Abbados Abgang

Eine Lücke hinterläßt er nicht

Die Abschiedsbriefe kamen, das „Timing“ stimmt, zu einem Zeitpunkt, der den Verehrern noch Gelegenheit gibt, anläßlich dreier Aufführungen von „Boris Godunow“ Solidaritätskundgebungen zu veranstalten. Nach dem 20.Oktober aber wird Claudio Abbado der Wiener Oper nicht mehr zur Verfügung stehen.

Die berühmte „Lücke“, von der nun in mancher Laudatio die Rede sein wird, hinterläßt dieser Künstler jedoch nicht. Vor allem für den nicht, der bedenkt, aus welchen Positionen Abbado scheidet und wie er diese ausgefüllt hat.

Mit Recht wird von „Wien modern“ die Rede sein, von den Raritäten, die der Dirigent, seinen Neigungen entsprechend, dem Spielplan der Staatsoper einverleibt hat. Nie zuvor hat ein musikalischer Leiter des Hauses beispielsweise Rossini oder Mussorgsky soviel Bedeutsamkeit zukommen lassen wie Abbado. Das Publikum für Neue Musik interessiert zu haben, zählt zu seinen unbestrittenen Verdiensten.

All das wäre uneingeschränkt bejubelnswert, hätte man den Künstler von verantwortlicher Seite nicht von vornherein in Rollen gedrängt, die er nicht auszufüllen willens oder imstande war. Den Titel „Generalmusikdirektor von Wien“ schuf man eigens für ihn. Dessen Bedeutung ist bis heute Geheimnis geblieben. Was dem Wiener Musikleben von jeher internationale Beachtung und höchsten Respekt gesichert hat, die erstklassige, ja qualitativ kaum egalisierbare Pflege des großen klassisch-romantischen Repertoires war nicht Abbados Domäne.

In Oper und Konzertsaal zollte man ihm Bewunderung, sobald er sich für Unbekanntes oder Neues engagierte. Wo sich Vergleiche mit der bedeutenden interpretatorischen Tradition aufdrängten und wer, wenn nicht ein „Generalmusikdirektor“ hätte diesen paroli bieten müssen? – wurden Abbados Grenzen spürbar. Dirigierte er Beethoven oder Bruckner im Musikverein, Strauss oder Mozart in der Oper, bot er zumindest widersprüchliche, zuweilen unfertig, jedenfalls kaum restlos überzeugend anmutende Aufführungen.

Vielleicht zwang ihn das, auch vor Repertoireaufführungen von Werken, die er ohnehin aufwendig einstudiert hatte, den Opernbetrieb ganz nach seinen Bedürfnissen auszurichten, seinem Amt als Musikdirektor zum Trotz geschehen zu lassen, daß „Tristan“ oder „Parsifal“ ohne Orchesterprobe über die Bühne gingen, weil er selbst etwa Wiederholungsaufführungen von „Chowanschtschina“ vorbereitete.

Die schier uneingeschränkte Verfügungsgewalt über den Hausapparat hat ihm die neue Direktion nun offenkundig streitig gemacht, indem sie bewährte Wertmaßstäbe wieder in ihr Recht setzte und befand, Mozart, Wagner, Verdi und Strauss seien wenigstens so bedeutend für einen ordentlichen Wiener Spielplan wie Rossini oder Mussorgsky. Wenn Abbado jetzt mit Rücksicht auf seine Gesundheit seine Wiener Position zur Verfügung stellt, mag ihm diese Besinnung auf traditionelle Gewichtungen den Entschluß leichter gemacht haben.

Im übrigen muß, jetzt kommen wir auf die „Lücke“ zurück, die Position eines Musikdirektors nicht nachbesetzt werden. Es hat sie viele Jahre nicht gegeben. Das waren nicht die schlechtesten, die das Haus erlebt hat. Und es gab, wie die Geschichte lehrt, stets große Dirigenten, die ohne Funktionen zu bekleiden ins Haus gekommen sind, um das Wiener Musikleben zu bereichern. Einige, die man engagieren könnte, waren jüngst in der Stadt zu erleben. Freilich nicht in der Oper. Noch nicht. Oder noch nicht wieder.