Archiv der Kategorie: Kalender

Robert Fuchs

1847-1927

Robert Fuchs war in Wien als „Serenaden-Fuchs“ bekannt. Sein wohl beliebtestes Werk ist die Fünfte seiner Orchester-Serenaden, die einst als eine Art Salonmusik für den bürgerlichen Konzertbetrieb galten: leichtgewichtige, deshalb aber keinesfalls künstlerisch minderbemittelte Gegenstücke zu den Symphonien von Brahms und Bruckner.

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Dvořáks Neunte

Symphonie Nr. 9 in e-Moll op. 95

Antonín Dvořáks letzte Symphonie verdankt ihren – übrigens vom Komponisten selbst verliehenen – Untertitel »Aus der Neuen Welt« dem Umstand, daß sie das erste Werk ist, das Dvořák während seines Amerika-Aufenthaltes komponiert hat. Die Symphonie entstand in der Zeit zwischen September 1892 und April 1893. Der Komponist war damals als Direktor des des National Conservatory of Music in New York tätig und leitete dort selbst eine Kompositionsklasse.

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Bruckners Streichquintett

1878/79

  • Gemäßigt
  • Scherzo. Schnell
  • Adagio
  • Finale. Lebhaft bewegt

Das Streichquintett ist der einzige Beitrag des reifen Anton Bruckner zum Kapitel Kammermusik. Oft ist auch behauptet worden, das Werk sei in Wahrheit eine verkappte Symphonie – und doch: Nur weil der Komponist seine unverwechselbaren stilistischen Eigenheiten auch bei diesem Werk für fünf Streicher hören läßt, bedeutet das nicht, daß er eine Art Reduktions-Fassung eines klanglich größer angelegten Werks vorgelegt hätte. Die Komposition ist durchaus kammermusikalisch angelegt. Bruckner betrachtete sie vielleicht nach den immensen Anstrengungen, die ihn die Komposition seiner ersten fünf numerierten Symphonien gekostet hatte – die ja in einem großen Zug bis 1878 entstanden waren, als eine Art künstlerisches Intermezzo.

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IL TROVATORE

CD-TIPP

Herbert von Karajan – Leontyne Price, Ettore Bastianini, Franco Corelli, Giulietta Simionato
(Salzburger Festspiele 1962 DG)
  1. Il trovatore Salzburg 1962 Leontyne Price Franco Corelli Ettore Bastianini
  2. Giulietta Simionato
  3. Leontyne Price Ettore Bastianini Franco Corelli
  4. Giu8lietta Simionato Ettore
  5. Bastianini Franco Corelli Leontyne Price
  6. Leontyne Price Franco Corelli
  7. Wr. Philharmoniker - Herbert von Karajan

Troubadour und Wien – heikle Beziehung

Verdis Troubadour, das war im 19. Jahrhundert der Inbegriff der italienischen Oper, viel gespielt und an Popularität nur für einige Zeit von Gounods Faust übertroffen. Heute ist das Werk einer der „Angstgegner“ von Intendanten, weil es schwierig geworden ist, Sänger zu finden, die der heiklen Mixtur aus höchster Expressivität und artifizieller Stimmbeherrschung fähig sind. Spannend zu verfolgen, wie dieses Werk, allen Vorwürfen einer unverständlichen Handlung zum Trotz, dank seiner musikalischen Aussagekraft auch in Wien sogleich zum Publikumsfavoriten wurde – und lange Zeit den Spielplan beherrschte. Dagegen konnte auch ein mächtiger Kritiker wie Eduard Hanslick nichts ausrichten, dessen ästhetische Vorbehalte ja nicht nur, wie die Fama will, Richard Wagners Werke trafen, sondern auch Verdi. Nach der Erstaufführung des Troubadour konstatierte der Kritiker der Neuen Freien Presse zwar das „intensive Talent“ des italienischen Meisters, hielt ihm aber „künstlerische Roheit“ vor. An „dramatischer Energie“ übertreffe Verdi zwar seine Vorgänger Bellini, Donizetti und Rossini, doch sei er ihnen „als Musiker“ unterlegen und neige vor allem dazu, „gute Anfänge“ stets mit „einem trivialen Satz“ abzuschließen. Solche Vorbehalte hatte das Publikum offenbar nie. Jedenfalls stand das Werk bereits kurz nach der Eröffnung des neuen Hauses am Ring auf dem Hofopern-Spielplan und hielt sich dort so gut wie ohne Pause – in deutscher Sprache.

Die Ära Karajan

Im Zuge der Neubewertung der Italianità in der Oper nach der Landnahme Herbert von Karajans änderte sich auch die Sicht auf den Troubadour. Alles begann mit dem Gastspiel einer Tourneeproduktion, die Karajan mit Maria Callas und Giuseppe di Stefano von Mailand aus unternahm. Donizettis Lucia di Lammermoor stand auf dem Programm – und der Triumph dieser legendären Aufführungsserie sicherte dem Dirigenten die endgültige bedingungslose Hingabe des Wiener Publikums; und den Posten des Staatsoperndirektors, nachdem Karl Böhm von Angriffen gegen seine Person entnervt das Handtuch warf.

In der Folge nutzte Karajan seine Doppelposition – er war auch einer der führenden Köpfe an der Mailänder Scala –, um die Aufführungen italienischer Opern in Wien zu revolutionieren. Ab sofort wurde in Originalsprache gesungen, und die Sänger waren mehrheitlich nicht mehr die Spitzen des eigenen Ensembles, sondern illustre Gäste. Überdies arbeitete man mit den Salzburger Festspielen zusammen, bei denen Karajan einen weiteren Tabubruch beging. Er nahm den Troubadour ins Programm. Das kam einem Sakrileg gleich. Salzburg war die Hochburg Mozarts und von Richard Strauss. Man hatte Verdi zwar für Choryphäen wie Arturo Toscanini oder Wilhelm Furtwängler angesetzt, doch stets waren es Werke, die immerhin auf Stücken Shakespeares oder Schillers basierten. Karajan hatte sich mit dem Don Carlos in diese Reihe gestellt.

