- Wagners Anmerkungen und Texte
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Richard Wagner
Wagner
ein feuilletonistischer Versuch

Am Anfang stehen „Noth und Sorge“; und eine Kindesweglegung. Richard Wagner, junger Dichter-Komponist, ist frustriert über das Desinteresse, dem er sich in Paris ausgesetzt sieht. In der Stadt hat er gehofft,als Opernkomponist sein Glück zu machen. Jetzt verkauft er seinen „Fliegenden Holländer“. Einen Kompositionsauftrag will man ihm für das Szenarium nicht geben.
Aber die Handlung scheint interessant – ein anderer wird „Vaisseau fantome“ vertonen.
Allein, die Sehnsucht, die eigenen Erlebnisse, die hier „verdichtet“ sind, selbst in Musik zu setzen, ist zu stark, als dass sie sich aus pekuniären Überlegungen ganz unterdrücken ließe.
So beginnt auch Wagner, den „Fliegenden Holländer“ zu komponieren.
Es ist ja doch sein Stück.
In Wahrheit hat sich da manches schon quasi selbst komponiert. Die Sturmmusik, die zu Beginn der Ouvertüre erklingt: So hat der Wind den Komponisten umsaust, als er auf der Flucht vor seinen Gläubigern einen Seelenverkäufer Richtung London bestieg, der dann tagelang auf dem Meer Poseidons Gewalten ausgesetzt war. Der unauslöschliche Eindruck hat sich in Klänge verwandelt.
Das ist die Hauptsache.
Mag Herr Pierre-Louis Dietsch versuchen, das „Geisterschiff“ mit artigen französischen Arien zum Bühnenleben zu erwecken. Wagners musikalische Vision ist schon da.
Die brutal-unausweichliche Sturmböe, die dem Auftakt zu seinem ersten vollgültigen Musikdrama ihren unverwechselbaren Charakter verleiht, sie könnte der Keim des ganzen Stückes gewesen sein; eine Natur-Impression, aus der die Handlung sozusagen herauswächst.
Diese Geburt der Tragödie aus dem Geist des Klangerlebnisses ist es, die Wagner zu Wagner macht.
Die Anfänge sind wichtig, weniger das, was jeweils zuletzt aus der vom Urknall freigegebenen Masse wird.Erlösungsschluss? Der Komponist verpasst seinem „Fliegenden Holländer“ einen solchen in einer späteren Phase.
Wie er manches relativiert an den ursprünglichen Gedanken seiner Theatergedichte.
Weltanschauungen wechseln.
Die Gewalt der musikalischen Zeugung, der klingenden Metamorphose scheint hingegen völlig unabhängig von der Frage, was bei dem Experiment am Ende herauskommen soll.
Wagner komponiert, wie er als Revoluzzer im Mai 1849 in Dresden auf den Barrikaden predigt. Sobald realiter geschossen wird, ist er nicht mehr zu sehen. Die großen Gebäude, die er als Revolutionstheoretiker entwickelt, lassen jedoch nichts an visionärer Energie zu wünschen übrig.Dem Augenblick verdanken wir auch die Initialzündung zum „Ring des Nibelungen“.
Siegfried, die „Grand Opera“
„Siegfrieds Tod“, noch ganz in der Formenwelt der französischen Grand Opéra verhaftet, hat zunächst einen versöhnlichen Schluss: Die Welt geht zwar unter, doch der „ewige Allvater“ soll auch die erneuerte Erde beherrschen. Sehr bald wird aus diesem Plädoyer für die konstitutionelle Monarchie der Aufruf zur Revolution.
Die Ewigkeit hat abzudanken.
Götterdämmerung.
Die Schlussworte der Brünnhilde wird Wagner über die Jahre und Jahrzehnte hin dann immer wieder umdichten, einmal fernöstlich-mystizistisch, dann wieder als Liebesapotheose.
Doch vertont er 1874 das mittlerweile ein Vierteljahrhundert alte revolutionäre Finale.
Ist es wichtig, welche Version seines Finales Wagner nach Gründung des deutschen Kaiserreiches in Töne setzt?
Ist die Frage entscheidend, wie der „Ring des Nibelungen“ nach vier langen Abenden endet?
Man möge auf die Musik hören, beschied uns der Meister selbst, die enthalte doch alles, was er zu dichten versucht hatte, recht deutlich dechiffrierbar.Und wenn ein Hörer nicht imstande ist, lauschend Rätsel zu lösen?
Was macht das?
„Chacun à son goût“ – das vertont ein anderer, auch 1874, notabene in derselben Tonart.
