Archiv der Kategorie: SINKOTHEK

Alban Bergs Schaffen

Jugendwerke

Sieben frühe Lieder
Singstimme und Klavier – Orchesterfassung

Klaviersonate in h-Moll
1909/10
Das »Gesellenstück« anläßlich der Studien bei Arnold Schönberg

Vier Lieder op. 2
nach Texten von Hebbel und Mombert
1912

Streichquartett op. 3
gewidmet: Helene Berg
1919

Orchesterlieder
nach Ansichtskarten-Texten
von Peter Altenberg

Vier Stücle für Klarinette und Klavier op. 5

Die zentralen Werke der kurze aphoristischen Periode in Bergs Schaffen.

Drei Stücke für großes Orchester op. 6
1912

Wozzeck

»Kammerkonzert« für Violine, Klavier und Bläser
1913

Lyrische Suite für Streichquartett
1925

»Der Wein«, Konzertarie
Sopran (oder Tenor) und Orchester
1934

Lulu

Das Violinkonzert

»Dem Andenken eines Engels
1935

Webern-Zeitleiste

Anton von Webern

Zeitleiste

1883 – geboren am 3. Dezember in Wien

1888 – Die Mutter erteilt den ersten Klavierunterricht

1890 – Umzug der Familie nach Graz

1894 – Umzug der Familie nach Klagenfurt
Besuch des humanistischen Gymnasiums

1895 – Erster regulärer Musikunterricht

1899 – Erste Kompositionsversuche

1902 – Matura, Reise nach Bayreuth, Beginn des Studiums an der Universität Wien

1904 – Webern wird Schüler Arnold Schönbergs. Seine erste Orchesterkomposition, die Idylle Im Sommerwind, lag damals bereits vor.

1906 – Promotion (Dr. phil.) mit einer Arbeit über Johann Joseph Fux
– Die Mutter stirbt

Das Klavierquintett entsteht

1908 – Das Studiums bei Schönberg beendet
– Kapellmeistertätigkeit am Kurtheater Bad Ischl

Uraufführung der Passacaglia op. 1 in Wien unter Weberns Leitung.

1910 – Kapellmeisterdienste in Teplitz und Danzig

Webern dirigiert in Danzig seine Passacaglia

1911 – Hochzeit mit der Cousine Wilhelmine Mörtl
– Tochter Amalia geboren
Stücke für Violine und Klavier op. 7
– Übersiedlung nach Berlin

1912 – Kapellmeister in Stettin
– Erstdrucke Webernscher Werke in de Zeitschriften Der Blaue Reiter und Der Ruf

1913 – Rückkehr nach Wien
– das legendäre »Skandal-Konzert« mit der Uraufführung der Orchesterstücke op. 6 in Wien; Geburt der Tochter Maria. Komposition der Orchesterstücke op. 10.

1915 – Sohn Peter geboren
– Webern Einjährig-Freiwilliger im Ersten Weltkrieg

1917 – Entlassung aus dem Militärdienst
– Kapellmeister am Deutschen Theater Prag

1918 – Umzug nach Mödling
– Vortragsmeister des »Vereins für musikalische Privataufführungen«

1919 – Tochter Christinegeboren
– Tod des Vaters

1920 – Kapellmeistertätigkeit in Prag
– Webern wird Komponiste der Universal Edition

1921 – Dirigent des Wiener Schubert-Bundes
– Chormeister Männergesangverein Mödling

1922 – Webern dirigiert seine Passacaglia beim TonkünstlerfestDüsseldorf
Aufführung der Stücke für Streichquartett op. 5 beim Festival der IGNM inSalzburg
– Leiter der Wiener Arbeiter-Symphoniekonzerte
– Dirigent der »Freien Typographia«

1923 – Gastkonzert in Berlin
– Chormeister des sozialistischen »Arbeiter-Singvereins« Wien

1924 – Uraufführung der Bagatellen op. 9 und der Trakl-Lieder op. 14 beim Festival für Neue Musik in Donaueschingen
– Wien verleiht Webern den Großen Musikpreis

1925 – Lehrer am Jüdischen Blindeninstitut

1926 – Ende der Tätigkeit beim Männergesangverein Mödling.

1927 – Dirigent des Österreichischen Rundfunks (»RAVAG«)

1928 – Die Symphonie op. 21 entsteht
– Erkrankung an Magengeschwüren
– Kompositionsauftrag der »League of Composers«

1929 – Konzerte in Frankfurt und London

1930 – Fachberater und Lektor der RAVAG

1931 – Konzerte in London
– Musikpreis der Gemeinde Wien

1932 – Konzerte in London und Barcelona
– Übersiedlung nach Wien, später nach Maria-Enzersdorf

1933 – Konzert in London
– Feier des 50. Geburtstag

1934 – Nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Partei verliert Webern seine Ämter in deren »Kunststelle«
– Das Konzert op. 24 zur Feier von Arnold Schönbergs 60. Geburtstag

1935 – Konzert in London

1936 – Webern sagt seine Mitwirkung beim IGNM-Fest in Barcelona ab – die posthume Uraufführung von Alban Bergs Violinkonzert übernmmt Hermann Scherchen
– Gastspiel in Winterthur

1938 – Elizabeth Sprague Coolidge erteilt den Kompositionsauftrag für ein Streichquartett. Weberns Quartett op. 28 ist in den Märztagen des Jahres vollendet.
– Uraufführung der Kantate Das Augenlicht in London

1940 – Schweiz-Reise
– die Variationen entstehen, Weberns letztes Orchesterwerk.

1941 – Webern beginnt an der Kantate Nr. 2 (nach Texten von Hildegard Jone) zu arbeiten. Sie wird sein letztes vollendetes Werk sein.

1943 – Erneute Schweiz-Reise
– Feier des 60. Geburtstags

1945 – Sohn Peter stirbt am 11. 
– Flucht vor den herannahenen Sowjet-Truppen nach Mittersill
– Am 15. September wird Anton von Webern von einem amerikanischen Besatzungssoldaten in Mittersill erschossen

Weberns Grab in Mittersill

Strawinsky-Zeitleiste

Leben und Werk des Igor Strawinsky

1882

Igor Fjodorowitsch Strawinsky kommt am 18. Juni in Oranienbaum bei St. Petersburg zur Welt.

Der Vater ist Bassist und geachtetes Mitglied der kaiserlichen Oper.

1891

Igor, dessen Mutter eine gute Hobby-Pianistin ist und exzellent vom Blatt liest, bekomm erstmals professionellen Klavierunterricht.

Erster Opernbesuch: Glinkas Leben für den Zaren.

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Le baiser de la fée

Igor Strawinsky (1928)

AUFNAHMEN
Miah Thompson in Kenneth MacMillans Choreographi in London

Das Ballett, entstanden über Auftrag Ida Rubinsteins für die Choreographin Bronislava Nijinska, hat Igor Strawinsky, basierend auf einer Erzählung von Hans C. Andersen als Hommage an sein großes Vorbild Peter Iljitsch Tschaikowsky komponiert. Er griff dabei auf kurze, großteils wenig bekannte Stücke Tschaikowskys zurück, die er allerdings – im Gegensatz zu den barocken Vorlagen, die er für »Pulcinella« genutzt hatte – stark verfremdet hat. Vor allem hat er Tempi und musikalischen Charekter von Tschaikowskys Kompositionen verändert, oft in ihr Gegenteil verkehrt: So wurde aus einem »Scherzo humoresque« (op. 19/2) das langsame Lied, mit dem Szene III beginnt.

Bemerkenswert der Satz, den Strawinsky dieser Ballettmusik in seiner Autobiographie widmet:

Ich habe mich an einem neuen Kompositions- und Orchestrierungsstil versucht, der die Musik beim ersten Hören verständlich machen sollte.

Der Kuß der Fee
Szene I
Wiegenlied im Sturm
Eine Mutter kämpft sich durch einen wilden Sturm und versucht wiegen ihr Kind zu beruhigen, das sie schützend im Arm hält. Die dienstbaren Geister der Fee verfolgen das Paar, entreißen der Frau das Kind, das, von der Fee geküßt, allein bleibt. Bauern finden es und suchen nach der Mutter. Doch vergeblich. Sie nehmen das Findelkind mit sich.

