»Petruschka«

AUFNAHMEN
Alexandre Benois Bühnenbild-Entwurf für das zweite Tableau

Petruschka

Ballett von Igor Strawinsky.

Die zweite Partitur, die Igor Strawinsky für den kongenialen Impresario der Balletts russes, Serge Diaghilev, komponiert hat. Die Arbeit an diesem Werk drängte sich dank einer spontanten Eingebung mitten in die Vorarbeiten am spektakulären Projekt zu »Sacre du printemps«. Der Komponist beschreibt den Moment der Inspiration in seinen Memoiren anschaulich.

Ein »szenisches« Klavierkonzert

Die Vorstellung eines Pianisten hatte von ihm Besitz ergriffen, der mit seinen Soli gegen ein widerspenstiges Orchester ankämpft. Die Grundidee des »Petruschka« war ein szenisch inspirierter Gedanke zu einem Klavierkonzert. Dem Klavier wird denn auch in der Ballettmusik solistische Funktion zukommen.

Zwischen »Feuervogel« und »Sacre«

Wenn Strawinsky später selbst von seiner erstaunlichen musikalischen Entwicklung zwischen den schillernden, im grunde aber von der Spätromantik und dem Impressionismus geprägten Klängen des »Feuervogel« zur radikalen Tonsprache seines »Sacre du printemps« berichtet, dann wäre zu sagen, daß die Radikalisierung im dazwischen liegenden »Petruschka« bereits weit fortgeschritten scheint. Die Harmonik dieser Ballettmusik beruht nicht zuletzt auf der dissonierenden Überlagerung zweier weit voneinander entfernten Tonarten – C und Fis – und spitzt die repetitiven, forschen Rhythmen des wilden Tanzes des Katschei aus dem »Feuervogel« weiter zu.

Volksmusik und Mosaik-Technik

Die melodischen Grundlagen findet Strawinsky – wie etwa schon im Finale des »Feuervogel« mehr und mehr in russischen Volksliedern. Der »russische Tanz« am Ende des ersten Bilds von »Petruschka« weist schon auf die noch weiter abstrahierende Kunst des »Sacre« voraus. In der Partitur des »Petruschka« finden sich, ganz anders als im »Feuervogel«, kaum noch Assoziationen zum rauschhaft romantischen Orchesterklang des Lehrer Nikolai Rimskij-Korsakow. Die thematische Arbeit nähert sich zunehmend einer originellen Mosaiktechnik an.

Diese ermöglicht über die Volksszenen in den Außen-Bildern des »Petruschka« eine kontinuierliche Entwicklung, die von der Aneinanderreihung einzelner Nummern abrückt. Aus dem »Feuervogel« konnte Strawinsky noch mühelos einzelne Szenen zu Suiten für den Konzertgebrauch aneinanderreihen. In »Petruschka« erinnert an diese Kompositionsweise nur noch das Finale des ersten Tableaus, der »russische Tanz«. Der auch den Kopfsatz der »Drei Stücke aus Petruschka« bildet, die der Komponist für Klavier bearbeitet hat.

Die beseelte Puppe

Für die Konzertversion des Balletts ließ Strawinsky dann das dritte Bild fort und strich den still verebbenden Schluß des Balletts. Fulminant gelang dem Komponisten die Trennung der Sphären der handelnden Personen: Ballerina und Mohr agieren wirklich wie seelenlose Puppen, Petruschka jedoch ist eine zwar surrealistische, aber mitleiderregende Mixtur aus Marionette und Mensch. So tritt die Dramaturgie aus der Märchenwelt des »Feuervogel« in anrührende, wenn auch mit modernen Collage-Mitteln gebrochene Psychologosierung.

Sein und Schein

Das Mit- und Gegeneinander verschiedener Bewußtseinsebenen wird auch harmonisch zum Ereignis – im berühmten »Petruschka«-Akkord, der C- und Fis-Dur überlagert, in der Parallelführung von mechanischer Drehorgel-Musik und der sie umgebenden »Realität«, aber auch im melodischen und rhythmischen Kontrapunkt verschieder Themen und Metren, die sowohl im ersten als auch im dritten Tableau zu kühnen Überlagerungen führen. Strawinskys Genialität entwickelt musikalische Modernismen stets aus szenisch-dramaturgischen Überlegungen heraus – so bleiben sie für das Publikum erklärlich und daher im tiefen Sinne »verständlich«.

