aufwühlendes Streichquartett in f-Moll, das in verzweifelter Aufwallung alle klassischen Formmodelle über Bord zu werfen scheint: Wilde Tremoli und jagende Rhythmen beherrschen den Kopfsatz, ein böser Spuk lastet über dem Scherzo, das statt notorisch schwirrender Mendelssohn’scher Elfenklänge eher eine schwarze Messse zu beschreiben scheint: Eine inmitten kurz aufblitzende Walzerepisode droht in den Wellen negativer Energie zu ertrinken. Das Adagio singt zunächst in versöhnlich weichem As-Dur, schließt aber einen edlen Trauergesang ein. Konkreter hat Mendelssohn, der angebliche »Klassizist« nie auf persönliche Befindlichkeiten musikalisch reagiert. Auch das Finale findet keine Ruhe – der Meister der Stimmungs-Miniatur läßt die tänzerische Bewegung mehr und mehr von den wilden, zerfahrenen Ausdrucksgesten des ersten Satzes einholen und dehnt damit sein erschütterndes Psychogramm auf alle vier Sätze der klassischen Quartett-Form aus. Der radikale Gegenentwurf zur Tradition blieb in der Musikgeschichte folgenlos bis zur Heraufkunft der Moderne.

Mendelssohn starb nur wenige Wochen nach Vollendung dieses Werks nach mehreren Schlaganfällen.

Aufnahmen

Das Es-Dur-Quartett fand mit dem Wiener Originalklang-Ensemble Quatuor Mosaïques einen ideale Anwalt. Gespielt wird mit der nötigen Leichtigkeit, doch niemals »leichtgewichtig«, vor allem mit einem untrüglichen Sinn für beredte, differenzierte Phrasierung. (Naïve/Auvidis, 1998)

Das a-Moll-Quartett spielt das Artemis Quartett mit dem nötigen dramatischen Atem und kostet alle Kontrastwirkungen effektvoll aus – schon der leidenschaftliche Kopfsatz beginnt geradezu explosionsartig nach der schwebend-unwirklichen Atmosphäre der dynamisch feinst schattierten Introduktion. (Erato, 2014)

»Pastorale« (C. Krauss)

Beethovens Sechste in einem raren Mitschnitt eines Rundfunkkonzerts der Wiener Philharmoniker unter Clemens Krauss vom 29. März 1952.

  1. Sinfonia pastorale I Wr. Philharmoniker – Clemens Krauss (live, 1952)
  2. »Szene am Bach« Wr. Philharmoniker – Clemens Krauss (live, 1952)
  3. III - V Wr. Philharmoniker – Clemens Krauss (live, 1952)

Mozarts Vokal-Divertimenti

W. A. Mozart (1783)

Musik zur Unterhaltung waren die »Divertimenti« zur Zeit der Wiener Klassik. Der Name sagt es uns bereits. Mozart hat zu festlichen Anlässen Divertimenti komponiert – und zum Privatvergnügen sogar solche, zu denen gesungen werden konnte. Eine Reihe von sechs solcher Vokal-Divertimenti entstand in Wien (vermutlich) 1783. Die Stücke für drei Sänger und eine apart klingende Instrumental-Besetzung von drei Bassetthörnen, waren wohl für gesellige Abende gedacht, die der Komponist nachweislich mit der Familie des kaiserlichen Hof-Botanikers Nikolaus Joseph von Jacquin verbrachte. Dessen Tochter Franziska und der Sohn Gottfried waren enge Freunde der Mozarts.

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Jean-Baptiste Barrière

1707 – 1747

Barrière stammte aus Bordeaux und musizierte ab 1731 in der königlichen Kapelle zu Versailles. Ausgebildet in Italien, war bald der führende Cellist Frankreichs und der Anlaß für die Popularisierung seines Instruments, das bis dahin ganz im Schatten der Viola da Gamba stand.

Bis 1745 veröffentlichte Barrière sechs Bücher mit Sonaten für das Cello und Basso continuo, die zur bahnbrechenden Literatur für das Instrument gehören.

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Die Motetten

Johann Sebastian Bach

BWV 225 – 230

Die Beiträge des Kantors Johann Sebastian Bachs zur Kirchenmusik in Leipzig waren vielschichtiger als man gemeinhin denkt. Gewiß, im Zentrum standen die Kanten, mit denen der Komponist seit seinem Dienstantritt am 30. Mai 1723 seine Hörer – oder jedenfalls die Kenner unter ihnen – Woche für Woche beeindrucken konnte. Außerdem die grandiosen Vertonungen der Passionstexte für die Karfreitagsliturgie – von denen sich leider nur zwei erhalten haben.