Szene II
Bäuerliches Fest
Ein junger Mann und seine Braut tanzen. Als der Mann zuletzt allein bleibt, erscheint ihm dei Fee in Gestalt einer Zigeunerin, die ihm seine Zukunft weissagt. Tanzend zieht sie ihn immer mehr in ihre Gewalt und verheißt ihm großes Glück. Der junge Mann bittet sie, ihn wieder seiner Braut zuzuführen.

Szene III
In der Mühle
In der Mühle findet der Mann seine Braut, die mit ihren Freundinnen spielt. Nach einem gemeinsamen Tanz verschwindet das Mädchen, um ihr Hochzeitskleid anzulegen. Der junge Mann bleibt allein zurück.

Szene IV
In den Brautschleier gehüllt, erscheint jedoch die Fee. Der junge Mann ist fasziniert und nimmt sie leidenschaftlich in seine Arme. Erst als die Fee den Schleier abwirft, erkennt er seinen Irrtum. Doch hat er gegen die Zauberkräfte keine Macht: Die Fee entführt ihn in ein Land jenseits von Zeit und Raum. Während die Braut vergebens nach ihrem Geliebten sucht, küßt die Fee in den Gefilden der Seligen, umschwebt vom Reigen der Geister, kihr Opfer zu den Klängen eines Wiegenliedes noch einmal: Der junge Mann ist der Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky, die Fee seine mephistophelische Muse.

Balanchines Eigenmächtigkeit

Strawinsky verstand sein Ballett als Hommage an den verehrten Vorgänger – doch die Apotheose mit dem verhängnisvollen »Musenkuß« war nur anläßlich der Pariser Uraufführung am 27. November 1928 in der Choreographie der Nijinska zu sehen. Georges Balanchine hat sie mißfallen. Er strich für seine Version des Werks das Finale und ließ es mit einem Bauerntanz enden, eine Eigenmächtigkeit, die auch den harmonischen Plan von Strawinskys Partitur mißachtet. Das Ballett schließt demnach in der Praxis nicht in der Grundtonart des Werks …

1960 hat auch Kenneth MacMillan eine eigene Version des Werks für seine Londoner Compagnie erarbeitet.

Der »Kuß der Fee« gehört nicht unbedingt zu den Favoriten großer Dirigenten. In seiner Mailänder Zeit hat Riccardo Muti sich der Partitur angenommen und eine höchst wohlklingende Version mit dem Orchester der Scala eingepielt. Sie enthält die gesamte Ballettmusik.

Unverzichtbar ist die Erstaufnahme der »Divertimento« genannten Suite, die einen Großteil der Musik wiedergibt – nur einige wenige Szenen hat Strawinsky für den Konzertgebrauch gestrichen. Igor Markevich stand am Pult des Pariser Rundfunkorchesters – Seite 2 der Langspielplatte enthielt eine nicht minder fein durchgearbeitete, spritzige Version von »Puclinella« – in diesem Fall nicht die Suite, sondern die erste Gesamtaufnahme des Balletts. Eine exzellente Platte, auf diversen CD-Umschnitten und bei Streamingdiensten abrufbar.

»Petruschka«

AUFNAHMEN
Alexandre Benois Bühnenbild-Entwurf für das zweite Tableau

Petruschka

Ballett von Igor Strawinsky.

Die zweite Partitur, die Igor Strawinsky für den kongenialen Impresario der Balletts russes, Serge Diaghilev, komponiert hat. Die Arbeit an diesem Werk drängte sich dank einer spontanten Eingebung mitten in die Vorarbeiten am spektakulären Projekt zu »Sacre du printemps«. Der Komponist beschreibt den Moment der Inspiration in seinen Memoiren anschaulich.

Ein »szenisches« Klavierkonzert

Die Vorstellung eines Pianisten hatte von ihm Besitz ergriffen, der mit seinen Soli gegen ein widerspenstiges Orchester ankämpft. Die Grundidee des »Petruschka« war ein szenisch inspirierter Gedanke zu einem Klavierkonzert. Dem Klavier wird denn auch in der Ballettmusik solistische Funktion zukommen.

Zwischen »Feuervogel« und »Sacre«

Wenn Strawinsky später selbst von seiner erstaunlichen musikalischen Entwicklung zwischen den schillernden, im grunde aber von der Spätromantik und dem Impressionismus geprägten Klängen des »Feuervogel« zur radikalen Tonsprache seines »Sacre du printemps« berichtet, dann wäre zu sagen, daß die Radikalisierung im dazwischen liegenden »Petruschka« bereits weit fortgeschritten scheint. Die Harmonik dieser Ballettmusik beruht nicht zuletzt auf der dissonierenden Überlagerung zweier weit voneinander entfernten Tonarten – C und Fis – und spitzt die repetitiven, forschen Rhythmen des wilden Tanzes des Katschei aus dem »Feuervogel« weiter zu.

Volksmusik und Mosaik-Technik

Die melodischen Grundlagen findet Strawinsky – wie etwa schon im Finale des »Feuervogel« mehr und mehr in russischen Volksliedern. Der »russische Tanz« am Ende des ersten Bilds von »Petruschka« weist schon auf die noch weiter abstrahierende Kunst des »Sacre« voraus. In der Partitur des »Petruschka« finden sich, ganz anders als im »Feuervogel«, kaum noch Assoziationen zum rauschhaft romantischen Orchesterklang des Lehrer Nikolai Rimskij-Korsakow. Die thematische Arbeit nähert sich zunehmend einer originellen Mosaiktechnik an.

Diese ermöglicht über die Volksszenen in den Außen-Bildern des »Petruschka« eine kontinuierliche Entwicklung, die von der Aneinanderreihung einzelner Nummern abrückt. Aus dem »Feuervogel« konnte Strawinsky noch mühelos einzelne Szenen zu Suiten für den Konzertgebrauch aneinanderreihen. In »Petruschka« erinnert an diese Kompositionsweise nur noch das Finale des ersten Tableaus, der »russische Tanz«. Der auch den Kopfsatz der »Drei Stücke aus Petruschka« bildet, die der Komponist für Klavier bearbeitet hat.

Die beseelte Puppe

Für die Konzertversion des Balletts ließ Strawinsky dann das dritte Bild fort und strich den still verebbenden Schluß des Balletts. Fulminant gelang dem Komponisten die Trennung der Sphären der handelnden Personen: Ballerina und Mohr agieren wirklich wie seelenlose Puppen, Petruschka jedoch ist eine zwar surrealistische, aber mitleiderregende Mixtur aus Marionette und Mensch. So tritt die Dramaturgie aus der Märchenwelt des »Feuervogel« in anrührende, wenn auch mit modernen Collage-Mitteln gebrochene Psychologosierung.

Sein und Schein

Das Mit- und Gegeneinander verschiedener Bewußtseinsebenen wird auch harmonisch zum Ereignis – im berühmten »Petruschka«-Akkord, der C- und Fis-Dur überlagert, in der Parallelführung von mechanischer Drehorgel-Musik und der sie umgebenden »Realität«, aber auch im melodischen und rhythmischen Kontrapunkt verschieder Themen und Metren, die sowohl im ersten als auch im dritten Tableau zu kühnen Überlagerungen führen. Strawinskys Genialität entwickelt musikalische Modernismen stets aus szenisch-dramaturgischen Überlegungen heraus – so bleiben sie für das Publikum erklärlich und daher im tiefen Sinne »verständlich«.

Premiere mit Superstars

Das erkannten auch die zunächst skeptischen Mitwirkenden der Uraufführung. Ausstatter Alexandre Benois geriet bei der ersten gemeinsamen Sitzung des Leading-Tems über die Musik, die Strawisnkys am Klavier vorstellte, ins Schwärmen:

Vor allem der russische Tanz: Das ist diabolische Rücksichtslosigkeit, mit seltsamen Abweichungen in die Region der Zärtlichkeit …

Nijinski als Petruschka

Die Uraufführung am 13. Juni 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet mit Tamara Karsawina als Ballerina und dem einzigartigen Waslaw Nijinski in der Titelpartie wird zu einem Triumph – Strawinsky, mit dem »Feuervogel« im Jahr zuvor ins international Rampenlicht gerückt, ist mit diesem Abend ein gemachter Mann, an dem die Musikwelt nicht mehr vorbeikommt. Die musikalische Leitung dieser Premiere der Ballets russes liegt in den Händen des jungen Franzosen Pierre Monteux — er wird zwei Jahre später die allseits als unspielbar bezeichnete »Sacre du printimps« gegen die toebenden Proteste des Publikums zu einem grlücklichen Ende führen — und damit seinerseits zu einer Dirigenten-Legende werden.

