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Rudi Stephan

1887 – 1915

Am 29. September 1915 fiel der deutsche Soldat Rudi Stephan bei Tarnopol in Galizien (heute Ukraine) auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs. Er war 28 Jahre alt – und galt trotz seiner Jugend in Friedenszeiten als einer der Hoffnungsträger der deutschen Musik, Seine Oper → Die ersten Menschenseine symphonischen Werke, die (zweite) Musik für Orchester, die Musik für Geige und Orchester hatten ihn in die erste Riege der jungen Komponisten katapultiert.

In einem Nachruf, den Kasimir Edelschmid 1915 in der »Frankfurter Zeitung« publizierte hieß es:

Sein Gerechtigkeitssinn war von solch glasharter Schärfe und Durchsichtigkeit, dass es das Auskommen mit ihm erschwerte. Er war weniger impulsiv als abwägend. Kleinigkeiten, über die andere, auch vornehme Menschen, lächelnd weggingen, beschäftigten sein moralisches Bewusstsein lange … In all seinen Handlungen, selbst in seinem Lachen, das er gern und tief lachte, war ein besonderer Ernst. Sein Urteil war gerecht und radikal wie bei Menschen, die, von innerer Berufung schlicht überzeugt, für eine Sache leben. Ich glaube nicht, dass seinem Wesen die große Güte fehlte, die die Grundlage einer großen Leistung ist. Er war ohne Aufheben von sich überzeugt mit der inneren Bescheidenheit der mittelalterlichen Meister.

Prägungen

Studiert hatte Stephan, der sich schon in seiner Gymnasialzeit vor allem für die musischen Dinge interessiert hatte und daher ein schlechter Schüler war, bei Bernhard Sekles (1872-1934). Dieser wiederum war einer der profiliertesten Kompositionsprofessoren seiner Generation. Zu seinen Schülern zählten – nach Staphen – Paul Hindemith, Hans Rosbaud (1895-1962) und Theodor W. Adorno (1903-69).

Nach seiner Übersiedlung nach München setzte Stephan seine Studien bei Rudolf Luis (1861 – 1907) fort, der ihn mit der Ästhetik des Kreises um Ludwig Thuille (1861-1907) vertraut amchte, die wiederum Richard Strauss und Hans Pfitzner nahestand. — Wobei Juliane Brand, die die essentielle Stephan-Biographie geschrieben hat, darauf verweist, daß Stephan selbst in seinen autibiographischen Skizzen festgehalten hat, bei Sekles Harmonielehre und Klavier, bei Louis Kontrapunkt und Fuge studiert zu haben. Der Nachlaß Rudi Stephans wurde 1945 durch die Explosion einer Brandbombe am Tag nach dem schwersten Bombenangriff auf Worms zerstört. Angeblich hat sich darin keine einzige Kompositionsübung gefunden, die auf einen nachhaltigen Kompositions-Unterricht hätte schließen lassen.

Der Zug der Zeit

Mit dem handwerklichen Rüstzeug des Tonsatz-Studenten und auf die Kraft der Inspiration vertrauend, entwarf der nach dem Zeugnis von Freunden langsam und bedachtsam arbeitende Rudi Stephan Skizzen über Skizzen hervor, an denen er ständig feilte und verbesserte. Sein Oeuvrekatalog begann mit einer lediglich im Entwurf beendeten Marcia eroica (1905). Auch die Werke des folgenden Jahres — Ballettszene, Scherzo und Idylle — blieben unfertig liegen.

Als eine Art Abschlußarbeit während des Studiums bei Rudolf Louis bildete das am 1. Juli 1908 in München vollendete »Opus I« für Orchester, ein einsätziges Werk, dem der Komponist sein Motto voranstellte:

Vorwärts sehen, vorwärts streben — keinen Raum der Schwäche geben!

Das Musterstück für die später so erfolgreiche Musik für Orchester war geboren. Die Partitur dieses »Opus 1« fand sich nach dem Zweiten Weltkrieg unter der irrtümlichen Verschlagworung Rudi Stephan: »Konzert für Orchester« in einem Archiv in München.

Offenbar hatte das Münchner Konzertvereins-Orchester das Werk zurückgewiesen und Stephan hatte das Manuskript nicht zurückgefordert —. ein Glücksfall für die Musikwissenschaft, da es andernfalls vermutlich bei dem Bombenangriff auf Worms vernichtet worden wäre.

Als » Opus II« schrieb Stephan 1909 eine heute nicht mehr auffindbare Version seines Liebeszaubers für Tenor und Orchester, als »Opus III« folgte 1910 die (erste) Musik für Orchester, die Stephan später zurückzog und 1912 durch ein gleichnamiges, aber völlig anderes, knapperes Werk ersetzte.

Ein erstes Privatkonzert

Ob das »Opus IV« eine Musik für Geige und Orchester von 1910/11, eine Vorform zum heute bekannten Werk gleichen Namens darstellte, oder — wie die erste Musik für Orchester — ein anderes Werk gewesen ist, kann nicht ermittelt werden. Die Partitur ist verschollen.

Diese (erste) Musik für Geige und Orchester hielt der skrupulöse Stephan jedenfalls für aufführenswert. Da niemand sich für eine Musik interessierte, stellte sein Vater Geld zur Verfügung, um ein privates Konzert mit dem Münchner Konzertvereins-Orchester zu veranstalten. Bei dieser Gelegenheit stellten der Geiger Wolfgang Bülau die Geigenmusik, der Tenor Adolf Wallnöfer den Liebeszauber vor. Der 16. Januar 1911 ist also in die Annalen als erstes wichtiges Uraufführungsdatum von Werken Rudi Stephans eingegangen. Doch spielte das Konzertvereins-Orchester die ungewohnte Musik nach übereinstimmender Zeugenaussage eher lustlos herunter, nachdem Chefdirigent Ferdinand Loewe die Partituren als »chinesisch« und »völlig unverständlich« bezeichnet hatte.

Die mehrheitlich ablehnende Haltung löste in dem unermüdlich an sich arbeitenden Stephan einen Reflexionsschub aus. Er revidierte vorhandene Partituren und schuf Neues, ohne sich in seiner grüblerischen, akribischen Arbeit irritieren zu lassen.

Neue Sachlichkeit

In dieser Phase brachte Stephan zwei wesentliche Werke für den Konzertgebrauch zu Notenpapier: Die Musik für Orchester und die Musik für sieben Saiteninstrumente. Es sind früheste Dokumente einer Geisteshaltung, die sich von der spätromantischen Programmusik ab- und einer sachlich-distanzierten Musizierhaltung zuwandte, die von Meistern wie Paul Hindemith und – in anderem Umfeld – Igor Strawinsky später kultiviert wurde und zur »Neuen Sachlichkeit« beziehungsweise zum » Neoklassizismus« führen sollte.
br> Heinz Tiessen, ein Komponisten-Freund Rudi Stephans, stellte nach den Uraufführungen der beiden Werke (1912 und 1913) fest:

Wie eine Fanfare des resolutesten Abrückens von der Programm-Musik wirkten auf den Musikfesten der Jahre 1912 und 1913 die Titel, die Rudi Stephan seinen Werken gab: »Musik für sieben Saiteninstrumente, Musik für Orchester.« Wichtiger aber als der Titel war — im zweiten Werk — die neue, frische, knappe Energie der Musik selbst, die (trotz Delius und Reger) das übrige Jenenser Festprogramm weit hinter sich ließ.

Tod im Schützengraben

Am 2. März 1915 wurde Rudi Stephan zum Kriegsdienst einberufen. Die Reise an die Front führte über Berlin – wo er sich nicht überwinden konnte, den Freund Heinz Tiessen aufzusuchen. In einem Brief vom 6. August 1915 begründete er diese Verweigerung:

Wäre ich nun so, wie ich es ja wollte, erst recht zu Ihnen gegangen und wäre ich durch Sie noch mehr meinen Musik- Sehnsüchten verfallen — es wäre an sich eine schöne Stunde geworden; aber auch umso grässlicher wäre das Erwachen gewesen auf der Rückfahrt im Nachtzug im Abteil — ‚für Militärpersonen‘!

Der Tod durch eine feindliche Kugel ereilte den Komponisten-Soldaten schon wenige Tage nach der Ankunft an der Front, wo einander deutsche und Russische Truppen gegenüberlagen. Der Kompanieführer berichtete an Stephans Eltern:

In der Nacht vom 28. auf 29. griffen uns die Russen an und waren in der Dunkelheit bis an den Draht herangekommen. Der Angriff wurde abgeschlagen, sodaß wir, als wir am Abend des 29. das Kampffeld absuchten, im Raum von 100 Meter 150 Tote und 40 Schwerverwundete fanden, außerdem noch 35 unverwundete Russen, die sich vor unserem Hindernis eingegraben hatten. Einer von diesen letzteren hat nun auf Ihren Sohn — es war zwischen 9 und 10 Uhr morgens — einen Schuß abgegeben, wie dieser durchs Glas das Vorgelände beobachtete vom Schützengraben aus und ihm einen Kopfschuss beigebracht, sodaß er sofort tot war. Ob nun etwas Unvorsichtigkeit dabei war, das kann ich nicht feststellen. Wir haben ihn hinter unserer Front abends unter Schutz der Dunkelheit mit allen Ehren begraben.

Juliane Brand teilt in ihrer Stephan-Biographie noch einen Bericht Karl Holls mit, der private Nachforschungen angestellt hatte:

Offenbar hatten während der Nacht auf den 29. September die verwundeten Russen im Schmerzdelirium unablässig geschrieen, nur wenige Meter von den deutschen Stellungen entfernt. Aus Verzweiflung und vor Erschöpfung geriet Stephan so außer sich, dass er am Morgen plötzlich, ehe seine Kameraden es noch verhindern konnten, mit den Worten, »ich halt’s nicht mehr aus!« im Schützengraben aufsprang und sich weit über die Brustwehr erhob. Er war ein allzu leichtes Ziel.

Der Dirigent Kirill Petrenko hat sich als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker auch für die Musik Rudi Stephans stark gemacht und seine ersten CD- und DVD-Bilanz auch Werken dieses Komponisten gewidmet.