16 Stunden Weltuntergangs-Szenarium genügen einem Viertages-Spiel vollauf als Programm. Aufstieg und Fall der Burg Walhall sind das Thema. Der Weg ist das Ziel.
Am Ende der „Götterdämmerung“ steht eineRegieanweisung, an der auch die Regisseure scheitern, die es bis hierher mit Anstand geschafft haben mögen (es sind ihrer nicht viele) – da schaut die Menschheit „in wachsender Ergriffenheit“ zu, wie die alte Welt versinkt.
Die Götter gehen unter.
Die Leut‘ überleben.
Kinder, schafft Neues!, ruft Wagner ihnen zu.
Schon für den Holländer und Senta hat er vor allem einmal die Schürzung des dramaturgischen Knotens parat und die unabdingbare „Treue bis zum Tod“.
Ob die beiden nach erfolgtem Suizid verklärt werden oder auf den Meeresgrund versinken, gleichviel.
Scharfe Schnitte, wie im ersten Entwurf?
Oderdoch die harfenumrauschte Erlösungsvariante, zu der das Paar nach Sentas Freitod verklärt himmelwärts entschwebt – an der Brisanz des Dramas, das aus den sausenden Sturmklängen der Ouvertüre herausgewachsen ist, ändert die Schlussvariante so wenig wie die forwährenden Korrekturen, die Wagner im Laufe der Zeit auch an seiner nächstfolgenden Oper, dem „Tannhäuser“, vornimmt.
Ein Tanz in Paris
Die Geschichte von der Balletteinlage für Paris, die an des Komponisten Sturschädel scheiterte, wird gern erzählt. Doch führt sie uns in die Irre. So viel stimmt immerhin: Gegen den Willen der Herren des Jockeyclubs setzt Wagner die Tanznummer an den Anfang des Stückes, nicht ins Zentrum, wo der Sängerkrieg ungestört seine Wirkung entfalten soll. Doch die als „Pariser Fassung“ in dieAufführungsgeschichte eingegangene Version, in der das Venusberg-Bacchanal aus der Ouvertüre herausbricht, der erste nahtlose Übergang von einem „Vorspiel“ in die Opernhandlung, stammt erst von der Wiener Revision von 1875.
Erst in Wien hat der „Tannhäuser“ seine Anpassung an die Ideen vom „Kunstwerk der Zukunft“ erfahren, indem es geschlossene Arien und Ensembleszenen nicht mehr geben darf, eine Ouvertüre gar, nach der dem Orchester applaudiert werden könnte.Die Vorstellungen vom stundenlangen ununterbrochenen Erzählfluss eines Dramas scheinen freilich die konsequente Weiterentwicklung des Urknall-Effekts vom Beginn der „Holländer“-Ouvertüre.
Nur dass es im „Holländer“ dann doch Monologe, Lieder, Balladen, Duette, „Arbeiterchöre“ gibt, die sich mühelos auch gesondert aufführen lassen. – Noch im „Tannhäuser“ finden sich die alten Strukturen, experimenteller aufgerauht allerdings, bevor im „Lohengrin“ erstmals weite Passagen einem modernen Rezitationston geöffnet werden, der Wagner als Ideal vorschwebte.
Schumann und der Lohengrin
Die Zeitgenossen vermochten sich das in ihren kühnsten Träumen nicht vorzustellen.Wo sind denn hier die Arien und Kavatinen?, fragte ganz unschuldig niemand Geringerer als Robert Schumann, als Wagner erstmals das „Lohengrin“-Libretto vorgelesen hatte.
Und Ludwig Tieck, auch nicht von gestern, stieß ins selbe Horn: Der ausgiebige Dialog zwischen Telramund und Ortrud vor den Mauern der Stadt, die Szene, mit der der zweite Aufzug anhebt, das sei doch „ohne eine gänzliche Umwandlung der bisherigen Basis der Oper“ nicht zu machen.
Unmittelbar nach dem Gespräch mit Tieck ging Wagner daran, seine Dichtung zu komponieren. Wie meist ging das unglaublich rasch vor sich. Umwandlungen von „Bisherigem“ machten ihm keine Mühe.
Die Herrschaft des Klanges
Und damit alle gleich merken sollten, was es geschlagen hatte, wurde dem Ganzen ein Vorspiel (ausdrücklich keine „Ouvertüre“) vorangestellt, dem jegliche traditionelle Basis wirklich entzogen war.