Doch im Rahmen der Sonntags-Gottesdienste in St. Nikolai und St. Thomae, die Bach beide musikalisch zu betreuen hatte, wurden nicht nur Kantaten gesungen. Thomaskantor Bach hatte im Rahmen der Ausgestaltung der Messen auch Orgel zu spielen und mag dabei in aller Regel improvisiert haben. Wie das klang, können wir anhand jener Präludien, Toccaten und Fantasien ermessen, die er freundlicherweise niedergeschrieben hat, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Zusätzlich zum Gemeindegesang gab es in Leipzig, vom professionellen Chor gesungen, auch Motetten, die sich in reich bestückten Druckwerken wie dem Florilegium Portense fanden, das basierend auf Vorarbeiten von Erhard Bodenschatz seit 1618 das Standardwerk für den wöchentlichen Gebrauch in deutschlands protestantischen Kirchen war.

Von Johann Sebastian Bachs Hand haben sich sechs große Motetten erhalten, formal durchaus den Vorlagen im Florilegium nachempfunden, musikalisch aber so reich und tief empfunden wie die Kantaten oder die Passionen.

Singet dem Herrn ein neues Lied, BWV 225

Diese Kantate ist ein Jubelgesang mit einem besinnlichen Mittelsatz, also aufgebaut wie ein barockes Concerto. Gesetzt ist sie für achtstimmigen Doppelchor, dessen dialogisches Potential ausgekostet wirde. Ein Begräbnisgesang kann diese Motette kaum gewesen sein. Die Musikwissenschaft mutmaßt, sie könnte zur Neujahrsfeier 1727 entstanden sein oder wenige Monate später aus Anlaß des Geburtstags des Kurfürsten Friedrich August gesungen worden sein. Die Todesreflexionen des Mittelsatzes würden sich daraus erklären, daß der Fürst Anfang 1727 schwer krank gewesen war. Die raschen Ecksätze basieren auf den Psalmen 149 und 150. Der langsame Mittelsatz ist eine Choralbearbeitung, deren Hauptstimme sich wie ein Ariadnefaden durch das polyphone Stimmengewebe zieht. Die Motette hat nachweislich den mit Bachs Musik keienswegs wohlvertrauten Wolfgang Amadé Mozart verblüfft, als er sie in Leipzig hören konnte: »Das ist nun einmal etwas, von dem ich noch lernen kann,« sollen seine Worte gewesen sein.

Singet dem Herrn ein neues Lied,
Die Gemeine der Heiligen sollen ihn loben.
Israel freue sich des, der ihn gemacht hat.
Die Kinder Zion sei’n fröhlich über ihrem Könige,
Sie sollen loben seinen Namen im Reihen; mit Pauken und mit Harfen sollen sie ihm spielen.

Wie sich ein Vater erbarmet
Über seine junge Kinderlein,
So tut der Herr uns allen,
So wir ihn kindlich fürchten rein.
Er kennt das arm Gemächte,
Gott weiss, wir sind nur Staub,
Gleich wie das Gras vom Rechen,
Ein Blum und fallend Laub!
Der Wind nur drüber wehet,
So ist es nicht mehr da.
Also der Mensch vergehet,
Sein End das ist ihm nah.

Nun lob mein Seel, den Herren
Gott, nimm dich ferner unser an,
Denn ohne dich ist nichts getan
Mit allen unsern Sachen.
Drum sei du unser Schirm und Licht,
Und trügt uns unsre Hoffnung nicht,
So wirst du’s ferner machen.
Wohl dem, der sich nur steif und fest
Auf dich und deine Huld verlässt.

Lobet den Herrn in seinen Taten, lobet ihn in seiner großen Herrlichkeit!
Alles, was Odem hat, lobe den Herrn.
Halleluja!

Der Geist hilft unser Schwachheit auf, BWV 226

Wie BWV 225 ist auch dieses Werk doppelchörig gestaltet. Die beiden Chöre dialogisieren miteinnder in zwei umfangreichen Abschnitten, ehe sie sich im dritten Teil der Motette zum großen Schlußchroal vereinigen. Für diese Motette sind originale Instrumentalstimmen überliefert, die belegen, daß Bach seine Motetten von Instrumenten begleiten ließ, die die Chorstimmen verstärkten.