MEHR DAZU

Berg »Lulu« – Die Musik

»LULU« – DIE HANDLUNG

Dramaturgie und Form

An Stlle einer Ouvertüre steht in »Lulu« der PROLOG des Tierbändigers. Er wird vor vor dem Vorhang gesungen und versetzt uns in die Atmosphäre eines Zirkus.

Musikalisch gesehen fungiert dieses Vorspiel als »Exposition« der wichtigsten Motive, die jeweils erklingen, wenn der Dompteur die vom Tierbändiger vorgestellten »Tiere« seiner »Menagerie« vorführt. Lulu erscheint als »Schlange«. die »Urgestalt des Weibes«.

Vorstellung der Themen und Motive

Im Ersten Bild erleben wir die Dialoge zwischen dem Maler, Dr. Schön und dessen Sohn Alwa, die zugegen sind, während Lulu im Pierrot-Kostüm Modell steht. Als sich die beiden Besucher entfernt haben, beginnt der Maler Lulu nachzustellen.

»Poco Adagio« – Duett (Kanon)

Lulus Gatte, der Medizinalrat, ertappt die beiden in flagranti und erleidet einen Herzinfarkt. An der Leiche singt Lulu einen Monolog in liedhafter Form.

»Canzonetta«

Zweites Bild. Lulu ist die Frau des Malers geworden, der sich vor Aufträgen kaum noch retten kann, seit ihn das Pierrot-Bild Lulus – und massive Unterstützung durch den Zeitungsverleger Dr. Schön – berühmt gemacht haben.

Duett Lulu/Maler in 2 Strophen

Der Maler ahnte weder etwas von Lulus Beziehung zu Dr. Schön, noch von ihrem Vorleben, dessen Verkörperiung in Gestalt des greisen Schigolch erscheint, der als Landstreicher kommt, um Geld zu bitten.

Schigolch sind schleichende chromatische Motive zugeteilt, die Berg auf wechselnde kammermusikalische Ensembles verteilt.

Dr. Schön erscheint und bittet Lulu, ihn freizugeben. Er möchte sich mit einer Frau aus der bürgerlichen Gesellschaft verloben. Lulu geht verstört ab.

Dem Dialog unterlegt Berg den Beginn eines langsamen Satzes in Sonatensatzform. Mit Lulus Abgang bricht die Musik jäh ab – sie wird am Ende des Ersten Akts fortgesetzt – und erklingt am Schluß der Oper als »Reprise« noch einmal, um den formalen Prozeß abzurunden.

Als der Maler erscheint, klärt Schön ihn über die wahren Sachverhalte auf. ihn endlich freizugeben. Jäh aus seinem Traum gerissen, verbarrikadiert sich der Betrogene im Badezimmer und begeht Selbstmord.

Berg erfand für diesen Dialog die Form der »Monoritmica« – ein und derselbe Rhythmus entfaltet sich vom Pianissimo (Grave) in dynamischer Steigerung zu rasender Fortissimo-Bewegung und wieder zurück.

Das dritte Bild spielt in der Theatergarderobe.

Hinter der Szene spielt die Band Rag Time und English Waltz

Ein exotischer Prinz erscheint und macht Lulu einen Heiratsantrag.

Choral, vom Cellosolo konzertant umspielt

Lulu sollte in einer von Alwa komponierten Revue die Hauptrolle tanzen, simuliert aber kurz nach ihrem Auftritt einen Ohnmachtsanfall, als sie die Dr. Schön mit seiner Braut in einer Loge entdeckt.

Großes Ensemble

Lulu droht Dr. Schön, mit dem Prinzen nach Afrika zu gehen. Schön, der einsieht, daß er sich von Lulu nicht zu lösen vermag, schreibt den Abschiedsbrief an seine Braut, den ihm Lulu triumphierend diktiert.

Fortsetzung von Dr. Schöns »Sonate« aus dem 2. Bild

ZWEITER AKT

Viertes Bild. Großer Saal im Hause Dr. Schöns. Lulu ist seine Frau geworden. Ihre gesamte Umgebung ist liebestoll nach ihr: Der Diener, Rodrigo, ein Athlet und Freund Schigolchs, ein junger Gymnasiast, die lesbische Gräfin Geschwitz und Alwa, der nun Lulus Stiefsohn geworden ist.

Im großen Rezitativ erscheinen die Motive der einzelnen Figuren jeweils klar getrennt: Gräfiin Geschwitz gehören die pentatonischen Tonfolgen, dem Gymnasiasten Fanfarenklänge, dem Athleten plumpe Klavier-Cluster, Schigolch die Chromatik.

Dr. Schön überrascht Lulu im zärtlichen Dialog mit Alwa.

Ein lyrisches »Rondo« (das im folgenden Bild fortgesetzt wird)

Dr. Schön drückt ihr im heftigen Streit einen Revolver in die Hand.

»Arie« in fünf Strophen, vor der letzten Strophe: »Lied der Lulu«

Statt sich selbst zu richten, tötet Lulu Dr. Schön.

Im Moment des Todes erklingt das einzige Mal in der Oper die zugrundliegend Zwölftonreihe »nackt«, ohne Begleitung im Unisono der Bläser.

Nach Dr. Schöns Tod singt Lulu eine kurze »Ariette« – Gegenstück zur »Canzonetta« im ersten Akt.

Als die Polizei erscheint, um Lulu zu verhaften, fällt der Vorhang. Im folgenden

ZWISCHENSPIEL (»OSTINATO«)

wünschte Berg ausdrücklich einen Film abgespielt, der die von der Musik illustrierte Handlung zeigen sollte – und zwar sollte der Stummfilm formal ähnlich akribisch gearbeitet sein wie das musikalische Zwischenspiel, das sich zu einem Scheitelpunkt hin entwickelt und dann streng rückläufig im Krebsgang wieder »zurückgespult« wird.

Wie die musikalischen Motive und Themen sollten sich auch die optischen Signale des Films entsprechen: Verhaftung Lulus – Untersuchungshaft – Prozeß – Gefängnis (ein Jahr Haft) dann rückläufig: Ärzte-Konsilium – Isolierbarocke, Befreiung, wie es im folgenden Bild erzählt wird. Selbst Details wie Patronen – Phiolen, Ketten – Bandagen, Gefängniskleider – Spitalskittel sollten einander symmetrisch entsprechen.

Fünftes Bild: Lulu ist von der Gräfin Geschwitz auf abenteuerliche Weise aus dem Kerker befreit worden. Als Mörderin des Doktor Schön muß sie nun aber das Land verlassen. Denn der Schwindel – Gräfin Geschwitz hat mit Lulu, die an der Cholera erkrankte, im Lazarett die Rollen getauscht – fliegt auf. Schigolch, nachdem er mit List die umherschwirrenden Verehrer vom Gymnaisasten bis zum Athleten verscheuchen konnte besorgt die Schlafwagenbillette nach Paris. Alwa und Lulu nehmen ihre unterbrochene »Liebesszene« wieder auf.

Die Fortsetzung von Alwas »Rondo«, mündet in eine leidenschaftliche »Hymne« auf die Schönheit Lulus.

Die »Symphonischen Stücke«

  • 1. Rondo. Andante und Hymne
  • 2. Ostinato. Allegro
  • 3. Lied der Lulu. Comodo
  • 4. Variationen. Moderato
    • Grandioso – Grazioso – Funèbre – Affettuoso – Thema
  • 5. Adagio.
    • Sostento – Lento – Grave

Die von Berg zusammengestellten »Symphonischen Stücke aus der Oper Lulu«, irreführend meist »Lulu-Suite« genannt, 1934 von Erich Kleiber in Berlin uraufgeführt, beginnen mit diesem symphonischen »Rondo« des Alwa unter Eliminierung der Singstimmen. In der Suite folgen darauf das »Ostinato«-Zwischenspiel, das »Lied der Lulu« (mit Sopransolo) sowie das von Berg extra zu diesem Zweck vollendete und instrumentierte Zwischenspiel, das im Dritten Akt das Paris- mit dem London-Bild verbindet: »Variationen« über ein Lautenlied von Wedekind, die den skuzessiven Abstieg der jungen Frau zur Straßendirne nachzeichnen und von fröhlichem Überschwang in tiefe Tragik münden). Der letzte Satz der »symphonischen Stücke« ist identisch mit dem Schluß der Oper, wiederum unter Eliminierung der Singstimmen. Dieses große »Adagio« nimmt die Musik der Sonate des Dr. Schön wieder auf – Berg hat diese Passage der Oper für die Uraufführung der »Symphonischen Stücke« vorab orchestriert, ehe noch die gesamte Komposition vollendet war.

Die Instrumentation und einige Dialog-Passagen des Dritten Akts konnte Berg nicht mehr vollenden. Seine Witwe Helene, die zunächst noch versucht hatte, Komponisten wie Schönberg oder Winfried Zillig zu gewinnen, das Stück spielbar zu machen, verbot zuletzt die Einsicht in die Skizzenblätter. So kam »Lulu« als Torso zur Uraufführung. Nach dem zweiten Akt spielte man die von Berg vollendeten Passaten des Dritten Akts aus den »Symphonischen Stücken«, zunächst bei geschlossenem Vorhang die »Variationen«, zuletzt – mit pantomimischer Drastellung des Mords an Lulu durch Jack the Ripper – das »Adagio«. Von hinter der Szene hörte man Lulus Todesschrei, zu dem in dreifachem Forte ein Zwölftonakkord erklingt. Die abschließenden Worte der Gräfin Geschwitz, die in den »Symphonischen Stücken« fehlen, wurden bei szenischen Aufführungen in der Regel gesungen:

Lulu! – mein Engel! – Laß dich noch einmal sehen! – Ich bin dir nah! – Bleibe dir nah – in Ewigkeit!

Friedrich Cerhas »Herstellung«

Noch zu Lebzeiten Helene Bergs hat der Wiener Verlag des Komponisten, die Universal Edition, dem Komponisten Friedrich Cerha den Geheimauftrag erteilt, die Skizzen Bergs zum letzten Akt zu vervollständigen, wobei Cerha bekannte, es seien kompositorisch nur ganz wenige Passagen zu »erfinden« gewesen und die Instrumentation fertigzustellen. Er nannte seine Arbeit denn auch die »Herstellung« des Dritten Akts.

Cerha betonte, daß viele Teile der Musik – wie schon das krebsgängige »Ostinato« inmitten des zweiten Akts vermuten läßt – dank Bergs Dramaturgie in Anlehnungen, teils sogar wörtlichen Reprisen aus den vorangegangenen Akten bestanden.