Tableau I.

Sankt Petersburg. Admiralitätsplatz, 1830er-Jahre.

An einem sonnigen Wintertag feiern Scharen von Menschen Karneval. Wenn der Vorhang sich hebt herrscht buntes Volkstreiben, einfache Leute, distinguiertes Bürgertum, vornehme Damen und Herrn, Betrunkene, die sich gegenseitig stützen. Kinder drängen sich um die Bühne des Puppenspielers. Ein Musikant dreht seinen Leierkasten, zu dessen Musik eine Tänzerin sich anmutig bewegt. Doch bald bekommt sie Konkurrenz: Von der gegenüberliegenden Seite des Platzes nähert sich ein Mann mit einer Spieluhr, auch er von Tänzern begleitet. Ungeachtet des akustischen Verwirrspiels, hebt sich der Vorhang des Marionettentheaters: Drei leblose Puppen erscheinen Petruschka, die Ballerina und ein Schwarzer. Mit Flötenklngen erweckt der Puppenspieler die Gestalten zum Leben. Das allgemeinen Erstaunen ist groß, als die drei Figuren mit einem Mal aus dem Theater heraustreten und sich unter Volk mischen. Ein zündender Tanz aller beendet die Szene.

Tableau II.

Petruschkas Garderobe.

Schwarze Wände, auf die Sterne und eine Mondsichel gemalt sind. Die Flügeltüren zieren kleine Teufelchen auf Goldgrund. An einer Wand das Portrait des Puppenspielers.

Petruschka leidet. Er ist sich seiner grotesken Außenseiter-Position bewußt und verbittert, von seinem finsteren Herrn abhängig, eine freudlose Existenz führen zu müssen. Der Gedanke an die hübsche Ballerina tröstet ihn. Doch als sie zu Besuch erscheint, vergrämt er die Angebetete durch seine unbeholfene, ungehobelte Art. Sie flieht vor ihm. Petruschka verflucht den Puppenspieler, der ihm offenbar zu wenig Charme und Grazie eingehaucht hat. Doch seine Attacke auf das Portrait reißt lediglich ein Loch in die Wand des Puppentheaters.

Tableau III.

Die Garderobe des Mohren.

Grüne Palmen zieren die mit Blüten bunt gemusterte Tapete. Eine kleine Tür führt in die Garderobe der Ballerina. Der Mohr hat ein prächtiges exotisches Kostüm angelegt und spielt, auf seinem Diwan liegend, mit einer riesigen Kokosnuss, die er wie einen fetisch anbetet. Offenkundig ist diese Figur grobschlächtig und nicht gerade geistsprühend. Aber die Ballerina ist fasziniert. Doch Petruschkas plötzliches Erscheinen verhindert die Entfaltung der Liebesszene, die sich angahnt. Der Mohr wirft den Konkurrenten aus dem Zimmer.

Tableau IV.

Währenddessen ist das Karnevalstreiben in vollem Gang und treibt mit einem Tanz der Ammen und dem Auftritt eines Tanzbären, den ein Bauer auf seiner Flöte begleitet, dem Höhepunkt zu. Eine Gruppe von Kutschern und Krankenschwestern tritt auf, ehe sich eine wilde Schar von Maskierten – Teufel, Ziege und Schwein – ins wirbelnde Geschehen mischt. In diesem Moment stürmt Petruschka auf den Platz, verfolgt vom wütenden Mohren, den die Ballerina vergeblich zurückzuhalten versucht. Petruschka sinkt unter den Schlägen des Krummsäbels seines Nebenbuhlers verwundet zusammen. Er stirbt, als es leise zu schneien beginnt. Der Puppenspieler beruhigt die entsetze Menschenmenge und versichert, es handle sich lediglich um Marionetten, die ein lebensechtes Theaterstück realisiert hätten. Die Menge zerstreut sich. Die Nacht bricht herein. Während der Puppenspieler versucht, die Puppe Petruschkas ins Theater zu zuerren, erscheint ihm deren Geist gespenstisch und winkt ihm vom Theaterdach höhnisch zu.

Neben der fulminanten Stereo-Aufnahme unter der Leitung des Uraufführungs-Dirigenten Pierre Monteux gilt auch die Einspielung des Strawinsky-Spezialisten Ernest Ansermet als Schallplatten-Legende.

Artur Bodanzky

1877 – 1939

Artur Bodanzky stammte aus Wien, studierte in seiner Heimatstadt und spielte eine Zeitlang in Wiener Orchestern, vor allem war er Geiger im Hofopernorchester. Er hatte aber auch eine gründliche Kapellmeisterausbildung absolviert und wurde in der Ära Gustav Mahlers zu dessen Assistenten. 1904 machte ihn das Theater an der Wien in der Nachfolge Alexander von Zemlinskys zum ersten Kapellmeister, der sein Debüt am Haus mit einer Premiere von Johann Strauß‘ Spitzentuch der Königin feierte.

DIE ERSTE PARISER »FLEDERMAUS«

Für den internationalen Ruf des jungen Dirigenten aus Wien war nicht zuletzt die mit Spannung erwartete Erstaufführung von Johann Strauß‘ Fledermaus in Paris prägend. Unter den Augen von Strauß‘ Witwe studierte Bodanzky das Werk ein und das in Sachen Operette nicht nur kritische sondern auch lokalpatriotische Pariser Publikum jubelte. Ein Rezensent berichtete für das Neue Wiener Journal im April 1904 über die bevorstehende wahre Pariser Sensation:

Wenn die Fledermaus in Paris den großen Erfolg … davonträgt, so wird das in erster Reihe das Verdienst Bodankzy’s sein. Dieser junge Künstler hat mit seinem Taktstock den Musikern und den Darstellern den wienerischen Geist der Strauß’schen Musik eingeprägt, dem Orchester und der Künstlerischaft die Schönheit des Werkes zum Bewußtsein gebracht.

Nicht zuletzt als Wagner-Interpret machte sich Artur Bodanzky sich aber europaweit rasch einen Namen, bekleidete führende Positionen zunächst in Prag, dann in Mannheim. Sein Prager Debütkonzert, 1907, (nach einigen hochgelobten Opernvorstellungen) galt Beethovens Eroica über die der Rezensent der Montagsrevue aus Böhme schwärmte über

das liebe- und verständnisvolle Eindringen in die Details, ohne den Zug ins Große, den Blick auf das Ganze zu verlieren, die suggestive Gewalt über den Orchesterkörper, dessen Glieder jeder für sich das Beste und zusammen ein wohlabgetöntes Ganzes zu geben aufgerüttelt wurden, die subjektive Durchdringung des Werkes ohne Verlezung seiner Substanz.

Weniger freundlich nahm man bei dieser Gelegenheit übrigens die Novität auf, die Bodanzky aus Wien mitgebracht hatte und die sein Interesse für Neues spiegelte: Alexander von Zemlinskys Seejungfrau – und zwar noch in ihrer dreisätzigen, später verlorenen und erst Jahrzehnte danach wieder rekonstruierten Fassung.

WECHSEL IN DIE USA

Als Wagner-Kenner holte man Bodanzky 1914 für die Londoner Erstaufführung des Parsifal an die Covent Garden Oper. Im englischsprachigen Raum war Bodanzky in der Folge nicht mehr aus dem Opernleben wegzudenken. Die Metropolitan Opera rief und machte ihn zum führenden Maestro für das deutsche Fach.