Nun aber folgte der ganz und gar nicht „literarische“  Troubadour, dessen Libretto seit jeher Anlass zu Kritik gab. Puristen waren empört, doch Karajan lobte die theatralische Schlagkraft des Stoffs und die Unmittelbarkeit, mit der Verdi als Klangpsychologe die Tiefe von Uremotionen lotet. Das Publikum war glücklich, gingen doch Karajans interpretatorischer Impetus und vokale Gestaltungskünste eine ideale Verbindung ein.

Titelheld Franco Corelli eroberte dank blendender Erscheinung und ebensolcher Klangentwicklung alle Herzen, Leontyne Price war eine hinreißende Leonore. Bald sah man die Produktion auch in Wien – in ähnlicher Besetzung. Der Triumph war so durchschlagend, dass Karajan seine Troubadour-Produktion auch als Auftakt seines legendären Comebacks nach 13 Jahren Wien-Abstinenz wählte. Neben Christa Ludwig und Piero Cappuccilli war wieder die Salzburger Leonore, Leontyne Price, dabei, diesmal an der Seite von Luciano Pavarotti, auf den die Wiener nach seinen ersten Erfolgen ebenfalls lange Jahre hatten warten müssen.

Eklat – Placido Domingo als Retter

Beim Trovatore 1978 kam es zu einem Eklat. Zur Vorbereitung der TV-Übertragung setzte man kurzfristig eine Zusatzvorstellung an, bei der überraschte Staatsopern-Abonnenten in den Genuss einer Karajan-Aufführung kamen. Doch gingen sie im dritten Akt des Tenors verlustig: Franco Bonisolli, der Mann mit dem vermutlich sichersten hohen C der jüngeren Operngeschichte, warf unmittelbar vor der „Stretta“ sein Schwert auf die Bühne und verließ dieselbe. Karajan behielt die Nerven, gab den Auftakt, und Wien erlebte die wohl einzige Verdi-Cabaletta, in der nur das Orchester musizierte und der Chor sang, aber die Solostimme ausblieb. Den Manrico sang zwei Tage später anlässlich der Fernsehausstrahlung Placido Domingo . . .

Karajans Troubadour-Produktion blieb dann noch viele Jahre im Repertoire. Wobei sich mehr und mehr herausstellte, dass vor allem die Titelpartie immer schwieriger zu besetzen war – und die philologischen Ansichten von Interpreten und Opernfreunden über die »Stretta« weit auseinandergingen. Tatsächlich steht das hohe C nicht in Verdis Partitur. Doch erachten Verdianer es als unsportlich, wenn Tenöre darauf verzichten. Diese denken ebenso und lassen die Szene lieber einen Halbton nach unten transponieren. Sie singen ein hohes H – und ernten in aller Regel begeisterten Applaus dafür.

Skandal um István Szabó

Erst Anfang der Neunzigerjahre kam es an der Staatsoper endlich zu einer Neuinszenierung, die freilich in einem mittleren Desaster endete. Nicht, weil der damals neue Direktor Ioan Holender keinen strahlenden Manrico finden konnte in der damaligen Tenornotlage. Aber Filmregisseur István Szabó ließ das Werk im Nachkriegs-Wien spielen, erinnerte mit den Dekors an die zerbombte Staatsoper und die Flaktürme. Dergleichen ist hierzulande nie gut angekommen. So wurden Troubadour-Aufführungen rar, was die Direktoren auch der schweren Aufgabe entband, adäquate Interpreten für den Titelhelden zu finden. Ganz zu vernachlässigen ist ein solches Spitzenwerk für ein Haus wie die Staatsoper aber doch nicht. 15 Jahre nach der letzten Vorstellung des Szabó-Missgeschicks stand dann doch wieder Il trovatore auf dem Spielplan, Roberto Alagna war der Manrico, Anna Netrebko seine Leonora, Ludovic Tézier der Graf Luna und Luciana D’Intino die Azucena, ein luxuriöses Quartett. Marco Armiliator dirigierte, Daniele Abbado hat inszeniert.

Verdi Nabucco

Die älteste räsonable Aufnahme läßt uns Maria Callas in einer ihrer größten frühen Leistungen hören: Ihre Abigail setzte Maßstäbe in der Verdi-Interpretation.

Vittorio Gui – Gino Bechi, Gino Sinimberghi, Luciano Neroni, Maria Callas, Amalia Pini, Iginio Riccò, Luciano della Pergola, Silvana Tenti
(Neapel, 1949)



Leonie Rysanek in der »Callas-Partie« in einem fulminanten Live-Mitschnitt von der Met.

Thomas Schippers – Cornell MacNeil, Eugenio Fernandi, Cesare Siepi, Leonie Rysanek, Rosalind Elias, Bonaldo Giaiotti, Paul Franke, Carlotta Ordassy
(New York, 1960)


Lamberto Gardelli – Tito Gobbi, Bruno Prevedi, Carlo Cava, Elena Souliotis, Dora Carral, Giovanni Foiani, Walter Kräutler, Anna D‘ Auria
(Wien, 1965 – Decca)

Die Referenzaufnahme der Interpretation der Titelrolle durch Tito Gobbi, entstanden in Wien. (Philips/Decca)


Giuseppe Sinopoli – Piero Cappuccilli, Plácido Domingo, Evgeny Nesterenko, Ghena Dimitrova, Lucia Valentini-Terrani
(Berlin 1982, DG)

Das Musterbeispiel einer amibitionierten Studioproduktion mit großen Namen – und unverhältnismäßig geringem dramatischem Effekt. Immerhin: Für den großen Piero Cappuccilli zählt der Nabucco nicht unbedingt zu den zentralen Rollen, er hat sie hier aber doch für die Ewigkeit festgehalten (ein späterer Mitschnitt aus Verona läßt ihn nur noch mit Restbeständen seiner Stimme hören…)

Phänomen Verdi

Giuseppe Verdi

1813 – 1901

Versuch über ein Musiktheater-Phänomen.