Im fertiggestellten DRITTEN AKT begegnen wir musikalisch daher etlichen Entsprechungen: Die großen Ensemble-Szenen, die das Paris-Bild umrahmen, sind mit dem Ensemble im Garderoben-Bild des Ersten Akts verwandt, die »Choral-Variationen«, in denen der »Marquis« Lulu zu erpressen versucht, um sie als Nobelprostituierte nach Ägypten zu verkaufen, entsprechen der Musik des Prinzen aus dem Garderoben-Bild. (Die beiden Partien werden in der Regel auch vom selben Sänger interpretiert). Die Szene in der Londoner Dachkammer setzt Lulus Freier mit ihren Männern im ersten Teil der Oper gleich: Der bigotte Professor erscheint zu den Klängen des Medizinalrats (ebenfalls eine stumme Rolle), der Neger mordet Alwa, der Wache hält, zu den Klängen des Malers (und wird von demselben Tenor gesungen). Und Jack the Ripper wird von Dr. Schön dargestellt. Lulu stirbt unter seinem Messer zu den Klängen der »Sonate« («Adagio«).

Beziehungsvoll zitiert Berg zu Lulus Tod leise auch das Motiv der Marie aus dem »Wozzeck«.

Die von Friedrich Cerha vervollständigte »Lulu« kam im Februar 1979 unter der Leitung von Pierre Boulez, inszeniert von Patrice Chéreau in Paris zur Uraufführung. Teresa Stratas sang die Titelpartie. Von dieser Aufführung hat sich eine Videoaufzeichnung und eine technisch exzellente Tonaufnahme erhalten, die DG veröffentlicht hat.

Le baiser de la fée

Igor Strawinsky (1928)

AUFNAHMEN
Miah Thompson in Kenneth MacMillans Choreographi in London

Das Ballett, entstanden über Auftrag Ida Rubinsteins für die Choreographin Bronislava Nijinska, hat Igor Strawinsky, basierend auf einer Erzählung von Hans C. Andersen als Hommage an sein großes Vorbild Peter Iljitsch Tschaikowsky komponiert. Er griff dabei auf kurze, großteils wenig bekannte Stücke Tschaikowskys zurück, die er allerdings – im Gegensatz zu den barocken Vorlagen, die er für »Pulcinella« genutzt hatte – stark verfremdet hat. Vor allem hat er Tempi und musikalischen Charekter von Tschaikowskys Kompositionen verändert, oft in ihr Gegenteil verkehrt: So wurde aus einem »Scherzo humoresque« (op. 19/2) das langsame Lied, mit dem Szene III beginnt.

Bemerkenswert der Satz, den Strawinsky dieser Ballettmusik in seiner Autobiographie widmet:

Ich habe mich an einem neuen Kompositions- und Orchestrierungsstil versucht, der die Musik beim ersten Hören verständlich machen sollte.

Der Kuß der Fee
Szene I
Wiegenlied im Sturm
Eine Mutter kämpft sich durch einen wilden Sturm und versucht wiegen ihr Kind zu beruhigen, das sie schützend im Arm hält. Die dienstbaren Geister der Fee verfolgen das Paar, entreißen der Frau das Kind, das, von der Fee geküßt, allein bleibt. Bauern finden es und suchen nach der Mutter. Doch vergeblich. Sie nehmen das Findelkind mit sich.

Szene II
Bäuerliches Fest
Ein junger Mann und seine Braut tanzen. Als der Mann zuletzt allein bleibt, erscheint ihm dei Fee in Gestalt einer Zigeunerin, die ihm seine Zukunft weissagt. Tanzend zieht sie ihn immer mehr in ihre Gewalt und verheißt ihm großes Glück. Der junge Mann bittet sie, ihn wieder seiner Braut zuzuführen.

Szene III
In der Mühle
In der Mühle findet der Mann seine Braut, die mit ihren Freundinnen spielt. Nach einem gemeinsamen Tanz verschwindet das Mädchen, um ihr Hochzeitskleid anzulegen. Der junge Mann bleibt allein zurück.

Szene IV
In den Brautschleier gehüllt, erscheint jedoch die Fee. Der junge Mann ist fasziniert und nimmt sie leidenschaftlich in seine Arme. Erst als die Fee den Schleier abwirft, erkennt er seinen Irrtum. Doch hat er gegen die Zauberkräfte keine Macht: Die Fee entführt ihn in ein Land jenseits von Zeit und Raum. Während die Braut vergebens nach ihrem Geliebten sucht, küßt die Fee in den Gefilden der Seligen, umschwebt vom Reigen der Geister, kihr Opfer zu den Klängen eines Wiegenliedes noch einmal: Der junge Mann ist der Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky, die Fee seine mephistophelische Muse.

Balanchines Eigenmächtigkeit

Strawinsky verstand sein Ballett als Hommage an den verehrten Vorgänger – doch die Apotheose mit dem verhängnisvollen »Musenkuß« war nur anläßlich der Pariser Uraufführung am 27. November 1928 in der Choreographie der Nijinska zu sehen. Georges Balanchine hat sie mißfallen. Er strich für seine Version des Werks das Finale und ließ es mit einem Bauerntanz enden, eine Eigenmächtigkeit, die auch den harmonischen Plan von Strawinskys Partitur mißachtet. Das Ballett schließt demnach in der Praxis nicht in der Grundtonart des Werks …

1960 hat auch Kenneth MacMillan eine eigene Version des Werks für seine Londoner Compagnie erarbeitet.

Der »Kuß der Fee« gehört nicht unbedingt zu den Favoriten großer Dirigenten. In seiner Mailänder Zeit hat Riccardo Muti sich der Partitur angenommen und eine höchst wohlklingende Version mit dem Orchester der Scala eingepielt. Sie enthält die gesamte Ballettmusik.

Unverzichtbar ist die Erstaufnahme der »Divertimento« genannten Suite, die einen Großteil der Musik wiedergibt – nur einige wenige Szenen hat Strawinsky für den Konzertgebrauch gestrichen. Igor Markevich stand am Pult des Pariser Rundfunkorchesters – Seite 2 der Langspielplatte enthielt eine nicht minder fein durchgearbeitete, spritzige Version von »Puclinella« – in diesem Fall nicht die Suite, sondern die erste Gesamtaufnahme des Balletts. Eine exzellente Platte, auf diversen CD-Umschnitten und bei Streamingdiensten abrufbar.

»Petruschka«

AUFNAHMEN
Alexandre Benois Bühnenbild-Entwurf für das zweite Tableau

Petruschka

Ballett von Igor Strawinsky.

Die zweite Partitur, die Igor Strawinsky für den kongenialen Impresario der Balletts russes, Serge Diaghilev, komponiert hat. Die Arbeit an diesem Werk drängte sich dank einer spontanten Eingebung mitten in die Vorarbeiten am spektakulären Projekt zu »Sacre du printemps«. Der Komponist beschreibt den Moment der Inspiration in seinen Memoiren anschaulich.

Ein »szenisches« Klavierkonzert

Die Vorstellung eines Pianisten hatte von ihm Besitz ergriffen, der mit seinen Soli gegen ein widerspenstiges Orchester ankämpft. Die Grundidee des »Petruschka« war ein szenisch inspirierter Gedanke zu einem Klavierkonzert. Dem Klavier wird denn auch in der Ballettmusik solistische Funktion zukommen.

Zwischen »Feuervogel« und »Sacre«

Wenn Strawinsky später selbst von seiner erstaunlichen musikalischen Entwicklung zwischen den schillernden, im grunde aber von der Spätromantik und dem Impressionismus geprägten Klängen des »Feuervogel« zur radikalen Tonsprache seines »Sacre du printemps« berichtet, dann wäre zu sagen, daß die Radikalisierung im dazwischen liegenden »Petruschka« bereits weit fortgeschritten scheint. Die Harmonik dieser Ballettmusik beruht nicht zuletzt auf der dissonierenden Überlagerung zweier weit voneinander entfernten Tonarten – C und Fis – und spitzt die repetitiven, forschen Rhythmen des wilden Tanzes des Katschei aus dem »Feuervogel« weiter zu.

Volksmusik und Mosaik-Technik

Die melodischen Grundlagen findet Strawinsky – wie etwa schon im Finale des »Feuervogel« mehr und mehr in russischen Volksliedern. Der »russische Tanz« am Ende des ersten Bilds von »Petruschka« weist schon auf die noch weiter abstrahierende Kunst des »Sacre« voraus. In der Partitur des »Petruschka« finden sich, ganz anders als im »Feuervogel«, kaum noch Assoziationen zum rauschhaft romantischen Orchesterklang des Lehrer Nikolai Rimskij-Korsakow. Die thematische Arbeit nähert sich zunehmend einer originellen Mosaiktechnik an.

Diese ermöglicht über die Volksszenen in den Außen-Bildern des »Petruschka« eine kontinuierliche Entwicklung, die von der Aneinanderreihung einzelner Nummern abrückt. Aus dem »Feuervogel« konnte Strawinsky noch mühelos einzelne Szenen zu Suiten für den Konzertgebrauch aneinanderreihen. In »Petruschka« erinnert an diese Kompositionsweise nur noch das Finale des ersten Tableaus, der »russische Tanz«. Der auch den Kopfsatz der »Drei Stücke aus Petruschka« bildet, die der Komponist für Klavier bearbeitet hat.

Die beseelte Puppe

Für die Konzertversion des Balletts ließ Strawinsky dann das dritte Bild fort und strich den still verebbenden Schluß des Balletts. Fulminant gelang dem Komponisten die Trennung der Sphären der handelnden Personen: Ballerina und Mohr agieren wirklich wie seelenlose Puppen, Petruschka jedoch ist eine zwar surrealistische, aber mitleiderregende Mixtur aus Marionette und Mensch. So tritt die Dramaturgie aus der Märchenwelt des »Feuervogel« in anrührende, wenn auch mit modernen Collage-Mitteln gebrochene Psychologosierung.