Der Geist hilft unser Schwachheit auf, denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebühret; sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen.

Der aber die Herzen forschet, der weiß, was des Geistes Sinn sei; denn er vertritt die Heiligen nach dem, das Gott gefället.

Du heilige Brunst, süßer Trost
Nun hilf uns, fröhlich und getrost
In deinem Dienst beständig bleiben,
Die Trübsal uns nicht abtreiben.

O Herr, durch dein Kraft uns bereit
Und stärk des Fleisches Blödigkeit,
Daß wir hie ritterlich ringen,
Durch Tod und Leben zu dir dringen.
Halleluja, Halleluja.

Jesu, meine Freude, BWV 227

Die fünfstimmige Motette »Jesu, meine Freude« ist die früheste der sechs Bach-Motetten. Sie entstand, wie die Bach-Forschung meint, vermutlich anläßlich des Begräbnisses der Oberpostmeisters-Witwe Johanna Maria Keess, die testamentarisch den Wunsch geäußert hatte, bei ihrer Beisetzung möge derChoral »Jesu, meine Freude« gesungen werden. Bach verfetigte die komplexe Motette über diesen Choral quasi als Einstands-Arbeit für seine Zeit als Leipziger Thomaskantor. Er war unmittelbar vor dem Trauerfall berufen worden. Architektonisch hat er sein Werk rund um die zentrale Fuge (»Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich«) symmetrisch angeordnet. Die ungraden Sätze der Motette beruhen auf dem von der Verstorbenen gewünschten Choral. Dazwischen stehen freie Sätze auf Grundlage des Texten aus Römer 8, Vers 1-2 bzw. Vers 9-11.

Jesu, meine Freude
Meines Herzens Weide,
Jesu, meine Zier,
Ach wie lang,
ach lange
Ist dem Herzen bange
Und verlangt nach dir!
Gottes Lamm, mein Bräutigam,
Außer dir soll mir auf Erden
Nichts sonst Liebers werden.

Es ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist

Unter deinem Schirmen
Bin ich vor den Stürmen
Aller Feinde frei.
Laß den Satan wittern,
Laß den Feind erbittern,
Mir steht Jesus bei.
Ob es itzt gleich kracht und blitzt,
Jesus will mich decken.

Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

Trotz dem alten Drachen,
Trotz des Todes Rachen,
Trotz der Furcht darzu!
Tobe, Welt, und springe,
Ich steh hier und singe
In gar sichrer Ruh.

Gottes Macht hält mich in acht;
Erd und Abgrund muss verstummen,
Ob sie noch so brummen.

Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnet. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.

Weg mit allen Schätzen!
Du bist mein Ergötzen,
Jesu, meine Lust!
Weg ihr eitlen Ehren,
Ich mag euch nicht hören,
Bleibt mir unbewusst!
Elend, Not, Kreuz, Schmach und Tod
Soll mich, ob ich viel muss leiden,
Nicht von Jesu scheiden.

So aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen; der Geist aber ist das Leben um der Gerechtigkeit willen.

Gute Nacht, o Wesen,
Das die Welt erlesen,
Mir gefällst du nicht.
Gute Nacht, ihr Sünden,
Bleibet weit dahinten,
Kommt nicht mehr ans Licht!
Gute Nacht, du Stolz und Pracht!
Dir sei ganz, du Lasterleben,
Gute Nacht gegeben.

So nun der Geist des, der Jesum von den Toten auferwecket hat, in euch wohnet, so wird auch derselbige, der Christum von den Toten auferwecket hat, eure sterbliche Leiber lebendig machen um des willen, daß sein Geist in euch wohnet.

Weicht, ihr Trauergeister,
Denn mein Freudenmeister,
Jesus, tritt herein.
Denen, die Gott lieben,
Muß auch ihr Betrüben
Lauter Zucker sein.
Duld ich schon hier Spott und Hohn,
Dennoch bleibst du auch im Leide,
Jesu, meine Freude.