Die Welt sollte das sogleich hören und staunen: Derlei Klänge hatte es ja wohl noch nie gegeben. Selbst der kühnste Erfinder verblüffender Anfänge, Beethoven, hat Vergleichbares nicht gemacht.
Das Misterioso, die ungeformte Chaos-Masse, aus der die Neunte herauswächst, gut. Aber diese schwebenden, in sich changierenden, aber doch im Wesentlichen der Entwicklung auf der Zeitachse entrückten A-Dur-Harmonien in höchsten Streicher-Höhen?Der magische Beginn des „Lohengrin“ gehört zu den folgenschwersten Eingebungen der Musikgeschichte.
Unverwechselbar.
Unwiederholbar auch.
Der pure Klang, der zum Ereignis wird, wie früher die Melodie, der Rhythmus, die beiden Grundelemente der Musik, die hier völlig ausgehebelt scheinen. Die Klangfarbe übernimmt die Macht.
Melodie?
Ja, aber enorm in die Breite gezogen.
Keine Rede und Widerrede, These und Antithese, aus deren dialogischer Dynamik die Klassiker ihre Formen entfalteten. Vielmehr ein großer, weit gespannter Atemzug, ein Orchestergesang, der sich in zehn Minuten zu einem – von einem Beckenschlagmarkierten – Höhepunkt hin steigert unddann behutsam zu den amorphen Akkorden des Beginns zurückgeführt wird.
Der Ursprung des „Rings“
Es ist eine der wunderbaren Volten der Musikgeschichte, dass Wagner dieses Vorspiel als allerletzten Beitrag zu seiner „Lohengrin“-Partitur komponiert – also chronologisch gesehen unmittelbar bevor er den ebenso kühnen, ebenso unwiederholbaren musikalischen Zeugungsakt seiner „Ring“-Tetralogie skizziert: 136 Takte lang strömt, nur in rhythmischer Bewegung und Lautstärke gesteigert, ein unwandelbarer Es-Dur-Dreiklang.
Diese Einleitung zum „Rheingold“ sei ihm quasi im Halbschlaf als Klangvision „erschienen“, berichtet Wagner.
Technisch gesehen, ist das die Weiterentwicklung des im „Lohengrin“-Vorspiel Erprobten. Diesmal strömt die Musik, Abbild des fließenden Rheins, ohne Unterbrechung in die erste Szene des Dramas, der Gesang der Rheintöchter setzt die instrumentalen Linien fort, die Stimmen sind weitere Farben im orchestralen Kolorit. Längst werden keine Arien mehr gesungen, der Fluss der Musik führt uns ungebremst aus den Tiefen des Rheins bis zum Einzug der Götter über die Regenbogenbrücke nach Walhall – zwei Stunden, 20 Minuten.
Ohne Pause.
Es ließe sich einwenden, die Urfassung des „Fliegenden Holländers“ dauere etwa genauso lang. Auch hier gibt es Überleitungen von einem Akt in den anderen – aber es gibt noch deutliche Zäsuren zwischen den klar definierten Nummern der Oper. Dergleichen ist in den Musikdramen des „Rings des Nibelungen“ nicht mehr auszumachen. Jede Szene öffnet sich zur nächsten hin.In Wahrheit stellt auch das Des-Dur-Fortissimo am Ende des „Rheingolds“ eine Verlegenheitslösung dar – irgendwie muss man das Publikum ja in Frieden entlassen für die paar Stunden der Erholung, bis morgen Nachmittag die „Walküre“ beginnt…
Der Rest ist freies, anarchisches Wachsen und Werden, Keimen, fortwährende Metamorphose.
Viele Anfänge, kein Schluß
Das ist der Grund, warum alle Versuche scheitern, symphonische Arrangements aus den „Ring“-Opern zu erstellen. Derlei Unternehmungen bleiben notwendigerweise Flickwerk. Es gibt viele herrliche Anfänge im „Ring“. Aber keine definitiven Schlüsse. Wie effektvoll beginnt der „Walkürenritt“! Aber wo hört er auf?
Der Sturm, der den armen Siegmund in Hundings Hütte treibt, er tobt mit Zornesgewalt, ein tönendes Abbild der Wilden Jagd, die bis vor gar nicht allzu langer Zeit als Überbleibsel aus dem germanischen Mythenschatz in unseren Regionen ihr Spukwesen trieb.
Die rasenden Streicherfiguren, in die wie ein Echo des „Rheingold“-Finales Donners Hammerschläge nachhallen, verwandeln sich unversehens in ruhige Cellokantilenen – aus der furchtbaren Naturgewalt wird zärtlichste Liebesmusik; und kein Hörer kann angeben, wo die eine aufhört, die andere beginnt.