Sein und Schein

Das Mit- und Gegeneinander verschiedener Bewußtseinsebenen wird auch harmonisch zum Ereignis – im berühmten »Petruschka«-Akkord, der C- und Fis-Dur überlagert, in der Parallelführung von mechanischer Drehorgel-Musik und der sie umgebenden »Realität«, aber auch im melodischen und rhythmischen Kontrapunkt verschieder Themen und Metren, die sowohl im ersten als auch im dritten Tableau zu kühnen Überlagerungen führen. Strawinskys Genialität entwickelt musikalische Modernismen stets aus szenisch-dramaturgischen Überlegungen heraus – so bleiben sie für das Publikum erklärlich und daher im tiefen Sinne »verständlich«.

Premiere mit Superstars

Das erkannten auch die zunächst skeptischen Mitwirkenden der Uraufführung. Ausstatter Alexandre Benois geriet bei der ersten gemeinsamen Sitzung des Leading-Tems über die Musik, die Strawisnkys am Klavier vorstellte, ins Schwärmen:

Vor allem der russische Tanz: Das ist diabolische Rücksichtslosigkeit, mit seltsamen Abweichungen in die Region der Zärtlichkeit …

Nijinski als Petruschka

Die Uraufführung am 13. Juni 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet mit Tamara Karsawina als Ballerina und dem einzigartigen Waslaw Nijinski in der Titelpartie wird zu einem Triumph – Strawinsky, mit dem »Feuervogel« im Jahr zuvor ins international Rampenlicht gerückt, ist mit diesem Abend ein gemachter Mann, an dem die Musikwelt nicht mehr vorbeikommt. Die musikalische Leitung dieser Premiere der Ballets russes liegt in den Händen des jungen Franzosen Pierre Monteux — er wird zwei Jahre später die allseits als unspielbar bezeichnete »Sacre du printimps« gegen die toebenden Proteste des Publikums zu einem grlücklichen Ende führen — und damit seinerseits zu einer Dirigenten-Legende werden.

Tableau I.

Sankt Petersburg. Admiralitätsplatz, 1830er-Jahre.

An einem sonnigen Wintertag feiern Scharen von Menschen Karneval. Wenn der Vorhang sich hebt herrscht buntes Volkstreiben, einfache Leute, distinguiertes Bürgertum, vornehme Damen und Herrn, Betrunkene, die sich gegenseitig stützen. Kinder drängen sich um die Bühne des Puppenspielers. Ein Musikant dreht seinen Leierkasten, zu dessen Musik eine Tänzerin sich anmutig bewegt. Doch bald bekommt sie Konkurrenz: Von der gegenüberliegenden Seite des Platzes nähert sich ein Mann mit einer Spieluhr, auch er von Tänzern begleitet. Ungeachtet des akustischen Verwirrspiels, hebt sich der Vorhang des Marionettentheaters: Drei leblose Puppen erscheinen Petruschka, die Ballerina und ein Schwarzer. Mit Flötenklngen erweckt der Puppenspieler die Gestalten zum Leben. Das allgemeinen Erstaunen ist groß, als die drei Figuren mit einem Mal aus dem Theater heraustreten und sich unter Volk mischen. Ein zündender Tanz aller beendet die Szene.

Tableau II.

Petruschkas Garderobe.

Schwarze Wände, auf die Sterne und eine Mondsichel gemalt sind. Die Flügeltüren zieren kleine Teufelchen auf Goldgrund. An einer Wand das Portrait des Puppenspielers.

Petruschka leidet. Er ist sich seiner grotesken Außenseiter-Position bewußt und verbittert, von seinem finsteren Herrn abhängig, eine freudlose Existenz führen zu müssen. Der Gedanke an die hübsche Ballerina tröstet ihn. Doch als sie zu Besuch erscheint, vergrämt er die Angebetete durch seine unbeholfene, ungehobelte Art. Sie flieht vor ihm. Petruschka verflucht den Puppenspieler, der ihm offenbar zu wenig Charme und Grazie eingehaucht hat. Doch seine Attacke auf das Portrait reißt lediglich ein Loch in die Wand des Puppentheaters.

Tableau III.

Die Garderobe des Mohren.

Grüne Palmen zieren die mit Blüten bunt gemusterte Tapete. Eine kleine Tür führt in die Garderobe der Ballerina. Der Mohr hat ein prächtiges exotisches Kostüm angelegt und spielt, auf seinem Diwan liegend, mit einer riesigen Kokosnuss, die er wie einen fetisch anbetet. Offenkundig ist diese Figur grobschlächtig und nicht gerade geistsprühend. Aber die Ballerina ist fasziniert. Doch Petruschkas plötzliches Erscheinen verhindert die Entfaltung der Liebesszene, die sich angahnt. Der Mohr wirft den Konkurrenten aus dem Zimmer.

Tableau IV.

Währenddessen ist das Karnevalstreiben in vollem Gang und treibt mit einem Tanz der Ammen und dem Auftritt eines Tanzbären, den ein Bauer auf seiner Flöte begleitet, dem Höhepunkt zu. Eine Gruppe von Kutschern und Krankenschwestern tritt auf, ehe sich eine wilde Schar von Maskierten – Teufel, Ziege und Schwein – ins wirbelnde Geschehen mischt. In diesem Moment stürmt Petruschka auf den Platz, verfolgt vom wütenden Mohren, den die Ballerina vergeblich zurückzuhalten versucht. Petruschka sinkt unter den Schlägen des Krummsäbels seines Nebenbuhlers verwundet zusammen. Er stirbt, als es leise zu schneien beginnt. Der Puppenspieler beruhigt die entsetze Menschenmenge und versichert, es handle sich lediglich um Marionetten, die ein lebensechtes Theaterstück realisiert hätten. Die Menge zerstreut sich. Die Nacht bricht herein. Während der Puppenspieler versucht, die Puppe Petruschkas ins Theater zu zuerren, erscheint ihm deren Geist gespenstisch und winkt ihm vom Theaterdach höhnisch zu.

Neben der fulminanten Stereo-Aufnahme unter der Leitung des Uraufführungs-Dirigenten Pierre Monteux gilt auch die Einspielung des Strawinsky-Spezialisten Ernest Ansermet als Schallplatten-Legende.

Artur Bodanzky

1877 – 1939

Artur Bodanzky stammte aus Wien, studierte in seiner Heimatstadt und spielte eine Zeitlang in Wiener Orchestern, vor allem war er Geiger im Hofopernorchester. Er hatte aber auch eine gründliche Kapellmeisterausbildung absolviert und wurde in der Ära Gustav Mahlers zu dessen Assistenten. 1904 machte ihn das Theater an der Wien in der Nachfolge Alexander von Zemlinskys zum ersten Kapellmeister, der sein Debüt am Haus mit einer Premiere von Johann Strauß‘ Spitzentuch der Königin feierte.

DIE ERSTE PARISER »FLEDERMAUS«

Für den internationalen Ruf des jungen Dirigenten aus Wien war nicht zuletzt die mit Spannung erwartete Erstaufführung von Johann Strauß‘ Fledermaus in Paris prägend. Unter den Augen von Strauß‘ Witwe studierte Bodanzky das Werk ein und das in Sachen Operette nicht nur kritische sondern auch lokalpatriotische Pariser Publikum jubelte. Ein Rezensent berichtete für das Neue Wiener Journal im April 1904 über die bevorstehende wahre Pariser Sensation:

Wenn die Fledermaus in Paris den großen Erfolg … davonträgt, so wird das in erster Reihe das Verdienst Bodankzy’s sein. Dieser junge Künstler hat mit seinem Taktstock den Musikern und den Darstellern den wienerischen Geist der Strauß’schen Musik eingeprägt, dem Orchester und der Künstlerischaft die Schönheit des Werkes zum Bewußtsein gebracht.

Nicht zuletzt als Wagner-Interpret machte sich Artur Bodanzky sich aber europaweit rasch einen Namen, bekleidete führende Positionen zunächst in Prag, dann in Mannheim. Sein Prager Debütkonzert, 1907, (nach einigen hochgelobten Opernvorstellungen) galt Beethovens Eroica über die der Rezensent der Montagsrevue aus Böhme schwärmte über

das liebe- und verständnisvolle Eindringen in die Details, ohne den Zug ins Große, den Blick auf das Ganze zu verlieren, die suggestive Gewalt über den Orchesterkörper, dessen Glieder jeder für sich das Beste und zusammen ein wohlabgetöntes Ganzes zu geben aufgerüttelt wurden, die subjektive Durchdringung des Werkes ohne Verlezung seiner Substanz.

Weniger freundlich nahm man bei dieser Gelegenheit übrigens die Novität auf, die Bodanzky aus Wien mitgebracht hatte und die sein Interesse für Neues spiegelte: Alexander von Zemlinskys Seejungfrau – und zwar noch in ihrer dreisätzigen, später verlorenen und erst Jahrzehnte danach wieder rekonstruierten Fassung.

WECHSEL IN DIE USA

Als Wagner-Kenner holte man Bodanzky 1914 für die Londoner Erstaufführung des Parsifal an die Covent Garden Oper. Im englischsprachigen Raum war Bodanzky in der Folge nicht mehr aus dem Opernleben wegzudenken. Die Metropolitan Opera rief und machte ihn zum führenden Maestro für das deutsche Fach.

Eine Rückkehr nach Europa kam für ihn ab dem Kriegseintritt der USA nicht mehr in Frage. In Österreich berichtete die Musikzeitung 1917 mit einem unverblümten Hinweis auf die mögliche Wiener Karriere des Dirigenten aus Amerika:

Der Patriotismus ergriff gestern nachts das Metropolitan Opera House und bewegte es bis in die vornehmen ränge. Schon bevor Herr Artur Bodanzky zu den einleitenden Takten des Sternenbanners einsetzte, schien das Publikum, das am Montag stets zahlreich und fashionabel ist, zu fühlen, daß irgendetwas Besonderes im Zuge war. Es wurde offenbar als Herr Bodanzky ins Orchester trat und ohne sich zu setzen, seinen Stab hob. Die Klänge der amerikanischen Nationalhymne ertönten. Von allen Seiten kam Gesang. Die Inhaber der Parterresitze sangen wie die Besucher der obersten Galerie. Herr Bodanzky, der Ungar ist, und sein zum großen Teil deutsches Orchester spielten machtvoll. – und Herr Bodanzky galt bisher als einer der fähigstn Anwärter auf den Posten eines musikalischen Chefs der Wiener Hofoper. Das wird man sich wohl aus dem Kopf schlagen müssen.