Fürchte dich nicht, ich bin bei dir, BWV 228

Fürchte dich nicht, ich bin bei dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott! Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden,Du bist mein, Ich bin dein,Niemand kann uns scheiden.Ich bin dein, weil du dein LebenUnd dein Blut mir zugutIn den Tod gegeben.Du bist mein, weil ich dich fasse,Und dich nicht, o mein Licht,Aus dem Herzen lasse.Lass mich, lass mich hingelangen,Da du mich und ich dichLieblich werd umfangen.

Komm, Jesu, komm, BWV 229

»Komm, Jesu, komm« ist Bachs klassische Begräbnismotette voll von sinnfälligen Beispielen musikalischer Textausdeutung – der »saure Weg« der »zu schwer« wird oder die schwindenden Kräfte werden hörbar.

Komm, Jesu, komm,
Mein Leib ist müde,
Die Kraft verschwindt je mehr und mehr,
Ich sehne michNach deinem Friede;
Der saure Weg wird mir zu schwer!

Komm, ich will mich dir ergeben;
Du bist der rechte Weg, die Wahrheit und das Leben.
Drum schließ ich mich in deine Hände
Und sage, Welt, zu guter Nacht!
Eilt gleich mein Lebenslauf zu Ende,
Ist doch der Geist wohl angebracht.
Er soll bei seinem Schöpfer schweben,
Weil Jesus ist und bleibt
Der wahre Weg zum Leben.

Lobet den Herrn, alle Heiden, BWV 230

Bei dieser Motette bestehen nach wie vor Zweifel, ob sie tatsächlich von Johann Sebastian Bach stammt. Ihre Faktur scheint bedeutend simpler als jene der anderen Motetten.

Lobet den Herrn, alle Heiden
und preiset ihn, alle Völker!
Denn seine Gnade und Wahrheit
waltet über uns in Ewigkeit.
Alleluja!

Bachs Violinsonaten

Sonaten für Violine und Cembalo

Die Sonaten für Violine und Cembalo, die Johann Sebastian Bach hinterlassen hat, lassen sich in zwei Gruppen teilen. Die Sonaten in G-Dur, e-moll und c-moll (BWV1021, 1023 und 1024) gehören jener Form der Solosonate an, bei der einer führenden Stimme ein bezifferter Baß beigegeben ist, den der begleitende Cembalist oder Organist »auszusetzen« hatte.

Dagegen stellen die sechst Sonaten, die im Bachwerkeverzeichnis mit den Nummern 1014 bis 1019 bezeichnet sind, in Wahrheit keine Violinsonaten, sondern Triosonaten dar. Hier ist die »Klavier-«Stimme ausgeschrieben und bringt eine selbständige zweite führende Stimme ein, während der Baß in der Praxis oft von einem Cello verstärkt wurde. Diese Triosonaten legen im Lauf der Entwicklung mehr und mehr Gewicht auf die Klavierstimme und führen zu jener Form der Violinsonate, die wir von der Klassik her kennen – sie war zunächst (und bis zum späten Beethoven!) eine Sonate » für Klavier mit Begleitung der Violine«, wie auf den Titelblättern der Druckausgaben festgehalten.

Sonaten mit Basso continuo

  • Nr. 1  h-Moll    BWV 1014
    • Adagio
    • Allegro
    • Andante
    • Allegro

  • Nr 2  A Dur    BWV 1015
    • Dolce
    • Allegro
    • Andante un poco
    • Presto

  • No 3  E Dur    BWV 1016
    • Adagio
    • Allegro
    • Adagio ma non tanto
    • Allegro

  • Nr 4  c-Moll    BWV1017
    • Largo
    • Allegro
    • Adagio
    • Allegro

  • Nr 5  f-Moll    BWV1018
    • Largo
    • Allegro
    • Adagio
    • Vivace

  • Nr 6  G Dur    BWV 1019
    • Allegro
    • Largo
    • Allegro
    • Adagio
    • Allegro

In Bachs Jugend genoß die Sonate für Violine mit Begleitung eines Basso continuo höchstes Ansehen. Mit solchen Werken präsentierten sich virtuose Geiger, um ihre Kunst zu demonstrieren. Nicht selten enthalten sie ein Feuerwerk an Doppel- und Tripelgriffen und setzen die Kunst der Präsentation vor jene der Komposition.

Bach bedient sich in seinen einschlägigen Werken zwar hie und da virtuoser Spieltechniken, doch eifert er inhatlich eher den diesbezüglich zurückhaltenderen Werken Arcangelo Corellis nach, die das Schwergewicht auf kunstvolle Erfindungs- und Verarbeitungsgabe legen.