Premiere mit Superstars

Das erkannten auch die zunächst skeptischen Mitwirkenden der Uraufführung. Ausstatter Alexandre Benois geriet bei der ersten gemeinsamen Sitzung des Leading-Tems über die Musik, die Strawisnkys am Klavier vorstellte, ins Schwärmen:

Vor allem der russische Tanz: Das ist diabolische Rücksichtslosigkeit, mit seltsamen Abweichungen in die Region der Zärtlichkeit …

Nijinski als Petruschka

Die Uraufführung am 13. Juni 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet mit Tamara Karsawina als Ballerina und dem einzigartigen Waslaw Nijinski in der Titelpartie wird zu einem Triumph – Strawinsky, mit dem »Feuervogel« im Jahr zuvor ins international Rampenlicht gerückt, ist mit diesem Abend ein gemachter Mann, an dem die Musikwelt nicht mehr vorbeikommt. Die musikalische Leitung dieser Premiere der Ballets russes liegt in den Händen des jungen Franzosen Pierre Monteux — er wird zwei Jahre später die allseits als unspielbar bezeichnete »Sacre du printimps« gegen die toebenden Proteste des Publikums zu einem grlücklichen Ende führen — und damit seinerseits zu einer Dirigenten-Legende werden.

Tableau I.

Sankt Petersburg. Admiralitätsplatz, 1830er-Jahre.

An einem sonnigen Wintertag feiern Scharen von Menschen Karneval. Wenn der Vorhang sich hebt herrscht buntes Volkstreiben, einfache Leute, distinguiertes Bürgertum, vornehme Damen und Herrn, Betrunkene, die sich gegenseitig stützen. Kinder drängen sich um die Bühne des Puppenspielers. Ein Musikant dreht seinen Leierkasten, zu dessen Musik eine Tänzerin sich anmutig bewegt. Doch bald bekommt sie Konkurrenz: Von der gegenüberliegenden Seite des Platzes nähert sich ein Mann mit einer Spieluhr, auch er von Tänzern begleitet. Ungeachtet des akustischen Verwirrspiels, hebt sich der Vorhang des Marionettentheaters: Drei leblose Puppen erscheinen Petruschka, die Ballerina und ein Schwarzer. Mit Flötenklngen erweckt der Puppenspieler die Gestalten zum Leben. Das allgemeinen Erstaunen ist groß, als die drei Figuren mit einem Mal aus dem Theater heraustreten und sich unter Volk mischen. Ein zündender Tanz aller beendet die Szene.

Tableau II.

Petruschkas Garderobe.

Schwarze Wände, auf die Sterne und eine Mondsichel gemalt sind. Die Flügeltüren zieren kleine Teufelchen auf Goldgrund. An einer Wand das Portrait des Puppenspielers.

Petruschka leidet. Er ist sich seiner grotesken Außenseiter-Position bewußt und verbittert, von seinem finsteren Herrn abhängig, eine freudlose Existenz führen zu müssen. Der Gedanke an die hübsche Ballerina tröstet ihn. Doch als sie zu Besuch erscheint, vergrämt er die Angebetete durch seine unbeholfene, ungehobelte Art. Sie flieht vor ihm. Petruschka verflucht den Puppenspieler, der ihm offenbar zu wenig Charme und Grazie eingehaucht hat. Doch seine Attacke auf das Portrait reißt lediglich ein Loch in die Wand des Puppentheaters.

Tableau III.

Die Garderobe des Mohren.

Grüne Palmen zieren die mit Blüten bunt gemusterte Tapete. Eine kleine Tür führt in die Garderobe der Ballerina. Der Mohr hat ein prächtiges exotisches Kostüm angelegt und spielt, auf seinem Diwan liegend, mit einer riesigen Kokosnuss, die er wie einen fetisch anbetet. Offenkundig ist diese Figur grobschlächtig und nicht gerade geistsprühend. Aber die Ballerina ist fasziniert. Doch Petruschkas plötzliches Erscheinen verhindert die Entfaltung der Liebesszene, die sich angahnt. Der Mohr wirft den Konkurrenten aus dem Zimmer.

Tableau IV.

Währenddessen ist das Karnevalstreiben in vollem Gang und treibt mit einem Tanz der Ammen und dem Auftritt eines Tanzbären, den ein Bauer auf seiner Flöte begleitet, dem Höhepunkt zu. Eine Gruppe von Kutschern und Krankenschwestern tritt auf, ehe sich eine wilde Schar von Maskierten – Teufel, Ziege und Schwein – ins wirbelnde Geschehen mischt. In diesem Moment stürmt Petruschka auf den Platz, verfolgt vom wütenden Mohren, den die Ballerina vergeblich zurückzuhalten versucht. Petruschka sinkt unter den Schlägen des Krummsäbels seines Nebenbuhlers verwundet zusammen. Er stirbt, als es leise zu schneien beginnt. Der Puppenspieler beruhigt die entsetze Menschenmenge und versichert, es handle sich lediglich um Marionetten, die ein lebensechtes Theaterstück realisiert hätten. Die Menge zerstreut sich. Die Nacht bricht herein. Während der Puppenspieler versucht, die Puppe Petruschkas ins Theater zu zuerren, erscheint ihm deren Geist gespenstisch und winkt ihm vom Theaterdach höhnisch zu.

Neben der fulminanten Stereo-Aufnahme unter der Leitung des Uraufführungs-Dirigenten Pierre Monteux gilt auch die Einspielung des Strawinsky-Spezialisten Ernest Ansermet als Schallplatten-Legende.