Es handelte sich um die Aufführung eines Werks namens Canterbury Pilgrims von Reginald De Koven. An diesem Tag hatte der amerikanische Kongreß den Eintritt der USA in den Krieg beschlossen. Die Entscheidung wurde vor der Vorstellung verkündet. Ein Bericht, der 1921 erschien, bewertet Bodanzkys »Engagement« in dieser Causa ein wenig anders als der Berichterstatter von 1917. Da heißt es

Eine panikartige Erregung dudrchzitterte den Saal. Das Publikum erhob sich. Das Orchester, dessen Leitung Bodanzky wohl oder übel beibehalten mußte, intonierte die Nationalhymne.

New York wurde jedenfalls zu Bodanzkys zweiter Heimat. Er dirigiert dort auch das philharmonische Orchester, vor allem aber unzählige Abende an der Met, wobei Wagner nach dem Kriegseintritt für einige Zeit ausgespart wurde.

Anders als sein Mentor Mahler erwies sich Bodanzky als Praktiker, der dem amerikanischen Publikum in Sachen Wagner-Pflege insofern entgegenkam, als er kräftige Kürzungen in den Partituren gestattete. Sogar in die Partituren von Beethovens Fidelio und Webers Freischütz griff er ein, um sie für ein Opernhaus, in dem nach Pariser Vorbild gesprochene Dialoge verpönt waren spielbar zu machen: In beiden Fällen komponierte Bodanzky Rezitative für die Vorstellungen an der Metropolitan Opera anfang des XX. Jahrhunderts.

Daß ein Kapellmeister auch arrangierend tätig werden sollte, war für einen Mann seiner Generation selbstverständlich. Bodanzky kümmerte sich bereits in seinen europäischen Jahren auch um Textfassungen der von ihm dirigierten Opern, etwa als er als führender Dirigent in Mannheim 1914 nach vielen Jahren eine Neuproduktion von Mozarts Don Giovanni herausbrachte, für die er eine neue deutsche Textfassung erstellte.

Die Sicherheit, mit der Bodanzky musikalisch über die Werke gebot, die ihm anvertraut waren, war schon zu seinen Lebzeiten legendär. Er dirigierte beispielweise an jenem Abend, an dem der dann meistbeschäftigte und bedeutendste Wagner-Tenor an der Met debütierte: Lauritz Melchiors New Yorker Einstand mit Tannhäuser fand nicht nur ohne Orchesterprobe, sondern ohne jede Verständigung zwischen Dirigent und Sänger statt. Angesichts der folgenen märchenhaften Met-Karriere Melchiors scheint das nicht geschadet zu haben . . .

Von Bodanzkys späten New Yorker Aufführungen – nicht zuletzt solchen, in denen auch Lauritz Melchior brillierte – sind etliche Livemitschnitte erhalten. Im Studio hat der Dirigent vor allem Ouvertüre und kleinere Orchesterstücke aufgenommen, die nicht repräsentativ für seine Kunst sind. Eine Aufführung einer Wagner-Oper hört man aber trotz mangelhafter technischer Überlieferung mit Hochspannung von Anfang bis Schluß. Ein Abglanz vom Feuergeist Gustav Mahlers scheint da noch bewahrt. Über die Aufführung des Siegfried mit Lauritz Melchior im Jahr 1937 (als Livemitschnitt auf dem Label Pristine greifbar) schrieb der führende New Yorker Kritiker Olin Downes in der New York Times

Mr. Bodanzky’s conducting of ,,Siegfried“ is not the interpretation of one but of every part of the opera. It is not to be taken for granted, for it represents the very essence of the score. It was a performance which in accent, color and sense of form established the mood and significance of the occasion. The fact was appreciated by the public, which gave the conductor special applause.

Maurice Ravel

1875 – 1937

Einen »schweizerischen Uhrmacher« hat ihn Igor Strawinsky genannt. Und tatsächlich haben die Werke Maurice Ravels etwas von musikalischem Fein-Handwerk, sind bis in kleinste Detail formal ausgefeilt und mit ebensolcher Liebe instrumentiert. Selbst aus kammermusikalischen Besetzungen holt Ravel undenkliche Farbkombinationen – und sein Orchester klingt reicher, differenzierter als das jedes anderen Komponisten jener Zeit; selbst Instrumentations-Genies wie Richard Strauss oder Erich W. Korngold inkludiert!

Die Klavierwerke

Das Streichquartett

Das Klaviertrio

Ma mere l’oye

Schönberg – Jacobsen

GURRELIEDER

ZUM WERK

TEIL I

Waldemar:
Nun dämpft die Dämm’rung
jeden Ton von Meer und Land,
Die fliegenden Wolken lagerten sich
wohlig am Himmelsrand.
Lautloser Friede schloß dem Forst
die luftigen Pforten zu,
und des Meeres klare Wogen
wiegten sich selber zur Ruh.
Im Westen wirft die Sonne
von sich die Purpurtracht
und träumt im Flutenbette
des nächsten Tages Pracht.
Nun regt sich nicht das kleinste Laub
in des Waldes prangendem Haus;
nun tönt auch nicht der leiseste Klang:
Ruh‘ aus, mein Sinn, ruh‘ aus!
Und jede Macht ist versunken
in der eignen Träume Schoß,
und es treibt mich zu mir selbst zurück,
stillfriedlich, sorgenlos.

Tove:
Oh, wenn des Mondes Strahlen leise gleiten,
und Friede sich und Ruh durchs All verbreiten,
nicht Wasser dünkt mich dann des Meeres Raum,
und jener Wald scheint nicht Gebüsch und Baum.
Das sind nicht Wolken, die den Himmel schmücken,
und Tal und Hügel nicht der Erde Rücken,
und Form und Farbenspiel, nur eitle Schäume,
und alles Abglanz nur der Gottesträume.

Waldemar:
Roß! Mein Roß! Was schleichst du so träg!
Nein, ich seh’s, es flieht der Weg
hurtig unter der Hufe Tritten.
Aber noch schneller mußt du eilen,
bist noch in des Waldes Mitten,
und ich wähnte, ohn‘ Verweilen
sprengt‘ ich gleich in Gurre ein.
Nun weicht der Wald, schon seh‘ ich dort die Burg,
die Tove mir umschließt, indes im Rücken uns der Forst
zu finstrem Wall zusammenfließt;
aber noch weiter jage du zu!
Sieh! Des Waldes Schatten dehnen
über Flur sich weit und Moor!
Eh‘ sie Gurres Grund erreichen,
muß ich stehn vor Toves Tor.
Eh‘ der Laut, der jetzo klinget,
ruht, um nimmermehr zu tönen,
muß dein flinker Hufschlag, Renner,
über Gurres Brücke dröhnen;
eh‘ das welke Blatt – dort schwebt es -,
mag herab zum Bache fallen,
muß in Gurres Hof dein Wiehern
fröhlich widerhallen!
Der Schatten dehnt sich, der Ton verklingt,
nun falle, Blatt, magst untergehn:
Volmer hat Tove gesehn!

Tove:
Sterne jubeln, das Meer, es leuchtet,
preßt an die Küste sein pochendes Herz,
Blätter, sie murmeln, es zittert ihr Tauschmuck,
Seewind umfängt mich in mutigem Scherz,
Wetterhahn singt, und die Turmzinnern nicken,
Burschen stolzieren mit flammenden Blicken,
wogende Brust voll üppigen Lebens
fesseln die blühenden Dirnen vergebens,
Rosen, sie mühn sich, zu spähn in die Ferne,
Fackeln, sie lodern und leuchten so gerne,
Wald erschließt seinen Bann zur Stell‘,
horch, in der Stadt nun Hundegebel!
Und die steigenden Wogen der Treppe
Tragen zum Hafen den fürstlichen Held,
bis er auf alleroberster Staffel
mir in die offenen Arme fällt.

Waldemar
So tanzen die Engel vor Gottes Thron nicht,
wie die Welt nun tanzt vor mir.
So lieblich klingt ihrer Harfen Ton nicht,
wie Waldemars Seele dir.
Aber stolzer auch saß neben Gott nicht Christ
nach dem harten Erlösungsstreite,
als Waldemar stolz nun und königlich ist
an Toveliles Seite.
Nicht sehnlicher möchten die Seelen gewinnen
den Weg zu der Seligen Bund,
als ich deinen Kuß, da ich Gurres Zinnen
sah leuchten vom Öresund.
Und ich tausch‘ auch nicht ihren Mauerwall
und den Schatz, den treu sie bewahren,
für Himmelreichs Glanz und betäubenden Schall
und alle der heiligen Schaaren!

Tove:
Nun sag ich dir zum ersten Mal:
„König Volmer, ich liebe dich!“
Nun küss‘ ich dich zum erstenmal,
und schlinge den Arm um dich.
Und sprichst du, ich hättes schon früher gesagt
und je meinen Kuß dir geschenkt,
so sprech‘ ich: „Der König ist ein Narr,
der flüchtigen Tandes gedenkt.“
Und sagst du: „Wohl bin ich solch ein Narr,“
so sprech ich: „Der König hat recht;“
doch sagst du: „Nein, ich bin es nicht,“
so sprech ich: „Der König ist schlecht.“
Denn all meine Rosen küßt‘ ich zu Tod,
dieweil ich deiner gedacht.

Waldemar:
Es ist Mitternachtszeit,
und unsel’ge Geschlechter
stehn auf aus vergess’nen, eingesunknen Gräbern,
und sie blicken mit Sehnsucht
nach den Kerzen der Burg
und der Hütte Licht.
Und der Wind schüttelt spottend
nieder auf sie Harfenschlag
und Becherklang und Liebeslieder.
Und sie schwinden und seufzen:
„Unsre Zeit ist um.“
Mein Haupt wiegt sich auf lebenden Wogen,
meine Hand vernimmt eines Herzens Schlag,
lebenschwellend strömt auf mich nieder
glühender Küsse Purpurregen,
und meine Lippe jubelt:
„Jetzt ist’s meine Zeit!“
Aber die Zeit flieht,
Und umgehn werd‘ ich
zur Mitternachtsstunde
dereinst als tot,
werd‘ eng um mich das Leichenlaken ziehn
wider die kalten Winde
und weiter mich schleichen im späten Mondlicht
und schmerzgebunden
mit schwerem Grabkreuz
deinen lieben Namen
in die Erde ritzen
und sinken und seufzen:
„Uns’re Zeit ist um!“

Tove:
Du sendest mir einen Liebesblick
und senkst das Auge,
doch das Blick preßt deine Hand in meine,
und der Druck erstirbt;
aber als liebeweckenden Kuß
legst du meinen Händedruck mir auf die Lippen
und du kannst noch seufzen um des Todes Willen,
wenn ein Blick auflodern kann
wie ein flammender Kuß?
Die leuchtenden Sterne am Himmel droben
bleichen wohl, wenn’s graut,
doch lodern sie neu jede Mitternachtzeit
in ewiger Pracht.
So kurz ist der Tod,
wie ruhiger Schlummer
von Dämm’rung zu Dämmrung.
Und wenn du erwachst,
bei dir auf dem lager
in neuer Schönheit
siehst du strahlen
die junge Braut.
So laß uns die goldene
Schale leeren
ihm, dem mächtig verschönenden Tod.
Denn wir gehn zu Grab
wie ein Lächeln,
ersterbend im seligen Kuß.