Drama, das heißt bei Wagner immer: Der musikalische Fluss hat uns längst gefangen genommen.
Er entlässt uns nicht mehr.
Die unausweichliche, erzählmächtige Metamorphose-technik macht die unendlichen Formengebäude dieser Musikdramen überhaupt erst möglich: 90 Minuten dauert der zweite Akt der „Walküre“, an die zwei Stunden der erste der „Götterdämmerung“.
Wer da versuchte, eine Pause einzulegen, würde scheitern. Die Musik erlaubt keine Zäsur.Eben deshalb lässt sich Siegfrieds Rheinfahrt, die vom Vorspiel der „Götterdämmerung“ in die Gibichungenszene führt, kaum sinnvoll losgelöst vom Drama in einem Konzert darbieten.
So virtuos das Stück auch komponiert ist: Es beginnt wie ein leichtfüßiges Scherzo und entlässt uns in müden, ermattenden Gesten, die grau, schließlich tiefschwarz ersterben, während sich der Vorhangüber Gunthers Halle hebt.
Alle Verwandlungsmusiken sind von suggestiver Bildhaftigkeit, evozieren die Szenerie – im „Rheingold“ führt die Musik in kühnem Schwung vom Grunde des Flusses auf „wolkige Höhen“, von dort durch Klüfte und Schlünde, an schmiedenden Zwergen vorbei nach Nibelheim.
Im „Siegfried“ mündet das beschaulich-schöne „Waldweben“ in die brutalen Schwerthiebe des Drachenkampfs.
Dann begleiten wir den furchtlosen Helden durchs funkensprühende Flammenmeer in die „selige Öde auf wonnigen Höhen“, wo Brünnhilde schlummert.
Extreme Kontrastwirkungen wachsen auseinander heraus, dasinfernalische Fortissimo-Furioso wird zur unbegleiteten Kantilene der Violinen, einstimmig, doch von 16 Geigern unisono modelliert – einer der vielen unwiederholbaren, einzigartigen Augenblicke in Wagners klingendem Kosmos.In der „Götterdämmerung“ entsteht aus den dunkel vibrierenden Synkopen von Hagens Wachtgesang die warm-leuchtende ErinnerungsmusikBrünnhildes mit dem von Richard Strauss so bewunderten, traumverlorenen Duett der Klarinetten.
Einen Schluss findet auch Siegfrieds Trauermarsch im Übergang zur letzten Szene der Tetralogie nicht. Die neue musikalische Ästhetik hat die im letzten, aber zuerstgedichteten „Ring“-Abenddurchaus noch fühlbaren Assoziationen zur Architektonik der Grand Opéra längst überwuchert. –
Die „Meistersinger von Nürnberg“, deren Libretto formal in Teilen durchaus noch von Meyerbeerschem Zuschnitt ist, weisen den Weg: Ehrt das alte Meisterhandwerk, aber füllt es mit neuem Leben. Pierre Boulez, der als avantgardistischer Komponist und magistraler Kapellmeister durchaus diese Quadratur des Kreises repräsentiert, hat im Zuge der Einstudierungsarbeit für seinen ersten Bayreuther „Parsifal“ angemerkt, sogar dieses letzte der Wagnerschen Dramen, das „Bühnenweihfestspiel“, fände kein Ende, verebbe ohne affirmative Schlußgeste.
„Erlösung dem Erlöser“ – hinter ein solches Aviso lässt sich nicht leicht ein Schlusspunkt setzen.
Anders Tristans und Isoldes Liebesakt, der realiter nicht vollzogen werden darf. Interruptus, fürwahr, jäh unterbrochen im Mittelakt im Moment der höchsten Steigerung durch das Hereinbrechen des „öden Tags“, von dem Tristan singt, ins „Wunderreich der Nacht“.
Personifiziert wird das Tagesgrauen durch den Auftritt der Jagdgesellschaft des betrogenen Königs Marke. Doch nimmt Isolde in ihrem sogenannten Liebestod den Faden wieder auf. Über eineinhalb Akte hat sich die Spannung erhalten – der große Gesang wird erneut angestimmt und diesmal zu Ende gesungen. Oder doch nicht?