Eine Rückkehr nach Europa kam für ihn ab dem Kriegseintritt der USA nicht mehr in Frage. In Österreich berichtete die Musikzeitung 1917 mit einem unverblümten Hinweis auf die mögliche Wiener Karriere des Dirigenten aus Amerika:

Der Patriotismus ergriff gestern nachts das Metropolitan Opera House und bewegte es bis in die vornehmen ränge. Schon bevor Herr Artur Bodanzky zu den einleitenden Takten des Sternenbanners einsetzte, schien das Publikum, das am Montag stets zahlreich und fashionabel ist, zu fühlen, daß irgendetwas Besonderes im Zuge war. Es wurde offenbar als Herr Bodanzky ins Orchester trat und ohne sich zu setzen, seinen Stab hob. Die Klänge der amerikanischen Nationalhymne ertönten. Von allen Seiten kam Gesang. Die Inhaber der Parterresitze sangen wie die Besucher der obersten Galerie. Herr Bodanzky, der Ungar ist, und sein zum großen Teil deutsches Orchester spielten machtvoll. – und Herr Bodanzky galt bisher als einer der fähigstn Anwärter auf den Posten eines musikalischen Chefs der Wiener Hofoper. Das wird man sich wohl aus dem Kopf schlagen müssen.

Es handelte sich um die Aufführung eines Werks namens Canterbury Pilgrims von Reginald De Koven. An diesem Tag hatte der amerikanische Kongreß den Eintritt der USA in den Krieg beschlossen. Die Entscheidung wurde vor der Vorstellung verkündet. Ein Bericht, der 1921 erschien, bewertet Bodanzkys »Engagement« in dieser Causa ein wenig anders als der Berichterstatter von 1917. Da heißt es

Eine panikartige Erregung dudrchzitterte den Saal. Das Publikum erhob sich. Das Orchester, dessen Leitung Bodanzky wohl oder übel beibehalten mußte, intonierte die Nationalhymne.

New York wurde jedenfalls zu Bodanzkys zweiter Heimat. Er dirigiert dort auch das philharmonische Orchester, vor allem aber unzählige Abende an der Met, wobei Wagner nach dem Kriegseintritt für einige Zeit ausgespart wurde.

Anders als sein Mentor Mahler erwies sich Bodanzky als Praktiker, der dem amerikanischen Publikum in Sachen Wagner-Pflege insofern entgegenkam, als er kräftige Kürzungen in den Partituren gestattete. Sogar in die Partituren von Beethovens Fidelio und Webers Freischütz griff er ein, um sie für ein Opernhaus, in dem nach Pariser Vorbild gesprochene Dialoge verpönt waren spielbar zu machen: In beiden Fällen komponierte Bodanzky Rezitative für die Vorstellungen an der Metropolitan Opera anfang des XX. Jahrhunderts.

Daß ein Kapellmeister auch arrangierend tätig werden sollte, war für einen Mann seiner Generation selbstverständlich. Bodanzky kümmerte sich bereits in seinen europäischen Jahren auch um Textfassungen der von ihm dirigierten Opern, etwa als er als führender Dirigent in Mannheim 1914 nach vielen Jahren eine Neuproduktion von Mozarts Don Giovanni herausbrachte, für die er eine neue deutsche Textfassung erstellte.

Die Sicherheit, mit der Bodanzky musikalisch über die Werke gebot, die ihm anvertraut waren, war schon zu seinen Lebzeiten legendär. Er dirigierte beispielweise an jenem Abend, an dem der dann meistbeschäftigte und bedeutendste Wagner-Tenor an der Met debütierte: Lauritz Melchiors New Yorker Einstand mit Tannhäuser fand nicht nur ohne Orchesterprobe, sondern ohne jede Verständigung zwischen Dirigent und Sänger statt. Angesichts der folgenen märchenhaften Met-Karriere Melchiors scheint das nicht geschadet zu haben . . .

Von Bodanzkys späten New Yorker Aufführungen – nicht zuletzt solchen, in denen auch Lauritz Melchior brillierte – sind etliche Livemitschnitte erhalten. Im Studio hat der Dirigent vor allem Ouvertüre und kleinere Orchesterstücke aufgenommen, die nicht repräsentativ für seine Kunst sind. Eine Aufführung einer Wagner-Oper hört man aber trotz mangelhafter technischer Überlieferung mit Hochspannung von Anfang bis Schluß. Ein Abglanz vom Feuergeist Gustav Mahlers scheint da noch bewahrt. Über die Aufführung des Siegfried mit Lauritz Melchior im Jahr 1937 (als Livemitschnitt auf dem Label Pristine greifbar) schrieb der führende New Yorker Kritiker Olin Downes in der New York Times

Mr. Bodanzky’s conducting of ,,Siegfried“ is not the interpretation of one but of every part of the opera. It is not to be taken for granted, for it represents the very essence of the score. It was a performance which in accent, color and sense of form established the mood and significance of the occasion. The fact was appreciated by the public, which gave the conductor special applause.

Schönberg – Jacobsen

GURRELIEDER

ZUM WERK

TEIL I

Waldemar:
Nun dämpft die Dämm’rung
jeden Ton von Meer und Land,
Die fliegenden Wolken lagerten sich
wohlig am Himmelsrand.
Lautloser Friede schloß dem Forst
die luftigen Pforten zu,
und des Meeres klare Wogen
wiegten sich selber zur Ruh.
Im Westen wirft die Sonne
von sich die Purpurtracht
und träumt im Flutenbette
des nächsten Tages Pracht.
Nun regt sich nicht das kleinste Laub
in des Waldes prangendem Haus;
nun tönt auch nicht der leiseste Klang:
Ruh‘ aus, mein Sinn, ruh‘ aus!
Und jede Macht ist versunken
in der eignen Träume Schoß,
und es treibt mich zu mir selbst zurück,
stillfriedlich, sorgenlos.

Tove:
Oh, wenn des Mondes Strahlen leise gleiten,
und Friede sich und Ruh durchs All verbreiten,
nicht Wasser dünkt mich dann des Meeres Raum,
und jener Wald scheint nicht Gebüsch und Baum.
Das sind nicht Wolken, die den Himmel schmücken,
und Tal und Hügel nicht der Erde Rücken,
und Form und Farbenspiel, nur eitle Schäume,
und alles Abglanz nur der Gottesträume.

Waldemar:
Roß! Mein Roß! Was schleichst du so träg!
Nein, ich seh’s, es flieht der Weg
hurtig unter der Hufe Tritten.
Aber noch schneller mußt du eilen,
bist noch in des Waldes Mitten,
und ich wähnte, ohn‘ Verweilen
sprengt‘ ich gleich in Gurre ein.
Nun weicht der Wald, schon seh‘ ich dort die Burg,
die Tove mir umschließt, indes im Rücken uns der Forst
zu finstrem Wall zusammenfließt;
aber noch weiter jage du zu!
Sieh! Des Waldes Schatten dehnen
über Flur sich weit und Moor!
Eh‘ sie Gurres Grund erreichen,
muß ich stehn vor Toves Tor.
Eh‘ der Laut, der jetzo klinget,
ruht, um nimmermehr zu tönen,
muß dein flinker Hufschlag, Renner,
über Gurres Brücke dröhnen;
eh‘ das welke Blatt – dort schwebt es -,
mag herab zum Bache fallen,
muß in Gurres Hof dein Wiehern
fröhlich widerhallen!
Der Schatten dehnt sich, der Ton verklingt,
nun falle, Blatt, magst untergehn:
Volmer hat Tove gesehn!

Tove:
Sterne jubeln, das Meer, es leuchtet,
preßt an die Küste sein pochendes Herz,
Blätter, sie murmeln, es zittert ihr Tauschmuck,
Seewind umfängt mich in mutigem Scherz,
Wetterhahn singt, und die Turmzinnern nicken,
Burschen stolzieren mit flammenden Blicken,
wogende Brust voll üppigen Lebens
fesseln die blühenden Dirnen vergebens,
Rosen, sie mühn sich, zu spähn in die Ferne,
Fackeln, sie lodern und leuchten so gerne,
Wald erschließt seinen Bann zur Stell‘,
horch, in der Stadt nun Hundegebel!
Und die steigenden Wogen der Treppe
Tragen zum Hafen den fürstlichen Held,
bis er auf alleroberster Staffel
mir in die offenen Arme fällt.

Waldemar
So tanzen die Engel vor Gottes Thron nicht,
wie die Welt nun tanzt vor mir.
So lieblich klingt ihrer Harfen Ton nicht,
wie Waldemars Seele dir.
Aber stolzer auch saß neben Gott nicht Christ
nach dem harten Erlösungsstreite,
als Waldemar stolz nun und königlich ist
an Toveliles Seite.
Nicht sehnlicher möchten die Seelen gewinnen
den Weg zu der Seligen Bund,
als ich deinen Kuß, da ich Gurres Zinnen
sah leuchten vom Öresund.
Und ich tausch‘ auch nicht ihren Mauerwall
und den Schatz, den treu sie bewahren,
für Himmelreichs Glanz und betäubenden Schall
und alle der heiligen Schaaren!