Es stimmt schon: Richard Wagner hat seine Violinen im »Lohengrin« achtstimmig spielen lassen. Das war drei Jahre früher. Und doch: Als im März 1853 im venezianischen Teatro Fenice Verdis »La Traviata« erstmals erklang, ereignete sich ein nicht viel weniger zauberhaftes Klangwunder. Beide Opern, die deutsche und die italienische, heben mit schwebenden, geradezu irrational leuchtenden Klängen an, die auf das Publikum der damaligen Zeit unerhört wirken mußten. Wagner haben die Musikforscher später seine ästhetische Vorreiterrolle nie streitig gemacht. Er war der kühne Entdecker neuer Farben, Formen und Harmonien im Reich der Musik. Aber Verdi?

Der italienischen Widerpart des Bayreuthers hätte in Wahrheit keineswegs als minder fortschrittlich, minder aufgeschlossen, minder zukunftsweisend in die Geschichte eingehen dürfen. Freilich: Die Simplizität, deren er sich des öfteren befleißigt, die ungenierte Melodienseligkeit, die seine Musik über weite Strecken auszeichnet, sie übertünchen das Revolutionäre, das selbst in populärsten Opern, wie eben die »Traviata« eine darstellt, auszumachen ist. Verdis Größe liegt in der Vereinigung von allgemeinverständlicher Theatralik und der Auslotung von Grenzwerten. Daß das Hand in Hand gehen konnte, ist das Wunder.

Und die Zeitgenossen mußten wirklich nicht auf das sogenannte Spätwerk warten, bis der Meister über seine Mittel dermaßen souverän gebot, daß er scheinbar Unvereinbares zu einen wußte. Nicht erst »Otello« sprengt alle Grenzen. 1847 hat in Florenz »Macbeth« Premiere, ein Stück unverfrorener musikalisch-theatralischer Drastik, das fast 100 Jahre warten mußte, bis es in Alban Bergs »Wozzeck« ein ebenbürtig realistisches, auf keine Opernetikette Rücksicht nehmendes Pendant erhielt. Tatsächlich: Auch Verdi hat sich nie wieder so weit in anarchische Gefilde vorgewagt: »Überhaupt nicht gesungen« soll werden, kommentierte der Komponist selbst vor der Uraufführung. Und die Lady Macbeth soll eine »rauhe, erstickte, hohle« Stimme haben! Alles ist Ausdruck, die schöne Melodie, der »Belcanto«, wie er im Buche steht, hat ausgedient.

»Mord am Belcanto«

Verdi, der Mörder des traditionellen Schöngesangs, so mochten ihn manche Kommentatoren seiner Zeit gesehen haben. Tatsächlich klafft ein schier unüberwindlicher Graben zwischen der poetischen Linienführung eines Bellini und den verhalten flüsternden, ja röchelnden Dialogen des mörderischen Paares aus der Werkstatt Shakespeare/Verdi. Die Stimme hat in »Macbeth« eine neue Aufgabe bekommen. Die gewonnenen Farbwerte waren zwar danach nicht allgegenwärtig. Aber sie waren da, bereit, im rechten Moment eingesetzt zu werden. Der musikalische Expressionismus hebt an. Daher ist der Vergleich mit Berg gewiß nicht zu weit hergeholt. Ärgere Zumutungen an die Stimmen seiner Darsteller als Verdi im »Macbeth« wagt der Wiener Opernmeister anno 1925 kaum.

Welche Metamorphose! Noch Rossini hat wenige Jahre vor Verdis ersten Erfolgen den spätbarocken Ziergesang aus den Opernhäusern zu verbannen versucht. Mühevoll und langsam sollte ihm das gelingen. Bellini hat dann eine neue Schlichtheit _ und damit mehr Wahrhaftigkeit des Ausdrucks _ eingebracht. Statt virtuoser, zirkusreifer Artistik dominierte plötzlich die ausdrucksvolle Vokallinie: Belcanto, Singen als Akt menschlicher Seelenbespiegelung. Auf den sorgsam modellierten, ausdrucksreichen Gesang war man denn auch eine Zeitlang voll konzentriert. Alles andere hatte dahinter zurückzutreten: das Orchester, versteht sich, vor allem aber auch die musikalische Architektonik.

Ein Schema und die Revolution

Den großen Vorgängern Verdis genügte ein verhältnismäßig dürftiges formales Gerüst. Seit Rossini dominiert auf den Opernbühnen das Schema der Aneinanderreihung solistischer und duettierender Szenen: Kontemplation, Aktion/Entschluß, Aufbruch _ dargestellt in Arie (Cavatina), Rezitativ und Cabaletta (Stretta). Der junge Verdi übernimmt das zunächst willig, zerstückelt es aber im ersten günstigen Augenblick seiner dramaturgischen Revoltierlust zuliebe. Bis hin zu Manricos großer Szene im Finale des dritten Akts des »Troubadours« kennt er die beschriebene »Doppelarie«, die den Helden ausreichend Gelegenheit gab, all ihre Kunstfertigkeiten in den Dienst der jeweiligen Handlung zu stellen: Besinnung, gefolgt von wildem Aufbegehren. Schon im Frühwerk sprengt Verdi jedoch den Schematismus, fügt kurze Ariosi in den Handlungsverlauf ein, wo es nötig scheint, und bringt die Primadonna hie und da auch um ihren wohlverdienten Schlußapplaus, indem er die Cabaletta einfach kappt. Ein Werk wie der »Don Carlos«, erstmals in Paris 1867 präsentiert, kennt überhaupt keine Schablonen mehr. Hier bewegt sich ein freier Geist ungezwungen, um eine der sensibelsten tönenden Psychoanalysen der Musikgeschichte zu entwerfen. Der Titelheld darf gerade einmal eine kurze Arie singen, wird aber im übrigen ausschließlich als singender Gegenspieler aller anderen Akteure präsentiert, muß sich vokal am freundschaftlichen Entgegenkommen eines Baritons, den gehauchten Pianissimi einer Sopranistin und dem wilden Gefauche eines erzürnten Mezzosoprans messen.