Es gibt Musikfreunde, die im sanft verklingenden H-Dur-Akkord, den Wagner an den Schluss der „Tristan“-Partitur gesetzt hat, kein Ende, nur ein transitorisches Element erkennen wollen. Als müsse die Musik im Jenseits weitersingen, von der Dominante in die heimliche, schon im Vorspiel angespielte, dann wieder verlassene Haupttonart E-Dur strebend – das wäre freilich die Erfüllung des Wortes von der „unendlichen“ Melodie, das Wagner für seine ureigenste dramaturgische Erfindung des pausenlosen tönenden Erzählens geprägt hat.
Den Eindruck des Offenen, der nicht mehr zu festigenden harmonischen Basis befördert im „Tristan“ die über weite Strecken tatsächlich nicht mehr gewahrte tonale Balance – minutenlang beschwört die Musik Schwebezustände, der berüchtigte „Tristan“-Akkord dominiert und irritiert seine Umgebung. Er ist überall und nirgends zu Hause.
Untergang des Abendlands
Instinktsicher ortet der Prophet des Untergangs, Oswald Spengler, hier, genau hier, das Ende der europäischen Musik. Alles andere gilt ihm als Nachspiel.
Ein bestechender Gedanke für wache Beobachter, die in Anton Bruckners Neunter, der nicht mehr Vollendeten, den letzten großen Versuch einer instrumentalen Riesenform erkennen, der (bei Mahler beispielsweise) nur noch Zerborstenes folgt.
Diese Neunte ist tatsächlich ein Satyrspiel auf den „Tristan“-Akkord. Ein Satyrspiel von allerdings zyklopischen Ausmaßen: Im Scherzo tanzt das berüchtigte Tonkonglomerat unaufgelöst, unerlöst, insistierend, ausweglos.
Im Adagio, dem letzten von Bruckner vollendeten Satz, stehen die beiden „Tristan“-Tonarten gegeneinander, das As-Dur der Liebesnacht und das über 20 Minuten lang verzweifelt gesuchte E-Dur.
Diese Grundtonart des Satzes leuchtet erst am Ende mild auf, nachdem die musikalische Entwicklung mit einem fürchterlichen Riss, auf der grellsten bis zu diesem Zeitpunkt je aufgeschichteten Dissonanz zum Stillstand gekommen ist.
Till Eulenspiegels lange Nase
Wenige Jahre später dreht uns der „Tristan“-Akkord die lange Nase – im „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss; wir haben es laut Spengler ja schon überstanden, sind schon „après“, wie’s im Wiener Kabarettlied heißt. Fürwahr: Wütender, „disharmonischer“, als uns das Orchester in den beißenden Attacken zu Brünnhildes Klagerufen im Mittelakt der „Götterdämmerung“ entgegenbrüllt, ist später nie wieder komponiert worden.
Schon gar nicht von jenen Meistern, denen man nachsagt, sie hätten die sogenannte Atonalität erfunden.Da hat einer programmgemäß „die Basis der Oper umgewandelt“ – und notwendigerweise gleich die Musik ihrer bis dahin gefestigt geglaubten Grundlage beraubt.
Das ist Verunsicherung, Unterminierung, Anarchie aus dramaturgischer Notwendigkeit. Richard Strauss hat später – „après“, bleiben wir beimWortspiel – auf Vorhaltungen über kühne Dissonanz-Agglomerationen in seiner „Elektra“ gemeint: „Wann auf der Bühne a Muatta derschlog’n wird, kann i im Orchestergraben koa Violinkonzert aufführen lassen.“
Solch bajuwarisch-bodenständige, wenn auch unmittelbar einleuchtende Kommentare hätte man von Richard Wagner gewiss nie zu hören bekommen.
Er proklamierte vielmehr in wohlgesetzten Worten das „Kunstwerk der Zukunft“ – und hat es auch gleich auf vollkommene Weise realisiert.
In Tönen kann man es von Mal zu Mal wieder erleben – in einer Radikalität, die es nicht verwunderlich scheinen lässt, dass unsere Regiehandwerker mit ihrer hilflosen Bildersprache regelmäßig schon auf den ersten paar Hundert Metern im Aufstieg auf die theatralischen Achttausender scheitern. Das muss wohl so sein. Hören wir zu. Die Sache nimmt ja, wie gesagt, kein Ende . . .
Robert Schumann
Robert Schumann
ZEITTAFEL
- Am 8. Juni 1810 im sächsischen Zwickau geboren als als jüngstes von fünf Kindern des Buchhändlers und Verlegers August Schumann
- 1817 erster Klavierunterricht für den Schüler des Zwickauer Lyzeums.