Tove:
Nun sag ich dir zum ersten Mal:
„König Volmer, ich liebe dich!“
Nun küss‘ ich dich zum erstenmal,
und schlinge den Arm um dich.
Und sprichst du, ich hättes schon früher gesagt
und je meinen Kuß dir geschenkt,
so sprech‘ ich: „Der König ist ein Narr,
der flüchtigen Tandes gedenkt.“
Und sagst du: „Wohl bin ich solch ein Narr,“
so sprech ich: „Der König hat recht;“
doch sagst du: „Nein, ich bin es nicht,“
so sprech ich: „Der König ist schlecht.“
Denn all meine Rosen küßt‘ ich zu Tod,
dieweil ich deiner gedacht.

Waldemar:
Es ist Mitternachtszeit,
und unsel’ge Geschlechter
stehn auf aus vergess’nen, eingesunknen Gräbern,
und sie blicken mit Sehnsucht
nach den Kerzen der Burg
und der Hütte Licht.
Und der Wind schüttelt spottend
nieder auf sie Harfenschlag
und Becherklang und Liebeslieder.
Und sie schwinden und seufzen:
„Unsre Zeit ist um.“
Mein Haupt wiegt sich auf lebenden Wogen,
meine Hand vernimmt eines Herzens Schlag,
lebenschwellend strömt auf mich nieder
glühender Küsse Purpurregen,
und meine Lippe jubelt:
„Jetzt ist’s meine Zeit!“
Aber die Zeit flieht,
Und umgehn werd‘ ich
zur Mitternachtsstunde
dereinst als tot,
werd‘ eng um mich das Leichenlaken ziehn
wider die kalten Winde
und weiter mich schleichen im späten Mondlicht
und schmerzgebunden
mit schwerem Grabkreuz
deinen lieben Namen
in die Erde ritzen
und sinken und seufzen:
„Uns’re Zeit ist um!“

Tove:
Du sendest mir einen Liebesblick
und senkst das Auge,
doch das Blick preßt deine Hand in meine,
und der Druck erstirbt;
aber als liebeweckenden Kuß
legst du meinen Händedruck mir auf die Lippen
und du kannst noch seufzen um des Todes Willen,
wenn ein Blick auflodern kann
wie ein flammender Kuß?
Die leuchtenden Sterne am Himmel droben
bleichen wohl, wenn’s graut,
doch lodern sie neu jede Mitternachtzeit
in ewiger Pracht.
So kurz ist der Tod,
wie ruhiger Schlummer
von Dämm’rung zu Dämmrung.
Und wenn du erwachst,
bei dir auf dem lager
in neuer Schönheit
siehst du strahlen
die junge Braut.
So laß uns die goldene
Schale leeren
ihm, dem mächtig verschönenden Tod.
Denn wir gehn zu Grab
wie ein Lächeln,
ersterbend im seligen Kuß.

Waldemar:
Du wunderliche Tove!
So reich durch dich nun bin ich,
daß nicht einmal mehr ein Wunsch mir eigen;
so leicht meine Brust,
mein Denken so klar,
ein wacher Frieden über meiner Seele.
Es ist so still in mir,
so seltsam stille.
Auf der Lippe weilt brückeschlagend das Wort,
doch sinkt es wieder zur Ruh‘.
Denn mir ist’s, als schlüg‘ in meiner Brust
deines Herzens Schlag,
und als höbe mein Atemschlag,
Tove, deinen Busen.
Und uns’re Gedanken seh ich
entstehn und zusammengleiten
wie Wolken, die sich begegnen,
und vereint wiegen sie sich in wechselnden Formen.
Und meine Seele ist still,
ich seh in dein Aug und schweige,
du wunderliche Tove.


Stimme der Waldtaube:
Tauben von Gurre! Sorge quält mich,
vom Weg über die Insel her!
Kommet! Lauschet!
Tot ist Tove! Nacht auf ihrem Auge,
das der Tag des Königs war!
Still ist ihr Herz,
doch des Königs Herz schlägt wild,
tot und doch wild!
Seltsam gleichend einem Boot auf der Woge,
wenn der, zu dess‘ Empfang die Planken huldigend sich gekrümmt,
des Schiffes Steurer tot liegt, verstrickt in der Tiefe Tang.
Keiner bringt ihnen Botschaft,
unwegsam der Weg.
Wie zwei Ströme waren ihre Gedanken,
Ströme gleitend Seit‘ an Seite.
Wo strömen nun Toves Gedanken?
Die des Königs winden sich seltsam dahin,
suchen nach denen Toves,
finden sie nicht.
Weit flog ich, Klage sucht‘ ich, fand gar viel!
Den Sarg sah ich auf Königs Schultern,
Henning stürzt‘ ihn;
finster war die Nacht, eine einzige Fackel
brannte am Weg;
die Königin hielt sie, hoch auf dem Söller,
rachebegierigen Sinns.
Tränen, die sie nicht weinen wollte,
funkelten im Auge.
Weit flog ich, Klage sucht‘ ich, fand gar viel!
Den König sah ich, mit dem Sarge fuhr er, im Bauernwams.
Sein Streitroß,
das oft zum Sieg ihn getragen,
zog den Sarg.
Wild starrte des Königs Auge,
suchte nach einem Blick,
seltsam lauschte des Königs Herz
nach einem Wort.
Henning sprach zum König,
aber noch immer suchte er Wort und Blick.
Der König öffnet Toves Sarg,
starrt und lauscht mit bebenden Lippen,
Tove ist stumm!
Weit flog ich, Klage sucht‘ ich, fand gar viel!
Wollt‘ ein Mönch am Seile ziehn,
Abendsegen läuten;
doch er sah den Wagenlenker
und vernahm die Trauerbotschaft:
Sonne sank, indes die Glocke
Grabgeläute tönte.
Weit flog ich, Klage sucht‘ ich
und den Tod!
Helwigs Falke war’s, der grausam
Gurres Taube zerriß.


TEIL II

Waldemar:
Herrgott, weißt du, was du tatest,
als klein Tove mir verstarb?
Triebst mich aus der letzten Freistatt,
die ich meinem Glück erwarb!
Herr, du solltest wohl erröten:
Bettlers einz’ges Lamm zu töten!
Herrgott, ich bin auch ein Herrscher,
und es ist mein Herrscherglauben:
Meinem Untertanen darf ich nie
die letzte Leuchte rauben.
Falsche Wege schlägst du ein:
Das heißt wohl Tyrann, nicht Herrscher sein!
Herrgott, deine Engelscharen
singen stets nur deinen Preis,
doch dir wäre mehr vonnöten
einer, der zu tadeln weiß.
Und wer mag solches wagen?
Laß mich, Herr, die Kappe deines Hofnarrn tragen!


TEIL III

DIE WILDE JAGD

Waldemar:
Erwacht, König Waldemars
Mannen wert!
Schnallt an die Lende
das rostige Schwert,
holt aus der Kirche
verstaubte Schilde,
gräulich bemalt mit wüstem Gebilde.
Weckt eurer Rosse modernde Leichen,
schmückt sie mit Gold,
und spornt ihre Weichen:
Nach Gurrestadt seid ihr entboten,
heute ist Ausfahrt der Toten!

Bauer:
Deckel des Sarges
klappert und klappt,
Schwer kommt’s her
durch die Nacht getrabt.
Rasen nieder vom Hügel rollt,
über den Grüften
klingt’s hell wie Gold!
Klirren und Rasseln
durch’s Rüsthaus geht,
Werfen und Rücken mit altem Gerät,
Steinegepolter am Kirchhofrain,
Sperber sausen
vom Turm und schrein,
auf und zu fliegt’s Kirchentor!

Waldemars Mannen:
Holla!

Bauer:
Da fährt’s vorbei!
Rasch die Decke übers Ohr!
Ich schlage drei heilige
Kreuze geschwind
für Leut‘ und Haus,
für Roß und Rind;
dreimal nenn ich Christi Namen,
so bleibt bewahrt der Felder Samen.
Die Glieder noch bekreuz ich klug,
wo der Herr seine heiligen
Wunden trug,
so bin ich geschützt
vor der nächtlichen Mahr,
vor Elfenschuß und Trolls Gefahr.
Zuletzt vor die Tür
noch Stahl und Stein,
so kann mir nichts Böses
zur Tür herein.