Menschliche Beziehungen

Es ist Verdis Detailarbeit in diesen musiktheatralisch demonstrierten zwischenmenschlichen Beziehungen, die »Don Carlos« zum innovativen Musikdrama macht. Wenn Carlos und Elisabeth über ihre verlorene Liebe räsonieren, scheint jede Anlehnung an klassische Duettkünste verpönt. In ganz wenigen Momenten übernehmen die beiden singenden Menschen Motive voneinander. In der Regel wechseln die musikalischen Themen alle paar Takte, stehen disparate Versuche, zusammenhängende Melodien zu gestalten, unverbunden nebeneinander. Die Zerrissenheit wird zur künstlerischen Form. Moderner hat Gegenspieler Wagner, immer bedacht auf die »unendliche Melodie«, nirgendwo komponiert.

Auch die Instrumentationskunst Verdis ist fabelhaft und von den diesbezüglichen Zauberkunststücken des Bayreuthers qualitativ nicht zu unterscheiden. Die erwähnte frappante Ähnlichkeit der klanglichen Vision in den Anfangstakten des »Lohengrin« und der »Traviata« beweist das ebenso klar wie etwa die zukunftsweisend kühne Aufsplittung der tiefen Register. Welch ein Effekt, wenn Rigoletto dem Sparafucile den Mordauftrag erteilt! Zwei tiefe Männerstimmen, ein Quartett aus vier Bratschen und einem Cello als Harmonieträger, dazu je ein solistisches Cello und ein Kontrabaß, denen die Melodie über den pochenden Rhythmen der übrigen Celli und Bässe zugeteilt wird.

Dann wieder himmlische, ätherisch abgetönte Holzbläsersätze, zu denen sich der späte Verdi nach den blechgeschwängerten Bandaklängen der frühen Opern immer wieder aufschwingt. Der Auftritt der Amelia in »Simone Boccanegra«, die Beschwörung der Geisterwelt durch Nanetta im letzten Bild des »Falstaff« _ da ereignet sich, lange vor dessen verbriefter Erfindung, erstmals echtester Impressionismus. Verdi konterkariert solche verzückten Passagen gern und immer wieder mit jähen Einbrüchen, setzt filmisch harte Schnitte, überrumpelt den Hörer immer wieder, indem er ganz bewußt Erwartungen zuwiderhandelt, scheinbar logisch entwickelten Abläufen mittendrin eine unerwartete Wendung verleiht. Oberstes Gesetz: die dramaturgische Wahrhaftigkeit.

Der erste »Cluster«

Selbst scheinbar Äußerliches wird Introversion. Ist es der Wind, der pfeift, wenn der Chor mit geschlossenem Mund im Finale des »Rigoletto« summt _ oder doch eher ein weiteres drastisches Detail in der klingenden Psychoanalyse der Figuren? Der Sturm, der zu Beginn des »Otello« tobt, klingt vollends wie eine Klang gewordene existentielle Erfahrung. Da schwingt Tiefes mit _ technisch gesprochen übrigens auch ein Orgelbaß aus drei nebeneinander liegenden Halbtönen, die eine klare tonale Zuordnung der Musik vereiteln. Der erste Cluster der Musikgeschichte vielleicht, auch ein viel später »erfundener« Topos der Avantgardemusik. Verdi setzt ihn ein als brachiales Ausdrucksmittel.

Brachial und irritierend: Als ein Dirigent Mitte der achtziger Jahre darauf bestand, daß seine Otello-Aufnahme diesen dumpf dissonierende Kunstgriff Verdis ungeschminkt hören lassen müsse, reagierten die Testhörer der LP-Probepressung verstört und bombardierten die Konzernleitung mit Meldungen eines vermeintlichen Fabrikationsfehlers: Da störe ein fortwährendes Brummgeräusch die gesamte erste Szene, hieß es.

Daß Verdi sein Publikum noch 100 Jahre nach der Uraufführung dieser Oper zu verstören imstande sein würde, hätte ihn selbst diebisch gefreut. Daß Auditorien in aller Welt seine Musik heute in kleinen und großen Opernhäusern, in Arenen und Fußballstadien wie sanft plätschernde Unterhaltungsmusik konsumieren, würde vermutlich kaum seine Zustimmung finden. Außer es konfrontierte ihn ein Impresario mit der Meldung, die Vorstellungen seien allesamt ausverkauft. Der Kassenrapport war zeitlebens die einzige Instanz, die er wirklich anerkannte. Jedenfalls so lange, bis eine Lady Macbeth dem billigen Erfolg zuliebe allzu schön gesungen hätte . . .

Mythos „Tristan“

Tristan und Isolde

Kompromisse für die kompromisslose Musik

Welche Interpreten Wagners Kühnheiten am eindrucksvollsten herausarbeiten.

Die Kunde von der angeblichen Unaufführbarkeit des „Tristan“ hat sich seit dem spektakulären Scheitern der Kräfte der Wiener Hofoper anno 1863 als eine Art imaginärer Bannfluch erhalten. Zwar steht das Werk seit Ende des 19. Jahrhunderts ständig im Repertoire der großen Opernhäuser in aller Welt, doch macht vielleicht kein anderes Standardwerk – nebst „Siegfried“, „Götterdämmerung“ und „Frau ohne Schatten“ – derartige Probleme, adäquate Besetzungen zu finden.

Davon künden auch die zahlreichen Gesamtaufnahmen, von denen es einige immerhin in den Rang von Schallplattenlegenden geschafft haben, voran die Londoner Studio-Einspielung von 1952 unter Wilhelm Furtwängler mit Ludwig Suthaus und Kirsten Flagstad in den Titelpartien. Deren digital restaurierte Umschnitte auf CD waren von Anfang an mit dem Makel der haltlosen Geräuschfilterung behaftet, die der Aufnahme jeglichen klanglich-farblichen Reiz nahm (aber deutlich hörbar werden ließ, dass die hohen C nicht von der Flagstad, sondern von Elisabeth Schwarzkopf gesungen wurden.)

Was historische Aufnahmen betrifft, muss der Musikfreund zu abstrahieren wissen: Aus einer technisch völlig unzulänglichen Gesamtaufnahme aus der Mailänder Scala von 1951 lässt sich beispielsweise heraushören, wie vulkanös Victor de Sabata einst die Partitur zum Klingen gebracht haben muss. Dieser Mitschnitt profitiert freilich auch von der Gestaltung der Tenorpartie durch Max Lorenz.