- 1825 Selbstmord der Schwester Emilie
- 1826 Tod des Vaters
- 1828 Klavierstudien bei Friedrich Wieck, Begegnung mit dessen elfjähriger Tochter Clara
- 1829
- zwei Semester Jus-Studium in Leipzig und Heidelberg
- Ende des Klavierstudiums wegen Lähmung einer Hand.
- 1833
- Tod des Bruders Julius
- Beginn der phasenweise schweren Depressionen
- 1834 Gründung der Neuen Zeitschrift für Musik
- Redaktionstätigkeit bis 1844
- Verlobung mit Ernestine von Fricken, einer Klavierstudentin Wiecks.
- 1835
- Lösung der Verlobung, offizieller Grund: Ernestine ist nicht die leibliche Tochter des Barons von Fricken.
- Briefwechsel mit Clara beginnt
- 1836
- Tod der Mutter
- Bruch mit Wieck
- Begegnung mit Frédéric Chopin.
- 1837 Verlobung mit Clara
- 1838/1839 Aufenthalt in Wien
- 1839
- Wegen Friedrich Wiecks Weigerung: Antrag an das Gericht auf Erteilung des Ehekonsenses
- Tod des Bruders Eduard
- 1840
- gerichtliche Zustimmung zur Hochzeit
- Ehrendoktorat der Universität Jena
- Begegnung mit Franz Liszt
- ab 1843 Klavier- und Kompositionslehrer am Konservatorium Leipzig
- 1844 Chorleiter in Dresden.
- 1850 Städtischer Musikdirektor Düsseldorf
- 1852/1853
- Anfeindungen, Intrigen – Rücktritt;
- Freundschaft mit Johannes Brahms;
- 1854
- Depressionen, Halluzinationen – Selbstmordversuch
- Aufnahme in die Heilanstalt Endenich bei Bonn
- Schumann stirbt am 29. Juli 1856 in Endenich
Beethovens Werke
→ MISSA SOLEMNIS
→ Messe in C-Dur
Die Klavierkonzerte
Das Violinkonzert
→ DIE KAMMERMUSIK
→ Die Klaviersonaten
→ Die Variationszyklen
MUSIK FÜRS THEATER
→ Die Geschöpfe des Prometheus
→ BEETHOVENS BROADWOOD-FLÜGEL
Antonino Vivaldi
1678 – 1741
Antonio Vivaldi ist in Wien gestorben – hatte jedoch im Wiener Musikleben überhaupt keine Rolle gespielt …
Das ist eine der vielen schmerzlichen Details in der wienerischen Musik-Biographie – und es ist eine unrühmliche letzte Station im Leben eines an Mißerfolgen, aber auch an künstlerischem Glanz reichen Lebens.
Arcangelo Corelli
(1653-1713)
Die Erfindung der Sonate
Arcangelo Corelli darf als die prägende Gestalt der barocken Instrumentalmusik gelten. Seinem Beispiel folgten in Italien und später in Deutschland sämtliche bedeutenden Komponisten. Von Vivaldi bis Bach finden wir die Weiterentwicklungen der Corellischen Sonaten- und Konzertform.
Barock, Österreich
Heinrich Ignaz Franz BIBER von BIBERN
1644 – 1704
Die wahrscheinlich originellste Persönlichkeit des österreichischen Barock. Geboren im böhmischen Wartenberg, wirkt Biber ab 1670 am Hofe des Fürsterzbischofs von Salzburg.
1679 Vizekapellmeister
1684 Kapellmeister und Truchseß
1690 vom Kaiser geadelt.
Biber orientiert sich an der italienischen Instrumentalmusik seiner Zeit und erweitert als Geiger die Spieltechnik für sein Instrument um Doppelgrifftechniken, führt das Spiel in damals ungekannt hohe Lagen. Außerdem kultiviert er die Skordatur (die Verwendung ungewohnter Stimmungen) als Mittel zur Erweiterung der Harmonik.
Besonders virtuos gehandhabt werden die innovativen Praktiken in den sieben Partiten der
Harmonia artificiosa-ariosa,
die 1693 in Nürnberg gedruckt wurden.
Programm-Musik
Bibers Musik steckt voll pittoresker klanglicher Anspielungen auf außermusikalische Eindrücke, Naturlaute, Sprachmelodik, Stimmungsmalerei.
So gibt es eine Serenade à 5 »mit dem Nachtwächterruf« (1673) oder die von Nikolaus Harnoncourt wieder aufgefundene → Battaglia mit handgreiflichen Schilderungen des Kauderwelschs im Heerlager, einer Schlachtenmusik und den armselig von dannen ziehenden verwundeten Kriegern.