Waldemar:
Du wunderliche Tove!
So reich durch dich nun bin ich,
daß nicht einmal mehr ein Wunsch mir eigen;
so leicht meine Brust,
mein Denken so klar,
ein wacher Frieden über meiner Seele.
Es ist so still in mir,
so seltsam stille.
Auf der Lippe weilt brückeschlagend das Wort,
doch sinkt es wieder zur Ruh‘.
Denn mir ist’s, als schlüg‘ in meiner Brust
deines Herzens Schlag,
und als höbe mein Atemschlag,
Tove, deinen Busen.
Und uns’re Gedanken seh ich
entstehn und zusammengleiten
wie Wolken, die sich begegnen,
und vereint wiegen sie sich in wechselnden Formen.
Und meine Seele ist still,
ich seh in dein Aug und schweige,
du wunderliche Tove.


Stimme der Waldtaube:
Tauben von Gurre! Sorge quält mich,
vom Weg über die Insel her!
Kommet! Lauschet!
Tot ist Tove! Nacht auf ihrem Auge,
das der Tag des Königs war!
Still ist ihr Herz,
doch des Königs Herz schlägt wild,
tot und doch wild!
Seltsam gleichend einem Boot auf der Woge,
wenn der, zu dess‘ Empfang die Planken huldigend sich gekrümmt,
des Schiffes Steurer tot liegt, verstrickt in der Tiefe Tang.
Keiner bringt ihnen Botschaft,
unwegsam der Weg.
Wie zwei Ströme waren ihre Gedanken,
Ströme gleitend Seit‘ an Seite.
Wo strömen nun Toves Gedanken?
Die des Königs winden sich seltsam dahin,
suchen nach denen Toves,
finden sie nicht.
Weit flog ich, Klage sucht‘ ich, fand gar viel!
Den Sarg sah ich auf Königs Schultern,
Henning stürzt‘ ihn;
finster war die Nacht, eine einzige Fackel
brannte am Weg;
die Königin hielt sie, hoch auf dem Söller,
rachebegierigen Sinns.
Tränen, die sie nicht weinen wollte,
funkelten im Auge.
Weit flog ich, Klage sucht‘ ich, fand gar viel!
Den König sah ich, mit dem Sarge fuhr er, im Bauernwams.
Sein Streitroß,
das oft zum Sieg ihn getragen,
zog den Sarg.
Wild starrte des Königs Auge,
suchte nach einem Blick,
seltsam lauschte des Königs Herz
nach einem Wort.
Henning sprach zum König,
aber noch immer suchte er Wort und Blick.
Der König öffnet Toves Sarg,
starrt und lauscht mit bebenden Lippen,
Tove ist stumm!
Weit flog ich, Klage sucht‘ ich, fand gar viel!
Wollt‘ ein Mönch am Seile ziehn,
Abendsegen läuten;
doch er sah den Wagenlenker
und vernahm die Trauerbotschaft:
Sonne sank, indes die Glocke
Grabgeläute tönte.
Weit flog ich, Klage sucht‘ ich
und den Tod!
Helwigs Falke war’s, der grausam
Gurres Taube zerriß.


TEIL II

Waldemar:
Herrgott, weißt du, was du tatest,
als klein Tove mir verstarb?
Triebst mich aus der letzten Freistatt,
die ich meinem Glück erwarb!
Herr, du solltest wohl erröten:
Bettlers einz’ges Lamm zu töten!
Herrgott, ich bin auch ein Herrscher,
und es ist mein Herrscherglauben:
Meinem Untertanen darf ich nie
die letzte Leuchte rauben.
Falsche Wege schlägst du ein:
Das heißt wohl Tyrann, nicht Herrscher sein!
Herrgott, deine Engelscharen
singen stets nur deinen Preis,
doch dir wäre mehr vonnöten
einer, der zu tadeln weiß.
Und wer mag solches wagen?
Laß mich, Herr, die Kappe deines Hofnarrn tragen!


TEIL III

DIE WILDE JAGD

Waldemar:
Erwacht, König Waldemars
Mannen wert!
Schnallt an die Lende
das rostige Schwert,
holt aus der Kirche
verstaubte Schilde,
gräulich bemalt mit wüstem Gebilde.
Weckt eurer Rosse modernde Leichen,
schmückt sie mit Gold,
und spornt ihre Weichen:
Nach Gurrestadt seid ihr entboten,
heute ist Ausfahrt der Toten!

Bauer:
Deckel des Sarges
klappert und klappt,
Schwer kommt’s her
durch die Nacht getrabt.
Rasen nieder vom Hügel rollt,
über den Grüften
klingt’s hell wie Gold!
Klirren und Rasseln
durch’s Rüsthaus geht,
Werfen und Rücken mit altem Gerät,
Steinegepolter am Kirchhofrain,
Sperber sausen
vom Turm und schrein,
auf und zu fliegt’s Kirchentor!

Waldemars Mannen:
Holla!

Bauer:
Da fährt’s vorbei!
Rasch die Decke übers Ohr!
Ich schlage drei heilige
Kreuze geschwind
für Leut‘ und Haus,
für Roß und Rind;
dreimal nenn ich Christi Namen,
so bleibt bewahrt der Felder Samen.
Die Glieder noch bekreuz ich klug,
wo der Herr seine heiligen
Wunden trug,
so bin ich geschützt
vor der nächtlichen Mahr,
vor Elfenschuß und Trolls Gefahr.
Zuletzt vor die Tür
noch Stahl und Stein,
so kann mir nichts Böses
zur Tür herein.

Waldemars Mannen:
Gegrüßt, o König, an Gurre-Seestrand!
Nun jagen wir über das Inselland!
Holla!
Vom stranglosen Bogen Pfeile zu senden,
mit hohlen Augen und Knochenhänden,
zu treffen des Hirsches Schattengebild,
daß Wiesentau aus der Wunde quillt.
Holla! Der Walstatt Raben Geleit uns gaben,
über Buchenkronen die Rosse traben,
Holla!
So jagen wir nach gemeiner Sag‘
eine jede Nacht bis zum jüngsten Tag.
Holla! Hussa Hund! Hussa Pferd!
Nur kurze Zeit das Jagen währt!
Hier ist das Schloß, wie einst vor Zeiten!
Holla!
Lokes Hafer gebt den Mähren,
wir wollen vom alten Ruhme zehren.

Waldemar:
Mit Toves Stimme flüstert der Wald,
mit Toves Augen schaut der See,
mit Toves Lächeln leuchten die Sterne,
die Wolke schwillt wie des Busens Schnee.
Es jagen die Sinne, sie zu fassen,
Gedanken kämpfennach ihrem Bilde.
Aber Tove ist hier und Tove ist da,
Tove ist fern und Tove ist nah.
Tove, bist du’s, mit Zaubermacht
gefesselt an Sees- und Waldespracht?
Das tote Herz, es schwillt und dehnt sich,
Tove, Tove,
Waldemar sehnt sich nach dir!

Klaus-Narr:
„Ein seltsamer Vogel ist so’n Aal,
im Wasser lebt er meist,
Kommt doch bei Mondschein
dann und wann
ans Uferland gereist.“
Das sang ich oft
meines Herren Gästen,
nun aber paßt’s auf mich selber
am besten.
Ich halte jetzt kein Haus
und lebe äußerst schlicht
und lud auch niemand ein
und praßt‘ und lärmte nicht,
und dennoch zehrt an mir
manch unverschämter Wicht,
drum kann ich auch nichts bieten,
ob ich will oder nicht,
doch – dem schenk ich
meine nächtliche Ruh,
der mir den Grund kann weisen,
warum ich jede Mitternacht
den Tümpel muß umkreisen.
Daß Palle Glob und Erik Paa
es auch tun, das versteh ich so:
Sie gehörten nie zu den Frommen;
jetzt würfeln sie,
wiewohl zu Pferd,
um den kühlsten Ort,
weit weg vom Herd,
wenn sie zur Hölle kommen.
Und der König,
der von Sinnen stets,
sobald die Eulen klagen,
und stets nach einem Mädchen ruft,
das tot seit Jahr und Tagen,
auch dieser hat’s verdient
und muß von Rechtes wegen jagen.
Denn er war immer höchst brutal,
und Vorsicht galt es allermal
und off’nes Auge für Gefahr,
da er ja selber Hofnarr war
bei jener großen Herrschaft
überm Monde.
Ich, der glaubte, daß im Grabe
man vollkomm’ne Ruhe habe,
daß der Geist beim Staube bleibe,
friedlich dort sein Wesen treibe,
still sich sammle für das große Hoffest,
wo, wir Bruder Knut sagt,
ertönen die Posaunen,
wo wir Guten wohlgemut
Sünder speisen wie Kapaunen –
ach, daß ich im Ritte rase,
gegen den Schwanz gedreht die Nase,
sterbensmüd im wilden Lauf,
wär’s zu spät nicht,
ich hinge mich auf.
Doch o wie süß
soll’s schmecken zuletzt,
werd ich dann doch in den Himmel versetzt!
Zwar ist mein Sündenregister groß,
allein vom meisten schwatz ich mich los!
Wer gab der nackten Wahrheit Kleider?
Wer war dafür geprügelt leider?
Ja, wenn es noch Gerechtigkeit gibt,
Dann muß ich eingehn im Himmels Gnaden…
Na, und dann mag Gott sich selber gnaden.