Ihn, vor allem die Fiebermonologe im dritten Akt, sollte man gehört haben, wenn man mitreden möchte, was vokale Gestaltung bei Wagner vermag. Am wenigsten gestört durch Unbilden der Technik ist man bei der 1943 in Berlin entstandenen Rundfunkproduktion unter Robert Heger (Preiser).

Die Diskrepanz zwischen der Anmutung eines jungen, verliebten Paars und der Realität der Partitur, die zarten, lyrischen Stimmen keine Chance lässt, führte zumindest im Plattenstudio wiederholt zu Versuchen, die Hauptpartien möglichst „leicht“ zu besetzten. Am kühnsten unter Carlos Kleibers Leitung in Dresden. Drei Jahre lang laborierte man im Studio daran herum, der Dirigent war bis zuletzt nicht zufrieden; immerhin gelang es, den lichten Sopran von Margaret Price mit dem Tenor von Rene Kollo kunstvoll ins duftige Klanggespinst einzuweben, das Kleiber mit der Staatskapelle zu weben wusste: ein artifizielles Produkt, doch faszinierend (DG).

Kompromisse fordert „Tristan“ allenthalben. Wer das Werk in Studioqualität zu hören wünscht und doch auf Bühnenpräsenz und reale Klangverhältnisse nicht verzichten will, ist immer noch mit Karl Böhms Bayreuther Aufnahme am besten bedient: Birgit Nilsson, Wolfgang Windgassen und die unvergleichliche Christa Ludwig durften damals jeden Akt an einem anderen Tag, aber in einem Zug aufnehmen; und Böhm verstand sich auf Dramatik und Espressivo ebenso wie auf formale Balance (DG).

Wer sich nach diesem Hörerlebnis eine Videoversion mit der Nilsson und unter Böhms Leitung wünscht, kann fündig werden: Hardy Classic veröffentlichte eine DVD mit der Aufzeichnung der von Nikolaus Lehnhoff inszenierten Festspielaufführung in Orange, 1973. Da ist die Primadonna immer noch in Hochform und singt an der Seite des einzigartigen Jon Vickers, der nicht zuletzt den Fiebermonolog im dritten Aufzug zu einer theatralisch-rezitatorischen Sensation macht. Das ist hörens- und sehenswert, auch wenn das von Böhm leidenschaftlich angefachte Pariser Nationalorchester von der Aufnahmetechnik arg unterbelichtet wurde. Einmal akkomodiert, kann sich das Ohr des Kenners die Dinge zurechthören.

Richard Wagner

Wagner

ein feuilletonistischer Versuch

Holzschnitt von Félix Vallotton (1891)

Am Anfang stehen „Noth und Sorge“; und eine Kindesweglegung. Richard Wagner, junger Dichter-Komponist, ist frustriert über das Desinteresse, dem er sich in Paris ausgesetzt sieht. In der Stadt hat er gehofft,als Opernkomponist sein Glück zu machen. Jetzt verkauft er seinen „Fliegenden Holländer“. Einen Kompositionsauftrag will man ihm für das Szenarium nicht geben.

Aber die Handlung scheint interessant – ein anderer wird „Vaisseau fantome“ vertonen.

Allein, die Sehnsucht, die eigenen Erlebnisse, die hier „verdichtet“ sind, selbst in Musik zu setzen, ist zu stark, als dass sie sich aus pekuniären Überlegungen ganz unterdrücken ließe.
So beginnt auch Wagner, den „Fliegenden Holländer“ zu komponieren.
Es ist ja doch sein Stück.

In Wahrheit hat sich da manches schon quasi selbst komponiert. Die Sturmmusik, die zu Beginn der Ouvertüre erklingt: So hat der Wind den Komponisten umsaust, als er auf der Flucht vor seinen Gläubigern einen Seelenverkäufer Richtung London bestieg, der dann tagelang auf dem Meer Poseidons Gewalten ausgesetzt war. Der unauslöschliche Eindruck hat sich in Klänge verwandelt.

Das ist die Hauptsache.
Mag Herr Pierre-Louis Dietsch versuchen, das „Geisterschiff“ mit artigen französischen Arien zum Bühnenleben zu erwecken. Wagners musikalische Vision ist schon da.

Die brutal-unausweichliche Sturmböe, die dem Auftakt zu seinem ersten vollgültigen Musikdrama ihren unverwechselbaren Charakter verleiht, sie könnte der Keim des ganzen Stückes gewesen sein; eine Natur-Impression, aus der die Handlung sozusagen herauswächst.

Diese Geburt der Tragödie aus dem Geist des Klangerlebnisses ist es, die Wagner zu Wagner macht.

Die Anfänge sind wichtig, weniger das, was jeweils zuletzt aus der vom Urknall freigegebenen Masse wird.Erlösungsschluss? Der Komponist verpasst seinem „Fliegenden Holländer“ einen solchen in einer späteren Phase.

Wie er manches relativiert an den ursprünglichen Gedanken seiner Theatergedichte.
Weltanschauungen wechseln.
Die Gewalt der musikalischen Zeugung, der klingenden Metamorphose scheint hingegen völlig unabhängig von der Frage, was bei dem Experiment am Ende herauskommen soll.

Wagner komponiert, wie er als Revoluzzer im Mai 1849 in Dresden auf den Barrikaden predigt. Sobald realiter geschossen wird, ist er nicht mehr zu sehen. Die großen Gebäude, die er als Revolutionstheoretiker entwickelt, lassen jedoch nichts an visionärer Energie zu wünschen übrig.Dem Augenblick verdanken wir auch die Initialzündung zum „Ring des Nibelungen“.

Siegfried, die „Grand Opera“

„Siegfrieds Tod“, noch ganz in der Formenwelt der französischen Grand Opéra verhaftet, hat zunächst einen versöhnlichen Schluss: Die Welt geht zwar unter, doch der „ewige Allvater“ soll auch die erneuerte Erde beherrschen. Sehr bald wird aus diesem Plädoyer für die konstitutionelle Monarchie der Aufruf zur Revolution.
Die Ewigkeit hat abzudanken.
Götterdämmerung.
Die Schlussworte der Brünnhilde wird Wagner über die Jahre und Jahrzehnte hin dann immer wieder umdichten, einmal fernöstlich-mystizistisch, dann wieder als Liebesapotheose.
Doch vertont er 1874 das mittlerweile ein Vierteljahrhundert alte revolutionäre Finale.