Mysteriensonaten
Bibers instrumentales Hauptwerk sind jedenfalls die
16 Violinsonaten zur Verherrlichung von 15 Mysterien aus dem Leben Mariae (um 1675)
Sie gehören in gewisser Weise zur geistlichen Musik Bibers, die in ihren prunkvollsten liturgischen Ausprägungen, den für Festgottesdienste geschaffenen großen Messen, Vespern und Litaneien ihre Höhepunkte erreicht.
Die gewaltige 53-stimmige Missa Salisburgensis zur 1100-Jahr-Feier des Erzbistums Salzburg – man hat sie Autoren wie Orazio Benevoli oder Bibers Vorgänger → Andreas Hofer zugeschrieben – gilt mittlerweile sicher als Werk Bibers.
1682 stellt sie jenseits von Italien das beeindruckendste Beispiel musikalischer barocker Prachtentfaltung dar.
Aufgrund der reduzierten Theater-Praxis im Erzbistum Salzburg ist das Erbe an Opern aus Bibers Werkstatt weniger groß. Neben geistlichen Schuldramen findet sich → Chi la dura la vince (»Arminius«, 1687) als einziges Beispiel einer groß angelegten Biber-Oper, von der auch die Musik erhalten blieb. Außerdem Alessandro in Pietra (1689 – nur das Libretto erhalten) und L’ossequio di Salisburgo (1699).
Biographisches
Der Ruhm Bibers als virtuoser Geiger führte von einer Position als Kammerdiener und Hofmusikant des Fürstbischofs von Olmütz. An dessen Hof in Kremsier pflegte man vor allem die festliche Blasmusik, die zu Zeiten so berühmt war, daß sie zu Gastauftritten an benachbarte Fürstenhöfe ausgeliehen wurde.
In diesem Umfeld galt Biber als einer der exzellentesten Musiker seiner Zeit. Seine Künste als Geigenvirtuose waren bald legendär.
Es scheint daher wahrscheinlich, daß Biber den Verlockungen anderer möglicher Dienstherren erlag, um aus der unangenehmen Doppel-Position zu entkommen. Obwohl der Bischof Biber schätzte, beschäftigte er ihn doch gleichermaßen als Musiker und Lakai.
Daß der ranghöere Fürsterzbischof von Salzburg, der Primas Germaniae sich für den genialen Musiker interessierte, kam also gerade recht. Gegen dessen Avancen konnte der Bischof von Olmütz letztlich wenig ausrichten.
Bibers Flucht
So nutzte der Musiker die Gelegenheit einer Dienstreise zur Flucht. Er war nach Tirol zum Geigenbauer Jakobus Stainer geschickt worden, um Instrumente für die Olmützer Hofkapelle zu besorgen.
Salzburgs Fürsterzbischof Max Gandolph, ein barocker Regent mit Sinn für kulturelle Prachtentfaltung, nahm Biber in seine Obhut. Von 1670 an bis zu seinem Tod war der Komponist in Salzburg tätig. Zunächst noch als Vizekapellmeister seines Vorgesetzten Andreas Hofer.
Dessen Vorrangstellung erklärt wohl auch die viel diskutierte Frage, warum die offenkundige Autorschaft Bibers an der Missa Salisburgensis verschwiegen wurde. Hofer war noch im Amt, als das Werk 1682 zur 1100-Jahr-Feier des Erzbistums Salzburg erstmals erklang. Den strengen hierarchischen Regeln der Barockzeit hätte eine Namensnennung wohl widersprochen…
Aufnahmen

Zur Wiederentdeckung dieses originellen Geists der Barockmusik hat → Nikolaus Harnoncourt mit seinen Forschungsarbeiten für das Repertoire seines Concentus musicus in den frühen Jahren seines Wirkens unschäztbare Leistungen erbracht.
Barock in Österreich
Im Schatten der Musikgeschichte
Auf den Spuren von Heinrich I. F. Biber und Georg Muffat —
— von der „Bauernkirchfahrt“ bis zum katholischen Mysterium;
mit Musikern wie Nikolaus Harnoncourt und Eduard Melkus.
Harnoncourts Pilgerfahrt
In den Fünfzigerjahren des XX. Jahrhunderts ist Nikolaus Harnoncourt als Schatzgräber ins böhmische Kremser gepilgert, um dort in der Bibliothek unter den widrigsten Umständen des realen Sozialismus nach alten Musikbeständen zu suchen. Es wurde einer der fruchtbarsten Ausflüge der jüngeren Musik- oder besser: Interpretationsgeschichte.