Waldemar:
Du strenger Richter droben,
du lachst meiner Schmerzen,
doch dereinst,
beim Auferstehn des Gebeins
nimm es dir wohl zu Herzen;
ich und Tove, wir sind eins.
So zerreiss‘ auch unsre Seelen nie,
zur Hölle mich, zum Himmel sie,
denn sonst gewinn‘ ich Macht,
zertrümmre deiner Engel Wacht
und sprenge mit meiner wilden Jagd
ins Himmelreich ein.

Waldemars Mannen:
Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht,
hat den Tag schon im Schnabel,
und von unsern Schwertern trieft
rostgerötet der Morgentau.
Die Zeit ist um!
Mit offnem Mund ruft das Grab,
und die Erde saugt
das lichtscheue Rätsel ein.
Versinket! Versinket!
Das Leben kommt
mit Macht und Glanz,
mit Taten und pochenden Herzen,
und wir sind des Todes,
des Schmerzes und des Todes,
Ins Grab! Ins Grab!
Zur träumeschwangern Ruh‘
Oh, könnten in Frieden
wir schlafen!

DES SOMMERWINDES WILDE JAGD


Herr Gänsefuß, Frau Gänsekraut, nun duckt euch nur geschwind,
denn des sommerlichen Windes wilde Jagd beginnt.
Die Mücken fliegen ängstlich
aus dem schilfdurchwachs’nen Hain,
In den See grub der Wind seine Silberspuren ein.
Viel schlimmer kommt es, als ihr euch nur je gedacht;
Hu! wie’s schaurig in den Buchblättern lacht!
Das ist Sankt Johanniswurm mit der Feuerzunge rot,
und der schwere Wiesennebel, ein Schatten bleich und tot!
Welch Wogen und Schwingen!
Welch Ringen und Singen!
In die Ähren schlägt der Wind in leidigem Sinne.
Daß das Kornfeld tönend bebt.
Mit den langen Beinen fiedelt die Spinne,
und es reißt, was sie mühsam gewebt.
Tönend rieselt der Tau zu Tal,
Sterne schießen und schwinden zumal;
flüchtend durchraschelt der Falter die Hecken,
springen die Frösche nach feuchten Verstecken.
Still! Was mag der Wind nur wollen?
Wenn das welke Laub er wendet,
sucht er, was zu früh geendet;
Frühlings, blauweiße Blütensäume,
der Erde flüchtige Sommerträume –
längst sind sie Staub!
Aber hinauf, über die Bäume
schwingt er sich nun in lichtere Räume,
denn dort oben, wie Traum so fein
meint er, müßten die Blüten sein!
Und mit seltsam Tönen
in ihres Laubes Kronen
grüßt er wieder die schlanken Schönen.
Sieh! nun ist auch das vorbei.
Auf luftigem Steige wirbelt er frei
zum blanken Spiegel des Sees,
und dort in der Wellen unendlichem Tanz,
in bleicher Sterne Widerglanz
wiegt er sich friedlich ein.
Wie stille wards zur Stell!
Ach, war das licht und hell!
O schwing dich aus dem Blumenkelch, Marienkäferlein,
und bitte deine schöne Frau um Leben und Sonnenschein.
Schon tanzen die Wogen am Klippenecke,
schon schleicht im Grase die bunte Schnecke,
nun regt sich Waldes Vogelschar,
Tau schüttelt die Blume vom lockigen Haar
und späht nach der Sonne aus.
Erwacht, erwacht, ihr Blumen zur Wonne.
Gemischter Chor:
Seht die Sonne farbenfroh am Himmelssaum
östlich grüßt ihr Morgentraum.
Lächelnd kommt sie aufgestiegen
Aus der Fluten der Nacht,
läßt von lichter Stirne fliegen
Strahlenlockenpracht.

Regers Orchesterwerke

ÜBERSICHT

Max Regers Schaffen für große Besetzung

Chronologie

1899
Scherzino in C major (Horn & Streicher) WoO I/6

1900
Romanzen in G- und D-Dur (Violine & Orchester) op. 50/1&2

1903
Gesang der Verklärten (Chor & Orchester) op. 71 (Text: Carl Busse)

1904
Sinfonietta in A-Dur op. 90

1906
Serenade in G-Dur op. 95

1907
Hiller-Variationen op. 100

Violinkonzert in A-Dur op. 101

1908
Psalm100 (Chor & Orchester) op.106
Weihegesang (Alt-solo, Chor und Bläser) WoO V/6 (Text: Otto Liebmann)
Symphonischer Prolog zu einer Tragödie op. 108

1909
Die Nonnen (Chor & Orchester) op. 112 (Text: Martin Boelitz)

1910
Klavierkonzert f-Moll op. 114

1911
Weihe der Nacht (Alt, Männerchor & Orchester) op. 119 (Text: Friedrich Hebbel)
Eine Lustspiel-Ouvertüre op. 120

1912
Konzert im alten Stil op. 123
An die Hoffnung (Alt-Solo und Orchester) (Text: Fr. Hölderlin)
Eine romantische Suite nach Gedichten von Eichendorff op. 125

1913
Vier Tondichtungen nach Gemälden von Böcklin op. 128
Ballettsuite op. 130

1914
Mozart-Variationen op. 132
Requiem (Fragment f. Soli, Chor, Orchester und Orgel) WoO V/9

1915
Requiem (Alt oder Bariton, Chor und Orchester) op. 144b (Text: Friedrich Hebbel)
Beethoven-Variationen (Orchesterversion) op. 86
Suite im Alten Stil op. 93, (Orchesterversion)
Fragment: Andante und Rondo capriccioso für Violine und Orchester WoO I/10 (Hrsg. von Florizel von Reuter als »Symphonische Rhapsodie«)

Sergej Rachmaninow

Der Symphoniker

Rachmaninow als Symphoniker? Man kennt den russischen Meister als einen der großen Klaviervirtuosen seiner Zeit, der für sein Instrument Sonaten, Préludes, Etüden und Konzerte geschrieben hat, Werke, von denen er zum Teil selbst atemberaubende Aufnahmen gemacht hat. Aber als Symphoniker?

Drei Symphonien und einige Tondichtungen hat Rachmaninow komponiert. Die Erste Symphonie war ein so eklatanter Mißerfolg, daß der der Komponist in eine tiefe Lebenskrise stürzte, aus der er erst nach psychologischer Behandlung wieder auftauchte. Nach den Sitzungen mit dem Analytiker Dahl kehrte der Komponist mit seinem Zweiten Klavierkonzert triumphal ins Leben zurück.

Und doch, schon die d-Moll-Symphonie weist ihn n den Ohren aufgeschlossener Kenner auch auf dem symphonische Sektor als Meister aus, der von Tschaikowsky ausgehend, die symphonische Form in die frühe Moderne führen konnte: Die Zweite Symphonie gilt als eine der letzten großen romantischen Riesenwerke, die Dritte, im amerikanischen Exil entstanden, ist – wenn auch kaum bekannt – eine der besten Symphonien der tonalen Musik der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts. Die Epoche ist von Interpreten und Konzertveranstaltern freilich erst zu entdecken . . .

Die Symphonien

ERSTE SYMPHONIE

Der erste Versuch Rachmaninows galt lange Zeit als Fehlschlag, schwer realisierbar wegen der enormen technischen Ansprüche an die Musiker. Die Uraufführung im März 1897 in St. Petersburg hatte das Ihrige zu diesem Nimbus beigetragen. Sie glich einer Katastrophe. Zwar stand niemand Geringerer als Alexander Glasunow am Dirigentenpult, aber er war betrunken und setzte das Werk in den sprichwörtlichen Sand. Rachmaninow erinnert sich:

Es war, als würde er nichts verstehen.

Rachmaninow breitete den Mantel des Vergessens über sein Werk und unternahm keinen versuch einer Rehabilitierung. Fast ein halbes Jahrhundert lang glaubte man, er habe die Partitur vernichtet. Doch tatsächlich hatte er sie 1917 bei seiner Flucht aus dem revolutionären Rußland in seinem Landhaus zurückgelassen. In den Wirren der Zeit ging das Konvolut verloren. Das Autograph ist nicht wieder aufgetaucht, aber in der Bibliothek des Petersburger Konservatoriums fanden sich die Orchesterstimmen, aus denen die Partitur rekonstruiert werden konnte. So erklang die Symphonie erstmals 1945 wieder, zwei Jahre nach des Komponisten Tod.

Damals konnte die Musikwelt einen Schatz entdecken: Rachmaninows Werk war alles andere als ein Mißgriff. Vielleicht war die Musik für seine Zeit zu experimentierfreudig, sie basiert, wie viele spätere Werke des Komponisten, auf Elementen der orthodoxen Liturgie. Elemente der musikalischen Themen finden sich im »Oktoechos«, der Sammlung einstimmiger orthodoxer Gesänge. Sie dienen fast allen Themen als Grundlage. Der Partitur ist auch ein geistliches Zitat als Motto vorangestellt:

Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.

(Römer 12, 19)

Interessant ist, wem Rachmaninow sein „Rachewerk“ gewidmet hat: Anna Lodyshenskaja, der Ehefrau eines Freundes, zu der der Komponist offenbar in intimer Beziehung stammt. Das Bibeltitat fand Rachmaninow bei Tolstoj, der es in seiner »Anna Karenina« verwendet.

Als Protokoll einer menschlichen Beziehung könnte die Symphonie auch zu dechiffrieren sein. Das lyrische Seitenthema des ersten Satzes ist möglicherweise Annas Portrait, das Fugato in der Durchführung und der energetische Marsch klingen wie ein selbstgewisser Kampf und dessen siegreiches Ende.

Im Scherzo hören wir die chromatisch-grüblerischen Elemente wieder, die den Kopfsatz unterminiert hatten. Im Mittelteil klingt ein zoniges Rache-Motiv auf, das auch im Zentrum des folgenden Larghetto eine Rolle, dessen Außenteile exotisches Kolorit haben – Anna war Zigeunerin . . .

Das Finale beginnt mit festliche Fanfaren, die das Rache-Motiv in eine triumphale Geste verwandeln. doch gegen Ende überwiegt eine düstere, von Schläge des Tam-Tams begleitete Atmosphäre. Ein trügerischer Triumph?

und Inspiration des Werkes.

Variationensatzes wieder . . .