Immerhin beginnen die Sonaten in e-moll und c-moll (BW V1023 und 1024) noch mit rasanten Toccata-Sätzen. Doch in der Folge herrscht klare musikalische Architektonik und kontrapunktisches Raffinement – wobei die c-Moll-Sonate von manchen Kennern eher dem Komponisten Pisendel als Bach zugeordnet wird. Auch bei der F-Dur-Sonate (BWV 1021) scheint die Autorschaft unsicher.

Die Sonaten BWV 1014-1019

Gewißheit haben wir im Fall der sechs Sonaten, die eher dem Triosonaten-Duktus zuzuordnen sind. 1725 schrieb Bach die Werke als

Sei Sounate à cembalo Certato e Violino Solo, col Bassoper Viola da Gamba accompagnato se piace

selbst ins Reine. Vielleicht gehen manche von ihnen auf Kompositionen für ein Tasteninstrument zurück, sicher wurden sie vom Komponisten 1725 als gemeinsam zu veröffentlichende Serie zusammengefaßt. Wie srkupulös sich der Komponist um die architektonische Geschlossenheit des Opus kümmerte, zeigt die Entstehungsgeschichte der sechsten und letzten Sonate, die in drei verschiedenen Fassungen vorliegt.

Während die Sonaten 1 bis 5 alle viersätzig sind, wobei einem virtuos improvisatorischen Auftakt drei Sätze nach dem Schema schnell-langsam-schnell folgen, bestand die G-Dur-Sonate ursprünglich aus sechs Sätzen, enthiel ungewöhnlicherweise auch einen Satz, der nur vom Cembalo musiziert wird und endet mit der Wiederholung des Eingangs-Allegros. In Fassung II entfällt das Cembalo-Solo und wird durch eine transkribierte Arie aus der Kantate BWV 120 ersetzt. In Fassung III steht ein neues Cembalosolo im Zentrum, die Arie entfällt. Der erste Satz wird nun nicht mehr wiederholt. Somit aus dem sechs- ein symmetrisches fünfsätziges Gebilde mit dem Cembalosolo im Zentrum.

Partiten für Cembalo

BWV 825-830

Die erste »Klavierübung«

Sechs Partiten für »Klavier« (Cembalo)
Erstausgabe: 1731

Als »Opus 1« gingen die Partiten für Cembalo in Druck – das erste Werk, mit dem Johann Sebastian Bach sich auf den verlegerischen Markt wagte. 1931 lag die Sammlung zur Leipzige Messe komplett vor, doch die Vorbereitungen liefen seit Jahren: Schon 1726 war die B-Dur-Partita gedruckt worden. In der Folge erschien Jahr für Jahr ein weiteres Werk, bis die Sammlung vollendet war.

Man darf annehmen, daß Bach seiner Folge von sechs Suiten – »Partita« ist lediglich ein anderer Name für eine Folge von Tanzsätzen – unterhaltenden Charakter zumaß; ohne freilich in Sachen handwerklicher Meisterschaft, für die er damals bereits berühmt war, ein Jota nachzugeben: Wie seine großen geistlichen Werke sind auch die weltlichen Kompendien an kontrapunktischer Satzkunst.

DIE DIVERSEN »SUITEN«

Die Tatsache, daß von den für Tasteninstrumente komponierten Suiten Johann Sebastian Bachs je eine Folge von sechs Werken unter dem Titel »Englische« bzw. »Französische Suiten« publiziert wurden, hat weitreichende, aber wenig zielführende Spekulationen über stilistische Differenzen in Bachs Suitenfolgen heraufbeschworen.

Auch die Partiten, die 1731 als Clavierübung erschienen, folgen dem althergebrachten barocken Suiten-Schema, das Bach bei seinem Vorgänger in Leipzig, Kuhnau, vorfand. Die Partiten enthalten die für diese Gattung typischen Sätze Allemande, Courante, Sarabande und Gigue, die Bach offenkundig für perfekt und verbindlich erachtete, und fügen jeweils noch freiere Sätze zur Einleitung und teilweise auch als zusätzliche Sätze ein.