Ist es wichtig, welche Version seines Finales Wagner nach Gründung des deutschen Kaiserreiches in Töne setzt?
Ist die Frage entscheidend, wie der „Ring des Nibelungen“ nach vier langen Abenden endet?
Man möge auf die Musik hören, beschied uns der Meister selbst, die enthalte doch alles, was er zu dichten versucht hatte, recht deutlich dechiffrierbar.Und wenn ein Hörer nicht imstande ist, lauschend Rätsel zu lösen?
Was macht das?
„Chacun à son goût“ – das vertont ein anderer, auch 1874, notabene in derselben Tonart.

16 Stunden Weltuntergangs-Szenarium genügen einem Viertages-Spiel vollauf als Programm. Aufstieg und Fall der Burg Walhall sind das Thema. Der Weg ist das Ziel.
Am Ende der „Götterdämmerung“ steht eineRegieanweisung, an der auch die Regisseure scheitern, die es bis hierher mit Anstand geschafft haben mögen (es sind ihrer nicht viele) – da schaut die Menschheit „in wachsender Ergriffenheit“ zu, wie die alte Welt versinkt.
Die Götter gehen unter.
Die Leut‘ überleben.
Kinder, schafft Neues!, ruft Wagner ihnen zu.

Schon für den Holländer und Senta hat er vor allem einmal die Schürzung des dramaturgischen Knotens parat und die unabdingbare „Treue bis zum Tod“.
Ob die beiden nach erfolgtem Suizid verklärt werden oder auf den Meeresgrund versinken, gleichviel.
Scharfe Schnitte, wie im ersten Entwurf?
Oderdoch die harfenumrauschte Erlösungsvariante, zu der das Paar nach Sentas Freitod verklärt himmelwärts entschwebt – an der Brisanz des Dramas, das aus den sausenden Sturmklängen der Ouvertüre herausgewachsen ist, ändert die Schlussvariante so wenig wie die forwährenden Korrekturen, die Wagner im Laufe der Zeit auch an seiner nächstfolgenden Oper, dem „Tannhäuser“, vornimmt.

Ein Tanz in Paris

Die Geschichte von der Balletteinlage für Paris, die an des Komponisten Sturschädel scheiterte, wird gern erzählt. Doch führt sie uns in die Irre. So viel stimmt immerhin: Gegen den Willen der Herren des Jockeyclubs setzt Wagner die Tanznummer an den Anfang des Stückes, nicht ins Zentrum, wo der Sängerkrieg ungestört seine Wirkung entfalten soll. Doch die als „Pariser Fassung“ in dieAufführungsgeschichte eingegangene Version, in der das Venusberg-Bacchanal aus der Ouvertüre herausbricht, der erste nahtlose Übergang von einem „Vorspiel“ in die Opernhandlung, stammt erst von der Wiener Revision von 1875.

Erst in Wien hat der „Tannhäuser“ seine Anpassung an die Ideen vom „Kunstwerk der Zukunft“ erfahren, indem es geschlossene Arien und Ensembleszenen nicht mehr geben darf, eine Ouvertüre gar, nach der dem Orchester applaudiert werden könnte.Die Vorstellungen vom stundenlangen ununterbrochenen Erzählfluss eines Dramas scheinen freilich die konsequente Weiterentwicklung des Urknall-Effekts vom Beginn der „Holländer“-Ouvertüre.
Nur dass es im „Holländer“ dann doch Monologe, Lieder, Balladen, Duette, „Arbeiterchöre“ gibt, die sich mühelos auch gesondert aufführen lassen. – Noch im „Tannhäuser“ finden sich die alten Strukturen, experimenteller aufgerauht allerdings, bevor im „Lohengrin“ erstmals weite Passagen einem modernen Rezitationston geöffnet werden, der Wagner als Ideal vorschwebte.

Schumann und der Lohengrin

Die Zeitgenossen vermochten sich das in ihren kühnsten Träumen nicht vorzustellen.Wo sind denn hier die Arien und Kavatinen?, fragte ganz unschuldig niemand Geringerer als Robert Schumann, als Wagner erstmals das „Lohengrin“-Libretto vorgelesen hatte.
Und Ludwig Tieck, auch nicht von gestern, stieß ins selbe Horn: Der ausgiebige Dialog zwischen Telramund und Ortrud vor den Mauern der Stadt, die Szene, mit der der zweite Aufzug anhebt, das sei doch „ohne eine gänzliche Umwandlung der bisherigen Basis der Oper“ nicht zu machen.

Unmittelbar nach dem Gespräch mit Tieck ging Wagner daran, seine Dichtung zu komponieren. Wie meist ging das unglaublich rasch vor sich. Umwandlungen von „Bisherigem“ machten ihm keine Mühe.

Die Herrschaft des Klanges

Und damit alle gleich merken sollten, was es geschlagen hatte, wurde dem Ganzen ein Vorspiel (ausdrücklich keine „Ouvertüre“) vorangestellt, dem jegliche traditionelle Basis wirklich entzogen war.

Die Welt sollte das sogleich hören und staunen: Derlei Klänge hatte es ja wohl noch nie gegeben. Selbst der kühnste Erfinder verblüffender Anfänge, Beethoven, hat Vergleichbares nicht gemacht.
Das Misterioso, die ungeformte Chaos-Masse, aus der die Neunte herauswächst, gut. Aber diese schwebenden, in sich changierenden, aber doch im Wesentlichen der Entwicklung auf der Zeitachse entrückten A-Dur-Harmonien in höchsten Streicher-Höhen?Der magische Beginn des „Lohengrin“ gehört zu den folgenschwersten Eingebungen der Musikgeschichte.
Unverwechselbar.
Unwiederholbar auch.
Der pure Klang, der zum Ereignis wird, wie früher die Melodie, der Rhythmus, die beiden Grundelemente der Musik, die hier völlig ausgehebelt scheinen. Die Klangfarbe übernimmt die Macht.