ZWEITE SYMPHONIE

Mit dem Zweiten Klavierkonzert und den Préludes op. 23 (1903) kehrte Rachmaninow nach dem Fiasko der Uraufführung der Ersten Symphonie ins Leben zurück. Inzwischen war er ein gefragter Dirigent (ab 1904 auch am M oskauer Bolschoi-Theater) und als Pianist eine Größe, die von bedeutenden Sängerin wie Fedor Schaljapin auch für Recitals genützt wurde. Ende 1906 reiste Rachmaninow ins Ausland. In Dresden – wo niemand ihn kannte – versuchte der Vielbeschäftigte auch wieder zu komponieren. So entstanden die ersten Entwürfe der Zweiten Symphonie an der Elbe. 1907 war die Partitur vollendet, 1908 kam die Symphonie in St. Petersburg zur Uraufführung – und diesmal lauschte das Publikum gebannt – der enormen Länge der Symphonie zum Trotz. Der Symphoniker Rachmaninow war voll rehabilitiert, seine Zweite wurde zu seiner meistgespielten Symphonie.

Wie das Vorgängerwerk beginnt auch diese Symphonie mit einem düsteren Motto – wohl nach dem Vorbild der Tschaikowsky-Symphonien IV und V. Von diesem Motto leitetet sich auch das Hauptthema des folgenden Allegros ab.

Als zweiter Satz folgt ein marschartiges Scherzo, in dessen Hauptthema – wie später noch so oft bei diesem Komponisten, das gregorianische »Dies irae« anklingt. Wie bei Tschaikowsky kehrt auch bei Rachmaninow das Motto aus dem Kopfsatz (in den Blechblasern) mehrmals zurück und sorgt für Irritation. Das Adagio klingt nicht von ungefähr opernhaft: Rachmaninow greift auf Themen aus dem zentralen Duett seiner Oper »Francesca da Rimini« (1904/05) zurück. Ein nervöser Mittelteil stellt nach Zitaten aus dem ersten Satz (Volovioline) das Liebesglück nachdrücklich in Frage.

Das Finale der Zweiten ist ein für diesen Komponisten ungewöhnlich fröhlich wirkender Beschluß, dessen Triolenrhythmus alles mit sich zu reißen scheint, auch formbildenden Reminiszenzen an die vorangegangenen Sätze. Selbst das nachdenkliche Motiv aus dem Adagio läßt sich „überreden“.

DRITTE SYMPHONIE

Drei Jahrzehnte hat sich Rachmaninow nach dem Erfolg der Zweiten Zeit gelassen, ehe er wieder eine Symphonie schrieb. Inzwischen waren die Klavierkonzerte Nr. 3 und (in den USA) Nr. 4 entstanden, die oratorische Symphonie »Die Glocken« nach Gedichten von E. A. Poe und die »Vespermesse«. Seine Klavier-Solowerke hat Rachmaninow um einen zweiten Band von Préludes (op. 32) ergänzt und vor allem um die formal originellen »Etudes-Tableaux«, wobei die Klangsprache immer herber wurde, obwohl sich der romantische Rachmaninow-Tonfall nicht verändert und unverkennbar blieb.

Zwei eindrucksvolle Variationswerke dürfen bei der Betrachtung von Rachmaninows künstlerischem Weg nicht vernachläßigt werden: Die »Rhapsodie über ein Thema von Paganini« (in Wahrheit ein fünftes Klavierkonzert) und die »Corelli-Variationen« für Klavier solo: Hier kultiviert der Komponist eine handwerkliche Meisterschaft im variieren und verarbeiten von Motiven und Themen, erschließt seiner Musik aber auch harmonisch neue Räume. Bei allem romantischem Zungenschlag: Da komponiert ein Zeitgenosse des XX. Jahrhunderts.

Seine Wahlheimat sieht in Rachmaninow den bedeutenden russischen Pianisten und hört am liebsten das frühe Prélude in cis-Moll, gegen dessen Popularität der Komponist bald eine Aversion entwickelt – es wird dennoch nach jedem Recital als Zugabe gefordert!

EIN SPÄTWERK

Die Dritte Symphonie stammt aus Rachmaninows letztem Lebensabschnitt, 1936 vollendet und von Leopold Stokowski mit dem Philadelphia Orchestra uraufgeführt, stößt sie auf Ratlosigkeit. So viel herber, moderner war die Klangsprache als in Rachmaninows so populären Klavierkonzerten und den berühmten Préludes.

Die klaren Schnitte der rasch wechselnden Stimmungen der »Paganini-Rhapsodie« kehren wieder, nun angewandt auf behutsam modellierte Veränderungen innerhalb größerer symphonischer Blöcke. Die Harmonien scheuen vor Dissonanzen nicht zurück. Viel Schlagwerk betont die rhythmischen Kühnheiten und sorgt für aparte klangliche Effekte. Formal experimentiert Rachmaninow mit der Vereinigung der üblichen Mittelsätze einer Symphonie zu einem originellen Pasticcio.

Wie schon die Zweite beginnt auch die Dritte Symphonie mit einem Motto, dessen Melodik nach orthodoxer Psalmodie klingt; dem folgt nach einem kräftigen Orchesteraufschwung ein melancholisch-schönes Hauptthema das oft als Heimweh-Motiv des exilierten Russen gedeutet wurde . . .

Im Mittelsatz verschmelzen Adagio und Scherzo. Im Thema verwandeln Solo-Horn und Harfe das Motto der Symphonie zu einem neuen melodischen Gedanken. Die markigen Rhythmen des Scherzoteils nehmen dann die Kraft und Vitalität des Finalsatzes vorweg, indem der Instrumentationskünstler Rachmaninow ebenso birlliert wie der Tonsetzer: Im Zentrum steht eine virtuos gestaltete Fuge. Wie eine »Idée fixe« drängt sich zwischen die Themen und das Motto – nicht selten bei diesem Komponisten – gregorianische Totensequenz »Dies irae«. Ein mephistophelischer Eishauch bläst über den effektvollen Symphonieschluß.


DIE TONDICHTUNGEN

Auch diese Symphonie beginnt mit einem altrussisch anmutenden Motto; als Hauptthema stellt sich eine melancholische Melodic vor. In ihrer siiBen Wehmut schwingt eine gehorige Dosis Nostalgie im wortlichen Sinne mit; noch jeder russische Emigrant hatte Heimweh . . . Freilich gehorte diese elegische Grundstimmung schon immer zu Rachmaninows Stilpalette und ist ebenso von Tschaikowsky wie von Tschechow vorgepragt. Die Dritte hat nur einen Mittelsatz: Das iibliche Adagio bildet den Rahmen, das >Scherzo< den Mittelteil. Im Adagio-Thema entdeckt man eine Metamorphose des Mottos (Solo-Horn uber Harfenakkorden). Handiest, ja fast barbeiBig fahrt dann das >Scherzo< dazwischen. Seine Vitalitat speist gleichsam das Finale, ein hochvirtuoses Stuck Orchestermusik mit einer spannend aufgebauten Fuge darin. Unter die verschiedenen, meist nur episodischen Themen mischt sich auch wieder jenes Motiv, das bei Rachmaninow fast schon die Bedeutung einer »idee fixe« besitzt die mittelalterliche Totensequenz des »Dies irae«.

DIE TONDICHTUNGEN

»DER FELS«

Rachmaninow war vierzehn Jahr jung, als er seine erste Orchesterpartitur niederschrieb. Doch erst die Tondichtung »Der Fels«, ein Werk des gerade 20jahrigen Absolventen des Moskauer Konservatoriums, erlebte die Drucklegung. Peter Iljitsch Tschaikowsky, er hatte sich zu Studienzeiten Rachmaninows bereits für die Aufführung von dessen Zigeuneroper »Aleko«, eingesetzt, hielt den »Fels«, für bedeutend und sorgte dafür, daß die Kompositionen in der Wintersaison 1893/94 in den Konservatoriumskonzerten erklang. Er sollte die Uraufführung nicht mehr erleben.

Rachmaninow hat seinem Werk ein literarisches Motto aus dem gleichnamigen Gedicht Michail Lermontows vorangestellt

Die kleine goldne Wolke lag die Nacht/An der Brust des riesigen Felsens

Doch hat der Komponist bekannt, zu seiner Musik eher von Anton Tschechows Erzählung »Auf dem Wege« (Na puti) inspiriert worden zu sein, die eine nächtliche Begegnung zwischen einem Mädchen und einem vom Schicksal schwergeprüften älteren Mann zum Inhalt hat.

Den Mann zeichnen zum Auftakt des Werks die kraftvollen Striche von Celli und Bässen – auf dem Hohepunkt der Komposition kehrt dieses Thema schicksalhaft in den BIechbläsern fortissimo wieder. Die wogenden Holzbläserfigruationen hingegen stehen für das Mädchen, das den Erzählungen des Mannes lauscht. Ihr gehört auch das Flotenthema, das suggestive in immer neuen Varianten erscheint und bald in ein breit strömendes Thema verwandelt wird.

»DIETOTENINSEL«

»Lichte, frohliche Farben gelingen mir nichtleicht.« hat Sergej Rachmaninow einmal bekannt. Umso eindringlicher vermochte er die Düsterkeit von Arnold Böcklins Gemälde »Die Toteninsel« in Musik zu setzen. Eine der fünf Varianten, die Böcklin von diesem Thema gemalt hat, nahm Rachmaninow als bildliche Vorlage für seine symphonische Dichtung.

Wieder einmal klingt das »Dies irae« an, diesmal im breiten Strömen des im 5/4-Takt unheimlich schaukelnden Rhythmus, der Charons Nachen zur Toteninsel übersetzen läßt. In einer großen Steigerungswelle erleben wir die Überstellung eines Toten, dessen Schicksal, Freuden und Leidenschaften noch einmal in einem große akustischen Déja-entendu anklingt. Die verzweifelten inneren Kämpfe fruchten wenig: Charon kehrt einsam zum anderen Ufer zurück, um sein nächstes Opfer einzuholen.

Über die leidenschaftliche Es-Dur-Passage im Mittelteil der Komposition schrieb Rachmaninow an den Dirigenten Leopold Stokowski:

Sie soll einen starken Kontrast zum restlichen Stück bilden – schneller, nervöser und emotionsgeladener . . . Bis hier hin regierte der Tod, doch nun regiert das Leben.