Unter den Partituren, die Harnoncourt damals fand, befanden sich Werke wie die heute berühmte und von allen Originalinstrumenten-Ensembles gern gespielte Battaglia von → Heinrich Ignaz Franz Biber sowie manch geistliches Werk des nachmaligen Salzburger Hofkapellmeisters.
Ein halbes Jahrhundert später hat Harnoncourt einige der damals wieder gefundenen Werke Bibers, gekoppelt mit Concerti aus der Feder Georg Muffats, die ebenfalls für Salzburg geschrieben wurden, im Rahme der „styriarte“ in Stainz noch einmal ins Programm genommen: Man hörte Musik des ausgehenden 17. Jahrhunderts, voller Vorahnungen späterer Klangabenteuer von Bach bis Mozart, in dessen „Requiem“ sich manche Passage findet, die in Bibers f-Moll-Totenmesse ihr Urbild findet!
Hochblüte
Wenn es eine musikalische Ära gibt, in der Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus die unangefochtenen Autoritäten waren, dann ist es wohl diese Hochblüte des österreichischen Barock. Das Publikum des Ensembles konnte live genießen, was den Nachgeborenen in Aufnahmen wohl unverlierbar zum Studium der heimischen Musikgeschichte bleibt: fein geschliffene Darstellungen der oft betörend schönen, immer originellen Klangmixturen, die Muffat und Biber ihrem kleinen, aber vielseitigen Instrumentarium abgetrotzt haben.
Da ist die gewaltige Chaconne in Muffats Concerto Propitia Sydera, Musik von staunenerregender Vielgestaltigkeit und großem koloristischem Reichtum. Bibers „Dreikönigs-Motette“, in denen sich die Solosopranstimmen mit den kühl-sinnlichen Linien von konzertierenden Flöten und Oboen mischen, während die profunden Bass-Stimmen dunkel-leuchtend mit den tiefen Registern des Concentus konkurrieren müssen.
Vergleichbar aufregende Instrumentationsfinessen finden sich in der Musikgeschichte wohl wirklich erst bei Mozart wieder. Harnoncourt sorgt auch bei Bibers großem „Requiem“ für Dramatik und Expressivität in jeder kleinsten Phrase. Dergleichen machte diesem Originalklangpionier zu Lebzeiten keiner nach. Höchste Lebendigkeit, intensiver, unmittelbar verständlicher Ausdruck prägen diese Wiedergaben.
H. I. F. Biber
Zu den Aufnahmeklassikern zählen die 1965 im Wiener Palais Schönburg entstandenen Einspielungen von Biber-Sonaten und und -Ouvertüren, mit denen Nikolaus Harnoncourt die von ihm aufgefundene Musik einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte. Auf dieser Pionierarbeit konnten spätere Interpreten aufbauen. Mittlerweile dürfte geklärt sein, daß die gewaltige Missa salisburgensis, die lange anderen Autoren zugeschrieben wurde, auch von Biber stammt. Von diesem vielstimmigenmusikalischen Kathedralbau liegen etliche Einspielungen vor, imposant jene unter Ton Koopmans Leitung (1999).
Am populärsten wurden Bibers programmatische Sonaten, in denen die barocke Lust an der pittoresken klanglichen Schilderung von ereignisreichen Geschichten und Erzählungen fröhlich Urständ feiert: die Pauernkirchfahrt etwa oder das effektvolle Schlachtengemälde Battaglia.
Unter den vielen Produktionen dieser Musiknehmen jene unter Nikolaus Harnoncourts Leitung nach wie vor einen Spitzenrang ein.
Mysterien des Rosenkranzes
Die feinsinnigsten von Bibers Werken sind freilich die Mysteriensonaten über den Rosenkranz, die mittlerweile zum Fixbestand der vor-bachischen Violinliteratur zählen; auch hier darf der Hörer in heimatlichen Gefilden bleiben:
Die Aufnahme durch Eduard Melkus aus den Sechzigerjahren ist wahrscheinlich nach wie vor die farbenprächtigste, im sprichwörtlichen Sinne „barocke“ Darstellung dieser Musik und beschwört von der Askese bis zur überbordenden Sinnenlust alle Aspekte dieser klingenden katholischen Mysterien. (DG)
Jordi Savall präsentierte bei den Salzburger Festspielen die prächtige Missa Salisburgenis“, aber auch eine kaum bekannte Biber-Messe, die in einem Archiv in Brüssel aufgefunden wurde. (aliavox)
Bibers Requiem in f-Moll unter Paul McCreeshs Leitung (DG)