Melodie?
Ja, aber enorm in die Breite gezogen.
Keine Rede und Widerrede, These und Antithese, aus deren dialogischer Dynamik die Klassiker ihre Formen entfalteten. Vielmehr ein großer, weit gespannter Atemzug, ein Orchestergesang, der sich in zehn Minuten zu einem – von einem Beckenschlagmarkierten – Höhepunkt hin steigert unddann behutsam zu den amorphen Akkorden des Beginns zurückgeführt wird.

Der Ursprung des „Rings“

Es ist eine der wunderbaren Volten der Musikgeschichte, dass Wagner dieses Vorspiel als allerletzten Beitrag zu seiner „Lohengrin“-Partitur komponiert – also chronologisch gesehen unmittelbar bevor er den ebenso kühnen, ebenso unwiederholbaren musikalischen Zeugungsakt seiner „Ring“-Tetralogie skizziert: 136 Takte lang strömt, nur in rhythmischer Bewegung und Lautstärke gesteigert, ein unwandelbarer Es-Dur-Dreiklang.
Diese Einleitung zum „Rheingold“ sei ihm quasi im Halbschlaf als Klangvision „erschienen“, berichtet Wagner.
Technisch gesehen, ist das die Weiterentwicklung des im „Lohengrin“-Vorspiel Erprobten. Diesmal strömt die Musik, Abbild des fließenden Rheins, ohne Unterbrechung in die erste Szene des Dramas, der Gesang der Rheintöchter setzt die instrumentalen Linien fort, die Stimmen sind weitere Farben im orchestralen Kolorit. Längst werden keine Arien mehr gesungen, der Fluss der Musik führt uns ungebremst aus den Tiefen des Rheins bis zum Einzug der Götter über die Regenbogenbrücke nach Walhall – zwei Stunden, 20 Minuten.
Ohne Pause.

Es ließe sich einwenden, die Urfassung des „Fliegenden Holländers“ dauere etwa genauso lang. Auch hier gibt es Überleitungen von einem Akt in den anderen – aber es gibt noch deutliche Zäsuren zwischen den klar definierten Nummern der Oper. Dergleichen ist in den Musikdramen des „Rings des Nibelungen“ nicht mehr auszumachen. Jede Szene öffnet sich zur nächsten hin.In Wahrheit stellt auch das Des-Dur-Fortissimo am Ende des „Rheingolds“ eine Verlegenheitslösung dar – irgendwie muss man das Publikum ja in Frieden entlassen für die paar Stunden der Erholung, bis morgen Nachmittag die „Walküre“ beginnt…

Der Rest ist freies, anarchisches Wachsen und Werden, Keimen, fortwährende Metamorphose.

Viele Anfänge, kein Schluß

Das ist der Grund, warum alle Versuche scheitern, symphonische Arrangements aus den „Ring“-Opern zu erstellen. Derlei Unternehmungen bleiben notwendigerweise Flickwerk. Es gibt viele herrliche Anfänge im „Ring“. Aber keine definitiven Schlüsse. Wie effektvoll beginnt der „Walkürenritt“! Aber wo hört er auf?
Der Sturm, der den armen Siegmund in Hundings Hütte treibt, er tobt mit Zornesgewalt, ein tönendes Abbild der Wilden Jagd, die bis vor gar nicht allzu langer Zeit als Überbleibsel aus dem germanischen Mythenschatz in unseren Regionen ihr Spukwesen trieb.
Die rasenden Streicherfiguren, in die wie ein Echo des „Rheingold“-Finales Donners Hammerschläge nachhallen, verwandeln sich unversehens in ruhige Cellokantilenen – aus der furchtbaren Naturgewalt wird zärtlichste Liebesmusik; und kein Hörer kann angeben, wo die eine aufhört, die andere beginnt.
Drama, das heißt bei Wagner immer: Der musikalische Fluss hat uns längst gefangen genommen.
Er entlässt uns nicht mehr.

Die unausweichliche, erzählmächtige Metamorphose-technik macht die unendlichen Formengebäude dieser Musikdramen überhaupt erst möglich: 90 Minuten dauert der zweite Akt der „Walküre“, an die zwei Stunden der erste der „Götterdämmerung“.
Wer da versuchte, eine Pause einzulegen, würde scheitern. Die Musik erlaubt keine Zäsur.Eben deshalb lässt sich Siegfrieds Rheinfahrt, die vom Vorspiel der „Götterdämmerung“ in die Gibichungenszene führt, kaum sinnvoll losgelöst vom Drama in einem Konzert darbieten.
So virtuos das Stück auch komponiert ist: Es beginnt wie ein leichtfüßiges Scherzo und entlässt uns in müden, ermattenden Gesten, die grau, schließlich tiefschwarz ersterben, während sich der Vorhangüber Gunthers Halle hebt.

Alle Verwandlungsmusiken sind von suggestiver Bildhaftigkeit, evozieren die Szenerie – im „Rheingold“ führt die Musik in kühnem Schwung vom Grunde des Flusses auf „wolkige Höhen“, von dort durch Klüfte und Schlünde, an schmiedenden Zwergen vorbei nach Nibelheim.
Im „Siegfried“ mündet das beschaulich-schöne „Waldweben“ in die brutalen Schwerthiebe des Drachenkampfs.

Dann begleiten wir den furchtlosen Helden durchs funkensprühende Flammenmeer in die „selige Öde auf wonnigen Höhen“, wo Brünnhilde schlummert.
Extreme Kontrastwirkungen wachsen auseinander heraus, dasinfernalische Fortissimo-Furioso wird zur unbegleiteten Kantilene der Violinen, einstimmig, doch von 16 Geigern unisono modelliert – einer der vielen unwiederholbaren, einzigartigen Augenblicke in Wagners klingendem Kosmos.In der „Götterdämmerung“ entsteht aus den dunkel vibrierenden Synkopen von Hagens Wachtgesang die warm-leuchtende ErinnerungsmusikBrünnhildes mit dem von Richard Strauss so bewunderten, traumverlorenen Duett der Klarinetten.