Waldemars Mannen:
Gegrüßt, o König, an Gurre-Seestrand!
Nun jagen wir über das Inselland!
Holla!
Vom stranglosen Bogen Pfeile zu senden,
mit hohlen Augen und Knochenhänden,
zu treffen des Hirsches Schattengebild,
daß Wiesentau aus der Wunde quillt.
Holla! Der Walstatt Raben Geleit uns gaben,
über Buchenkronen die Rosse traben,
Holla!
So jagen wir nach gemeiner Sag‘
eine jede Nacht bis zum jüngsten Tag.
Holla! Hussa Hund! Hussa Pferd!
Nur kurze Zeit das Jagen währt!
Hier ist das Schloß, wie einst vor Zeiten!
Holla!
Lokes Hafer gebt den Mähren,
wir wollen vom alten Ruhme zehren.

Waldemar:
Mit Toves Stimme flüstert der Wald,
mit Toves Augen schaut der See,
mit Toves Lächeln leuchten die Sterne,
die Wolke schwillt wie des Busens Schnee.
Es jagen die Sinne, sie zu fassen,
Gedanken kämpfennach ihrem Bilde.
Aber Tove ist hier und Tove ist da,
Tove ist fern und Tove ist nah.
Tove, bist du’s, mit Zaubermacht
gefesselt an Sees- und Waldespracht?
Das tote Herz, es schwillt und dehnt sich,
Tove, Tove,
Waldemar sehnt sich nach dir!

Klaus-Narr:
„Ein seltsamer Vogel ist so’n Aal,
im Wasser lebt er meist,
Kommt doch bei Mondschein
dann und wann
ans Uferland gereist.“
Das sang ich oft
meines Herren Gästen,
nun aber paßt’s auf mich selber
am besten.
Ich halte jetzt kein Haus
und lebe äußerst schlicht
und lud auch niemand ein
und praßt‘ und lärmte nicht,
und dennoch zehrt an mir
manch unverschämter Wicht,
drum kann ich auch nichts bieten,
ob ich will oder nicht,
doch – dem schenk ich
meine nächtliche Ruh,
der mir den Grund kann weisen,
warum ich jede Mitternacht
den Tümpel muß umkreisen.
Daß Palle Glob und Erik Paa
es auch tun, das versteh ich so:
Sie gehörten nie zu den Frommen;
jetzt würfeln sie,
wiewohl zu Pferd,
um den kühlsten Ort,
weit weg vom Herd,
wenn sie zur Hölle kommen.
Und der König,
der von Sinnen stets,
sobald die Eulen klagen,
und stets nach einem Mädchen ruft,
das tot seit Jahr und Tagen,
auch dieser hat’s verdient
und muß von Rechtes wegen jagen.
Denn er war immer höchst brutal,
und Vorsicht galt es allermal
und off’nes Auge für Gefahr,
da er ja selber Hofnarr war
bei jener großen Herrschaft
überm Monde.
Ich, der glaubte, daß im Grabe
man vollkomm’ne Ruhe habe,
daß der Geist beim Staube bleibe,
friedlich dort sein Wesen treibe,
still sich sammle für das große Hoffest,
wo, wir Bruder Knut sagt,
ertönen die Posaunen,
wo wir Guten wohlgemut
Sünder speisen wie Kapaunen –
ach, daß ich im Ritte rase,
gegen den Schwanz gedreht die Nase,
sterbensmüd im wilden Lauf,
wär’s zu spät nicht,
ich hinge mich auf.
Doch o wie süß
soll’s schmecken zuletzt,
werd ich dann doch in den Himmel versetzt!
Zwar ist mein Sündenregister groß,
allein vom meisten schwatz ich mich los!
Wer gab der nackten Wahrheit Kleider?
Wer war dafür geprügelt leider?
Ja, wenn es noch Gerechtigkeit gibt,
Dann muß ich eingehn im Himmels Gnaden…
Na, und dann mag Gott sich selber gnaden.

Waldemar:
Du strenger Richter droben,
du lachst meiner Schmerzen,
doch dereinst,
beim Auferstehn des Gebeins
nimm es dir wohl zu Herzen;
ich und Tove, wir sind eins.
So zerreiss‘ auch unsre Seelen nie,
zur Hölle mich, zum Himmel sie,
denn sonst gewinn‘ ich Macht,
zertrümmre deiner Engel Wacht
und sprenge mit meiner wilden Jagd
ins Himmelreich ein.

Waldemars Mannen:
Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht,
hat den Tag schon im Schnabel,
und von unsern Schwertern trieft
rostgerötet der Morgentau.
Die Zeit ist um!
Mit offnem Mund ruft das Grab,
und die Erde saugt
das lichtscheue Rätsel ein.
Versinket! Versinket!
Das Leben kommt
mit Macht und Glanz,
mit Taten und pochenden Herzen,
und wir sind des Todes,
des Schmerzes und des Todes,
Ins Grab! Ins Grab!
Zur träumeschwangern Ruh‘
Oh, könnten in Frieden
wir schlafen!

DES SOMMERWINDES WILDE JAGD


Herr Gänsefuß, Frau Gänsekraut, nun duckt euch nur geschwind,
denn des sommerlichen Windes wilde Jagd beginnt.
Die Mücken fliegen ängstlich
aus dem schilfdurchwachs’nen Hain,
In den See grub der Wind seine Silberspuren ein.
Viel schlimmer kommt es, als ihr euch nur je gedacht;
Hu! wie’s schaurig in den Buchblättern lacht!
Das ist Sankt Johanniswurm mit der Feuerzunge rot,
und der schwere Wiesennebel, ein Schatten bleich und tot!
Welch Wogen und Schwingen!
Welch Ringen und Singen!
In die Ähren schlägt der Wind in leidigem Sinne.
Daß das Kornfeld tönend bebt.
Mit den langen Beinen fiedelt die Spinne,
und es reißt, was sie mühsam gewebt.
Tönend rieselt der Tau zu Tal,
Sterne schießen und schwinden zumal;
flüchtend durchraschelt der Falter die Hecken,
springen die Frösche nach feuchten Verstecken.
Still! Was mag der Wind nur wollen?
Wenn das welke Laub er wendet,
sucht er, was zu früh geendet;
Frühlings, blauweiße Blütensäume,
der Erde flüchtige Sommerträume –
längst sind sie Staub!
Aber hinauf, über die Bäume
schwingt er sich nun in lichtere Räume,
denn dort oben, wie Traum so fein
meint er, müßten die Blüten sein!
Und mit seltsam Tönen
in ihres Laubes Kronen
grüßt er wieder die schlanken Schönen.
Sieh! nun ist auch das vorbei.
Auf luftigem Steige wirbelt er frei
zum blanken Spiegel des Sees,
und dort in der Wellen unendlichem Tanz,
in bleicher Sterne Widerglanz
wiegt er sich friedlich ein.
Wie stille wards zur Stell!
Ach, war das licht und hell!
O schwing dich aus dem Blumenkelch, Marienkäferlein,
und bitte deine schöne Frau um Leben und Sonnenschein.
Schon tanzen die Wogen am Klippenecke,
schon schleicht im Grase die bunte Schnecke,
nun regt sich Waldes Vogelschar,
Tau schüttelt die Blume vom lockigen Haar
und späht nach der Sonne aus.
Erwacht, erwacht, ihr Blumen zur Wonne.
Gemischter Chor:
Seht die Sonne farbenfroh am Himmelssaum
östlich grüßt ihr Morgentraum.
Lächelnd kommt sie aufgestiegen
Aus der Fluten der Nacht,
läßt von lichter Stirne fliegen
Strahlenlockenpracht.