FRANZÖSISCHER EINFLUSS

Französisches« findet sich zuweilen in diesen Stücken, vor allem etwa in der unverwechselbar französischen Ouverture am Beginn der Suite Nr. IV. Im übrigen mischt Bach hier – wie in seinen Orchestersuiten (nach ihren » französischen« Einleitungssätzen auch gern Ouvertüren genannt) italienische und französische Tanzformen bunt und ohne erkennbare Schematik. Die Sechsergruppe deshalb als Deutsche Suiten zu bezeichnen, wie gelegentlich vorgeschlagen wurde, scheint weit hergeholt – und vor allem zum Verständnis der Musik nicht förderlich: Bach schreibt hier, wie sooft, seine unverwechselbare Art von Unterhaltungsmusik – sie geht bei ihm stets auch mit höchst intellektuellem Vergnügen einher.

EINE »DEUTSCHE« KUNSTFORM?

Bachs früher Biograph Spitta, der gern betont, daß es sich bei der »Suite um eine deutsche Kunstform« handle, bemerkt zur Stilfrage, daß die unterschiedlichen Bezeichnungen Courente bzw. Corrente für die scheinbar selben Tanzform mit Bedacht gewählt sei, um zwischen italienischem und französischem Gusto zu unterscheiden:

Aus den Partiten der »Clavierübung« geht hervor, daß Bach denselben, als den Äußerungen zweier Nationalitäten, gleiche Rechte nebeneinander zuerkannte. Die erste, dritte, fünfte und sechste Partita hat er mit Correnten, die zweite und vierte mit Couranten versehen. Erstere stehen im 3/4- und 3/8-Takt und haben ein flüssiges und eilendes Wesen, die Couranten dagegen sind leidenschaftlich erregt, gediegen und tiefsinnig.

In den Druckausgaben ist diese von Spitta bemerkte Differenzierung in der Regel nivelliert worden.

DAS VORBILD CORELLI

Corelli sei für Bach in Fragen des italienischen Stils das Vorbild gewesen, bemerkt der Biograph. Deutlich etwa in der Allemande der E-Moll-Partita, die denn im Manuskript auch ausdrücklich italienisch als »Allemanda« bezeichnet wird. Spitta:

Auch Corellis freie Art, mit der Allemande zu schalten, scheint sich Bach gemerkt zu haben. Während übrigens seine Allemanden wie Öl dahinfließen, zeigt die der E moll-Partita ein eckiges Wesen, welches namentlich durch punktirte Sechszehntel hervorgebracht wird. Diese Bewegung findet sich aber häufig grade in Corellis Allemanden.

Tatsächlich fließen die Allemande-Sätze »wie Öl« allerdings bei höchst unterschiedlicher Bewegungsstruktur: In der D-Dur-Partita weitet sich die melodische Entwicklung zu einem hinreißenden, ruhig strömenden Adagio-Gesang, dem ersten der beiden meditativen Zentren dieses Wunderwerks – ein zweites folgt mit der Sarabande, während die übrigen Sätze für gut gelaunte, geistreiche Gegenpole bilden.

Typisch italienisch sei, so Spitta, die Verwischung der tänzerisch-rhythmischen Strukturen, von denen bei Corelli hie und da nur noch die Tempoangabe bleibt – er nennt auch ein Beispiel bei Bach, das diese Praxis widerspiegelt:

Ebenso finden wir in der E-moll-Partita ein Tempo di Gavotta, während das Stück sonst mehr einer Giga, oder, abgesehen vom Alla-breve-Takt, einer Corrente gleicht. In der B-dur- und D-dur-Partita stehen Menuets, in der aus G-dur ein Tempo di Minuetto ein lieblich gaukelndes Stück mit reizenden Accentrückungen, in dem das Überschlagen der Hände vorübergehend angewendet wird; aber mit einem wirklichen Menuet hat es sonst nichts mehr gemeinsam, als den 3/4-Takt.

Partita I    B-Dur BWV 825

  • Praeludium
  • Allemande
  • Corrente
  • Sarabande
  • Menuett I – II – I
  • Gigue

Abgesehen von den Gesamtaufnahmen, gibt es von der ersten Partita eine wunderbare Einzelaufnahme. Sie entstand gegen Ende des kurzen Lebens von Dinu Lipatti und läßt den sensiblen Gestalter von seiner feinsinnigsten Art hören: Elegant, geschmeidig und immer wieder mit Witz macht uns der Pianist mit einem gelösten, heiteren, lebenssprühenden Komponisten bekannt.