Einen Schluss findet auch Siegfrieds Trauermarsch im Übergang zur letzten Szene der Tetralogie nicht. Die neue musikalische Ästhetik hat die im letzten, aber zuerstgedichteten „Ring“-Abenddurchaus noch fühlbaren Assoziationen zur Architektonik der Grand Opéra längst überwuchert. –

Die „Meistersinger von Nürnberg“, deren Libretto formal in Teilen durchaus noch von Meyerbeerschem Zuschnitt ist, weisen den Weg: Ehrt das alte Meisterhandwerk, aber füllt es mit neuem Leben. Pierre Boulez, der als avantgardistischer Komponist und magistraler Kapellmeister durchaus diese Quadratur des Kreises repräsentiert, hat im Zuge der Einstudierungsarbeit für seinen ersten Bayreuther „Parsifal“ angemerkt, sogar dieses letzte der Wagnerschen Dramen, das „Bühnenweihfestspiel“, fände kein Ende, verebbe ohne affirmative Schlußgeste.
„Erlösung dem Erlöser“ – hinter ein solches Aviso lässt sich nicht leicht ein Schlusspunkt setzen.

Anders Tristans und Isoldes Liebesakt, der realiter nicht vollzogen werden darf. Interruptus, fürwahr, jäh unterbrochen im Mittelakt im Moment der höchsten Steigerung durch das Hereinbrechen des „öden Tags“, von dem Tristan singt, ins „Wunderreich der Nacht“.
Personifiziert wird das Tagesgrauen durch den Auftritt der Jagdgesellschaft des betrogenen Königs Marke. Doch nimmt Isolde in ihrem sogenannten Liebestod den Faden wieder auf. Über eineinhalb Akte hat sich die Spannung erhalten – der große Gesang wird erneut angestimmt und diesmal zu Ende gesungen. Oder doch nicht?

Es gibt Musikfreunde, die im sanft verklingenden H-Dur-Akkord, den Wagner an den Schluss der „Tristan“-Partitur gesetzt hat, kein Ende, nur ein transitorisches Element erkennen wollen. Als müsse die Musik im Jenseits weitersingen, von der Dominante in die heimliche, schon im Vorspiel angespielte, dann wieder verlassene Haupttonart E-Dur strebend – das wäre freilich die Erfüllung des Wortes von der „unendlichen“ Melodie, das Wagner für seine ureigenste dramaturgische Erfindung des pausenlosen tönenden Erzählens geprägt hat.
Den Eindruck des Offenen, der nicht mehr zu festigenden harmonischen Basis befördert im „Tristan“ die über weite Strecken tatsächlich nicht mehr gewahrte tonale Balance – minutenlang beschwört die Musik Schwebezustände, der berüchtigte „Tristan“-Akkord dominiert und irritiert seine Umgebung. Er ist überall und nirgends zu Hause.

Untergang des Abendlands

Instinktsicher ortet der Prophet des Untergangs, Oswald Spengler, hier, genau hier, das Ende der europäischen Musik. Alles andere gilt ihm als Nachspiel.

Ein bestechender Gedanke für wache Beobachter, die in Anton Bruckners Neunter, der nicht mehr Vollendeten, den letzten großen Versuch einer instrumentalen Riesenform erkennen, der (bei Mahler beispielsweise) nur noch Zerborstenes folgt.
Diese Neunte ist tatsächlich ein Satyrspiel auf den „Tristan“-Akkord. Ein Satyrspiel von allerdings zyklopischen Ausmaßen: Im Scherzo tanzt das berüchtigte Tonkonglomerat unaufgelöst, unerlöst, insistierend, ausweglos.
Im Adagio, dem letzten von Bruckner vollendeten Satz, stehen die beiden „Tristan“-Tonarten gegeneinander, das As-Dur der Liebesnacht und das über 20 Minuten lang verzweifelt gesuchte E-Dur.
Diese Grundtonart des Satzes leuchtet erst am Ende mild auf, nachdem die musikalische Entwicklung mit einem fürchterlichen Riss, auf der grellsten bis zu diesem Zeitpunkt je aufgeschichteten Dissonanz zum Stillstand gekommen ist.

Till Eulenspiegels lange Nase

Wenige Jahre später dreht uns der „Tristan“-Akkord die lange Nase – im „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss; wir haben es laut Spengler ja schon überstanden, sind schon „après“, wie’s im Wiener Kabarettlied heißt. Fürwahr: Wütender, „disharmonischer“, als uns das Orchester in den beißenden Attacken zu Brünnhildes Klagerufen im Mittelakt der „Götterdämmerung“ entgegenbrüllt, ist später nie wieder komponiert worden.
Schon gar nicht von jenen Meistern, denen man nachsagt, sie hätten die sogenannte Atonalität erfunden.Da hat einer programmgemäß „die Basis der Oper umgewandelt“ – und notwendigerweise gleich die Musik ihrer bis dahin gefestigt geglaubten Grundlage beraubt.
Das ist Verunsicherung, Unterminierung, Anarchie aus dramaturgischer Notwendigkeit. Richard Strauss hat später – „après“, bleiben wir beimWortspiel – auf Vorhaltungen über kühne Dissonanz-Agglomerationen in seiner „Elektra“ gemeint: „Wann auf der Bühne a Muatta derschlog’n wird, kann i im Orchestergraben koa Violinkonzert aufführen lassen.“
Solch bajuwarisch-bodenständige, wenn auch unmittelbar einleuchtende Kommentare hätte man von Richard Wagner gewiss nie zu hören bekommen.
Er proklamierte vielmehr in wohlgesetzten Worten das „Kunstwerk der Zukunft“ – und hat es auch gleich auf vollkommene Weise realisiert.

In Tönen kann man es von Mal zu Mal wieder erleben – in einer Radikalität, die es nicht verwunderlich scheinen lässt, dass unsere Regiehandwerker mit ihrer hilflosen Bildersprache regelmäßig schon auf den ersten paar Hundert Metern im Aufstieg auf die theatralischen Achttausender scheitern. Das muss wohl so sein. Hören wir zu. Die Sache nimmt ja, wie gesagt, kein Ende . . .

↑DA CAPO