Regers Orchesterwerke

ÜBERSICHT

Max Regers Schaffen für große Besetzung

Chronologie

1899
Scherzino in C major (Horn & Streicher) WoO I/6

1900
Romanzen in G- und D-Dur (Violine & Orchester) op. 50/1&2

1903
Gesang der Verklärten (Chor & Orchester) op. 71 (Text: Carl Busse)

1904
Sinfonietta in A-Dur op. 90

1906
Serenade in G-Dur op. 95

1907
Hiller-Variationen op. 100

Violinkonzert in A-Dur op. 101

1908
Psalm100 (Chor & Orchester) op.106
Weihegesang (Alt-solo, Chor und Bläser) WoO V/6 (Text: Otto Liebmann)
Symphonischer Prolog zu einer Tragödie op. 108

1909
Die Nonnen (Chor & Orchester) op. 112 (Text: Martin Boelitz)

1910
Klavierkonzert f-Moll op. 114

1911
Weihe der Nacht (Alt, Männerchor & Orchester) op. 119 (Text: Friedrich Hebbel)
Eine Lustspiel-Ouvertüre op. 120

1912
Konzert im alten Stil op. 123
An die Hoffnung (Alt-Solo und Orchester) (Text: Fr. Hölderlin)
Eine romantische Suite nach Gedichten von Eichendorff op. 125

1913
Vier Tondichtungen nach Gemälden von Böcklin op. 128
Ballettsuite op. 130

1914
Mozart-Variationen op. 132
Requiem (Fragment f. Soli, Chor, Orchester und Orgel) WoO V/9

1915
Requiem (Alt oder Bariton, Chor und Orchester) op. 144b (Text: Friedrich Hebbel)
Beethoven-Variationen (Orchesterversion) op. 86
Suite im Alten Stil op. 93, (Orchesterversion)
Fragment: Andante und Rondo capriccioso für Violine und Orchester WoO I/10 (Hrsg. von Florizel von Reuter als »Symphonische Rhapsodie«)

Sergej Rachmaninow

Der Symphoniker

Rachmaninow als Symphoniker? Man kennt den russischen Meister als einen der großen Klaviervirtuosen seiner Zeit, der für sein Instrument Sonaten, Préludes, Etüden und Konzerte geschrieben hat, Werke, von denen er zum Teil selbst atemberaubende Aufnahmen gemacht hat. Aber als Symphoniker?

Drei Symphonien und einige Tondichtungen hat Rachmaninow komponiert. Die Erste Symphonie war ein so eklatanter Mißerfolg, daß der der Komponist in eine tiefe Lebenskrise stürzte, aus der er erst nach psychologischer Behandlung wieder auftauchte. Nach den Sitzungen mit dem Analytiker Dahl kehrte der Komponist mit seinem Zweiten Klavierkonzert triumphal ins Leben zurück.

Und doch, schon die d-Moll-Symphonie weist ihn n den Ohren aufgeschlossener Kenner auch auf dem symphonische Sektor als Meister aus, der von Tschaikowsky ausgehend, die symphonische Form in die frühe Moderne führen konnte: Die Zweite Symphonie gilt als eine der letzten großen romantischen Riesenwerke, die Dritte, im amerikanischen Exil entstanden, ist – wenn auch kaum bekannt – eine der besten Symphonien der tonalen Musik der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts. Die Epoche ist von Interpreten und Konzertveranstaltern freilich erst zu entdecken . . .

Die Symphonien

ERSTE SYMPHONIE

Der erste Versuch Rachmaninows galt lange Zeit als Fehlschlag, schwer realisierbar wegen der enormen technischen Ansprüche an die Musiker. Die Uraufführung im März 1897 in St. Petersburg hatte das Ihrige zu diesem Nimbus beigetragen. Sie glich einer Katastrophe. Zwar stand niemand Geringerer als Alexander Glasunow am Dirigentenpult, aber er war betrunken und setzte das Werk in den sprichwörtlichen Sand. Rachmaninow erinnert sich:

Es war, als würde er nichts verstehen.

Rachmaninow breitete den Mantel des Vergessens über sein Werk und unternahm keinen versuch einer Rehabilitierung. Fast ein halbes Jahrhundert lang glaubte man, er habe die Partitur vernichtet. Doch tatsächlich hatte er sie 1917 bei seiner Flucht aus dem revolutionären Rußland in seinem Landhaus zurückgelassen. In den Wirren der Zeit ging das Konvolut verloren. Das Autograph ist nicht wieder aufgetaucht, aber in der Bibliothek des Petersburger Konservatoriums fanden sich die Orchesterstimmen, aus denen die Partitur rekonstruiert werden konnte. So erklang die Symphonie erstmals 1945 wieder, zwei Jahre nach des Komponisten Tod.

Damals konnte die Musikwelt einen Schatz entdecken: Rachmaninows Werk war alles andere als ein Mißgriff. Vielleicht war die Musik für seine Zeit zu experimentierfreudig, sie basiert, wie viele spätere Werke des Komponisten, auf Elementen der orthodoxen Liturgie. Elemente der musikalischen Themen finden sich im »Oktoechos«, der Sammlung einstimmiger orthodoxer Gesänge. Sie dienen fast allen Themen als Grundlage. Der Partitur ist auch ein geistliches Zitat als Motto vorangestellt:

Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.

(Römer 12, 19)

Interessant ist, wem Rachmaninow sein „Rachewerk“ gewidmet hat: Anna Lodyshenskaja, der Ehefrau eines Freundes, zu der der Komponist offenbar in intimer Beziehung stammt. Das Bibeltitat fand Rachmaninow bei Tolstoj, der es in seiner »Anna Karenina« verwendet.

Als Protokoll einer menschlichen Beziehung könnte die Symphonie auch zu dechiffrieren sein. Das lyrische Seitenthema des ersten Satzes ist möglicherweise Annas Portrait, das Fugato in der Durchführung und der energetische Marsch klingen wie ein selbstgewisser Kampf und dessen siegreiches Ende.

Im Scherzo hören wir die chromatisch-grüblerischen Elemente wieder, die den Kopfsatz unterminiert hatten. Im Mittelteil klingt ein zoniges Rache-Motiv auf, das auch im Zentrum des folgenden Larghetto eine Rolle, dessen Außenteile exotisches Kolorit haben – Anna war Zigeunerin . . .

Das Finale beginnt mit festliche Fanfaren, die das Rache-Motiv in eine triumphale Geste verwandeln. doch gegen Ende überwiegt eine düstere, von Schläge des Tam-Tams begleitete Atmosphäre. Ein trügerischer Triumph?

und Inspiration des Werkes.

Variationensatzes wieder . . .

ZWEITE SYMPHONIE

Mit dem Zweiten Klavierkonzert und den Préludes op. 23 (1903) kehrte Rachmaninow nach dem Fiasko der Uraufführung der Ersten Symphonie ins Leben zurück. Inzwischen war er ein gefragter Dirigent (ab 1904 auch am M oskauer Bolschoi-Theater) und als Pianist eine Größe, die von bedeutenden Sängerin wie Fedor Schaljapin auch für Recitals genützt wurde. Ende 1906 reiste Rachmaninow ins Ausland. In Dresden – wo niemand ihn kannte – versuchte der Vielbeschäftigte auch wieder zu komponieren. So entstanden die ersten Entwürfe der Zweiten Symphonie an der Elbe. 1907 war die Partitur vollendet, 1908 kam die Symphonie in St. Petersburg zur Uraufführung – und diesmal lauschte das Publikum gebannt – der enormen Länge der Symphonie zum Trotz. Der Symphoniker Rachmaninow war voll rehabilitiert, seine Zweite wurde zu seiner meistgespielten Symphonie.

Wie das Vorgängerwerk beginnt auch diese Symphonie mit einem düsteren Motto – wohl nach dem Vorbild der Tschaikowsky-Symphonien IV und V. Von diesem Motto leitetet sich auch das Hauptthema des folgenden Allegros ab.

Als zweiter Satz folgt ein marschartiges Scherzo, in dessen Hauptthema – wie später noch so oft bei diesem Komponisten, das gregorianische »Dies irae« anklingt. Wie bei Tschaikowsky kehrt auch bei Rachmaninow das Motto aus dem Kopfsatz (in den Blechblasern) mehrmals zurück und sorgt für Irritation. Das Adagio klingt nicht von ungefähr opernhaft: Rachmaninow greift auf Themen aus dem zentralen Duett seiner Oper »Francesca da Rimini« (1904/05) zurück. Ein nervöser Mittelteil stellt nach Zitaten aus dem ersten Satz (Volovioline) das Liebesglück nachdrücklich in Frage.