Partita II  c-Moll BWV 826

  • Sinfonia
  • Allemande
  • Courente
  • Sarabande
  • Rondeau
  • Capriccio

Gegen die intime Klanglichkeit der B-Dur-Partita setzt das Werk in c-Moll einen dramatischen, ja in den Rahmensätzen beinah theatralisch wirkenden Gegenpol: Das Werk beginnt mit einer regelrechten Ouvertüre, gravitätisch, kraftvoll im französischen Stil, gefolgt von einer raffiniert gearbeiteten, pulsierenden Fuge. Dagegen nehmen sich die folgenden stilisierten Tanzsätze zunächst zurückhaltend aus. Doch spätestens mit dem »Rondeau« baut sich in den weiten Sprüngen, die gefordert sind, eine athletische Spannung auf, die sich im Finalen »Capriccio« entlädt: Anstelle der Tänzer der an dieser Stelle üblichen »Gigue« tollen die Harlekine auf der Bühne – das bunte Treiben macht die Partita Nr. 2 zu einem der beliebtesten Klavierwerke Bachs, obwohl sie mit technischen Schwierigkeiten gespickt ist.

Partita III a-Moll BWV 827

  • Fantasia
  • Allemande
  • Corrente
  • Sarabande
  • Burlesca
  • Scherzo
  • Gigue

Partita Nr. 3 ist weniger populär als die sie umrahmenden Stücke der Sechsegruppe. Vor allem die einleitende Fantasia ist schlichter – und der insgesamt sehr dynamisch-vorwärtstreibende Charakter der Musik hat durch Bach noch einmal einen kräftigen Schub erhalten, indem er den »Scherzo«-Satz einfügte. Die »Burlesca« hieß in der Frühfassung »Menuett«, bereitet in der endgültigen Version mit dem »Scherzo« in konsequenter Steigerung den rasanten Ausklang der Suite vor: Bach spielt in der »Gigue« geradezu mit unserer Erwartungshaltung und präsentiert statt einer Melodie eine abfallende Tonleiter. Dem verblüfften Hörer scheint er zuzurufen: Hör‘ her, was man damit alles machen kann …

Partita IV D-Dur BWV 828

  • Ouverture
  • Allemande
  • Courente
  • Aria
  • Sarabande
  • Menuett
  • Gigue

Die D-Dur-Partita ist das Juwel der Sammlung eine Folge von erlesenen, hoch artifiziellen Metamorphosen der tänzerischen Formen, die nur noch in vagen Umrissen zu erkennen sind: Bach hat sie in expressive Musik verwandelt und präsentiert uns hier gleich zwei »langsame Sätze«, die ungemein gesangliche, weit gesponnene »Allemande« und die geheimnisvolle »Sarabande«, zwischen die sich nicht nur eine elegant-geistreiche Courente, sondern auch noch eine frech-gassenhauernde »Aria« schiebt. »Menuett« und »Gigue« tarieren zuletzt die Balance zwischen höfischer Noblesse und fröhlicher Unterhaltung noch einmal behutsam aus.

Partita V  G-Dur BWV 829

  • Praeambulum
  • Allemande
  • Corrente
  • Sarabande
  • Tempo di Menuetto
  • Passepied
  • Gigue

Von der Partita Nr. 5 hat der junge András Schiff noch in seiner Zeit in Ungarn eine spritzig-hintergründige Aufnahme gemacht, die sich neben den späteren, im Westen aufgenommenen CD-Versionen nach wie vor behaupten kann. Die Wiedergabe ist in der Kombination der damaligen Bach-Schallplatte auf dem Label Hungaroton bis heute immer wieder aufgelegt worden.

Partita VI e-Moll BWV 830

  • Toccata
  • Allemanda
  • Corrente
  • Air
  • Sarabande
  • Tempo di Gavotta
  • Gigue

Auf die vergleichsweise unterhaltend-amüsante G-Dur-Partita folgt mit der abschließenden Nummer der Sechsergruppe eine der umfangreichsten, auch inhaltlich reichsten Schöpfungen des Komponisten im Suiten-Genre. Der theatralische, von höchster Kunstfertigkeit getragene Geist der Ecksätze und die intime, ganz in sich gekehrte Musik der zentralen »Srabande« stehen wie gewaltige Säulen, die das gesamte, alle emotionalen Möglichkeiten der Musik ausschöpfende Gebäude tragen.