Das Finale der Zweiten ist ein für diesen Komponisten ungewöhnlich fröhlich wirkender Beschluß, dessen Triolenrhythmus alles mit sich zu reißen scheint, auch formbildenden Reminiszenzen an die vorangegangenen Sätze. Selbst das nachdenkliche Motiv aus dem Adagio läßt sich „überreden“.

DRITTE SYMPHONIE

Drei Jahrzehnte hat sich Rachmaninow nach dem Erfolg der Zweiten Zeit gelassen, ehe er wieder eine Symphonie schrieb. Inzwischen waren die Klavierkonzerte Nr. 3 und (in den USA) Nr. 4 entstanden, die oratorische Symphonie »Die Glocken« nach Gedichten von E. A. Poe und die »Vespermesse«. Seine Klavier-Solowerke hat Rachmaninow um einen zweiten Band von Préludes (op. 32) ergänzt und vor allem um die formal originellen »Etudes-Tableaux«, wobei die Klangsprache immer herber wurde, obwohl sich der romantische Rachmaninow-Tonfall nicht verändert und unverkennbar blieb.

Zwei eindrucksvolle Variationswerke dürfen bei der Betrachtung von Rachmaninows künstlerischem Weg nicht vernachläßigt werden: Die »Rhapsodie über ein Thema von Paganini« (in Wahrheit ein fünftes Klavierkonzert) und die »Corelli-Variationen« für Klavier solo: Hier kultiviert der Komponist eine handwerkliche Meisterschaft im variieren und verarbeiten von Motiven und Themen, erschließt seiner Musik aber auch harmonisch neue Räume. Bei allem romantischem Zungenschlag: Da komponiert ein Zeitgenosse des XX. Jahrhunderts.

Seine Wahlheimat sieht in Rachmaninow den bedeutenden russischen Pianisten und hört am liebsten das frühe Prélude in cis-Moll, gegen dessen Popularität der Komponist bald eine Aversion entwickelt – es wird dennoch nach jedem Recital als Zugabe gefordert!

EIN SPÄTWERK

Die Dritte Symphonie stammt aus Rachmaninows letztem Lebensabschnitt, 1936 vollendet und von Leopold Stokowski mit dem Philadelphia Orchestra uraufgeführt, stößt sie auf Ratlosigkeit. So viel herber, moderner war die Klangsprache als in Rachmaninows so populären Klavierkonzerten und den berühmten Préludes.

Die klaren Schnitte der rasch wechselnden Stimmungen der »Paganini-Rhapsodie« kehren wieder, nun angewandt auf behutsam modellierte Veränderungen innerhalb größerer symphonischer Blöcke. Die Harmonien scheuen vor Dissonanzen nicht zurück. Viel Schlagwerk betont die rhythmischen Kühnheiten und sorgt für aparte klangliche Effekte. Formal experimentiert Rachmaninow mit der Vereinigung der üblichen Mittelsätze einer Symphonie zu einem originellen Pasticcio.

Wie schon die Zweite beginnt auch die Dritte Symphonie mit einem Motto, dessen Melodik nach orthodoxer Psalmodie klingt; dem folgt nach einem kräftigen Orchesteraufschwung ein melancholisch-schönes Hauptthema das oft als Heimweh-Motiv des exilierten Russen gedeutet wurde . . .

Im Mittelsatz verschmelzen Adagio und Scherzo. Im Thema verwandeln Solo-Horn und Harfe das Motto der Symphonie zu einem neuen melodischen Gedanken. Die markigen Rhythmen des Scherzoteils nehmen dann die Kraft und Vitalität des Finalsatzes vorweg, indem der Instrumentationskünstler Rachmaninow ebenso birlliert wie der Tonsetzer: Im Zentrum steht eine virtuos gestaltete Fuge. Wie eine »Idée fixe« drängt sich zwischen die Themen und das Motto – nicht selten bei diesem Komponisten – gregorianische Totensequenz »Dies irae«. Ein mephistophelischer Eishauch bläst über den effektvollen Symphonieschluß.


DIE TONDICHTUNGEN

Auch diese Symphonie beginnt mit einem altrussisch anmutenden Motto; als Hauptthema stellt sich eine melancholische Melodic vor. In ihrer siiBen Wehmut schwingt eine gehorige Dosis Nostalgie im wortlichen Sinne mit; noch jeder russische Emigrant hatte Heimweh . . . Freilich gehorte diese elegische Grundstimmung schon immer zu Rachmaninows Stilpalette und ist ebenso von Tschaikowsky wie von Tschechow vorgepragt. Die Dritte hat nur einen Mittelsatz: Das iibliche Adagio bildet den Rahmen, das >Scherzo< den Mittelteil. Im Adagio-Thema entdeckt man eine Metamorphose des Mottos (Solo-Horn uber Harfenakkorden). Handiest, ja fast barbeiBig fahrt dann das >Scherzo< dazwischen. Seine Vitalitat speist gleichsam das Finale, ein hochvirtuoses Stuck Orchestermusik mit einer spannend aufgebauten Fuge darin. Unter die verschiedenen, meist nur episodischen Themen mischt sich auch wieder jenes Motiv, das bei Rachmaninow fast schon die Bedeutung einer »idee fixe« besitzt die mittelalterliche Totensequenz des »Dies irae«.

DIE TONDICHTUNGEN

»DER FELS«

Rachmaninow war vierzehn Jahr jung, als er seine erste Orchesterpartitur niederschrieb. Doch erst die Tondichtung »Der Fels«, ein Werk des gerade 20jahrigen Absolventen des Moskauer Konservatoriums, erlebte die Drucklegung. Peter Iljitsch Tschaikowsky, er hatte sich zu Studienzeiten Rachmaninows bereits für die Aufführung von dessen Zigeuneroper »Aleko«, eingesetzt, hielt den »Fels«, für bedeutend und sorgte dafür, daß die Kompositionen in der Wintersaison 1893/94 in den Konservatoriumskonzerten erklang. Er sollte die Uraufführung nicht mehr erleben.

Rachmaninow hat seinem Werk ein literarisches Motto aus dem gleichnamigen Gedicht Michail Lermontows vorangestellt

Die kleine goldne Wolke lag die Nacht/An der Brust des riesigen Felsens

Doch hat der Komponist bekannt, zu seiner Musik eher von Anton Tschechows Erzählung »Auf dem Wege« (Na puti) inspiriert worden zu sein, die eine nächtliche Begegnung zwischen einem Mädchen und einem vom Schicksal schwergeprüften älteren Mann zum Inhalt hat.

Den Mann zeichnen zum Auftakt des Werks die kraftvollen Striche von Celli und Bässen – auf dem Hohepunkt der Komposition kehrt dieses Thema schicksalhaft in den BIechbläsern fortissimo wieder. Die wogenden Holzbläserfigruationen hingegen stehen für das Mädchen, das den Erzählungen des Mannes lauscht. Ihr gehört auch das Flotenthema, das suggestive in immer neuen Varianten erscheint und bald in ein breit strömendes Thema verwandelt wird.

»DIETOTENINSEL«

»Lichte, frohliche Farben gelingen mir nichtleicht.« hat Sergej Rachmaninow einmal bekannt. Umso eindringlicher vermochte er die Düsterkeit von Arnold Böcklins Gemälde »Die Toteninsel« in Musik zu setzen. Eine der fünf Varianten, die Böcklin von diesem Thema gemalt hat, nahm Rachmaninow als bildliche Vorlage für seine symphonische Dichtung.

Wieder einmal klingt das »Dies irae« an, diesmal im breiten Strömen des im 5/4-Takt unheimlich schaukelnden Rhythmus, der Charons Nachen zur Toteninsel übersetzen läßt. In einer großen Steigerungswelle erleben wir die Überstellung eines Toten, dessen Schicksal, Freuden und Leidenschaften noch einmal in einem große akustischen Déja-entendu anklingt. Die verzweifelten inneren Kämpfe fruchten wenig: Charon kehrt einsam zum anderen Ufer zurück, um sein nächstes Opfer einzuholen.

Über die leidenschaftliche Es-Dur-Passage im Mittelteil der Komposition schrieb Rachmaninow an den Dirigenten Leopold Stokowski:

Sie soll einen starken Kontrast zum restlichen Stück bilden – schneller, nervöser und emotionsgeladener . . . Bis hier hin regierte der Tod, doch nun regiert das Leben.