für Katrin
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Gruß an Georg!
Johanna Martzy
1924 – 1979
Wer den boomenden Vinylmarkt verfolgt, weiß, daß einige Schallplatten mit Aufnahmen von Johanna Martzy astronomische Preise erzielen. Zu den gesuchtesten Vinyl-Scheiben gehört etwa die Einspielung von Antonín Dvořáks Violinkonzert unter Ferenc Fricsay auf Deutsche Grammophon.
Hänssler brachte eine CD in den Handel, die nachvollziehen läßt, wie diese Geigerin zur Legende wurde. Für den SWR nahm Martzy unter Hans Müller-Kray resp. Günter Wand die Violinkonzerte von Mendelssohn und Brahms auf. Die Livemitschnitte sind alles andere als perfekt, aber schon die Eingangstakte des Mendelssohn-Konzerts verraten den Rang der Interpretin: singender Ton, exquisite Legato-Kultur, höchste Finesse in der rhythmisch-agogischen Differenzierung. Das bezaubert sogar in digitalisierter Form.
In einer Sammlung von Livemitschnitten findet sich auch eine Aufnahme von Mozarts G-Dur-Konzert mit Willem van Otterloo, das zu den spritzigsten, geschliffensten Klassikerdarstellungen jenseits der Originalklang-Mode gehört.
BIOGRAPHISCHES
Johanna Emiie Maria Martzv, geboren im damals ungarischen Temesvár im Oktober 1924, begann nach unerwarteten Talentproben auf Drängen ihrer Mutter mit dem konsequenten Geigenstudiu bei Josef Brandeisz (1896-1978). Johanna war ungemein begabt, schlitterte aber rasch in eine pubertäre Krise. Die Familie war aber nicht geneigt, nachzugeben und sandt das Mädchen zur Geiger-Legende Jenö Hubay. Ihm spielte Johanna eine Bearbeitung von Schuberts »Ave Maria« vor – damit war ihr Schicksal besiegelt: Sie sei von Gott begnadet, beschied ihr der berühmte Virtuose. Sie könnte eine der besten Geigerinnen der Welt werden …
In zähem Ringen erwarb sich Martzy daraufhin bei zwei von Hubay empfohlenen Lehrern – immer streng überwacht von ihrer ehrgeizigen Mutter – die nötige Technik, ihre »Gottesgabe« zu fassen. 1943 war es so weit: Mit dem bedeutenden Dirigenten Willem Mengelberg, der gerade auf Gastspiel in Budapest weilte, absolvierte Johanna Martzy ihr erstes großes Konzert: Das Debüt galt dem Violinkonzert Peter Iljitsch Tchaikowskys.
Auf der Flucht
Doch der Weltkrieg neigte sich dem Ende zu, die Deutschen besetzten Ungarn und die jüdische Familie Martzy mußte versuchen, der Verhaftung zu entgehen. Johanna gelang es, über die Grenze bis nach Tirol zu fliehen – doch dort wurde sie von einer Streife aufgegriffen und interniert.
Nach der Befreiung durch die französischen Truppen konnte Martzy mit ihrem Ehemann, dem Dirigenten Béla de Csilléry in die Schweiz emigrieren. Ein zweiter Platz – bei nicht vergebener Goldmedaille – beim Genfer Musikwettbewerb sicherte Johanna Martzy Aufmerksamkeit. Das Preisträgerkonzert unter Carl Schuricht markierte den Beginn einer kurzen aber wichtigen Aufführungsserie: Das Orchestre de la Suisse romande unter Enerest Ansermet engagiert die junge Künstlerin 1948 für Aufführungen von Bartóks Rhapsodie I und Mozarts Viertem Violinkonzert, das in der Folge unter Eugen Jochum für die Deutsche Grammophon aufgenommen wurde.
Stradivari »ex Huberman ex Kreisler«
Im Jahr darauf erhielt Martzy die Gelegenheit, ein Instrument von Carlo Bergonzi von 1733 zu spielen – ein Gönner stellte der Künstlerin diese Geige hinfort zur Verfügung; selbst der Erwarb von Bronislaw Hubermans Stradivari »ex Kreisler« hat die Martzy nie davon abbringen können, weiter auf ihrem geliebten Instrument zu spielen und Aufnahmen zu machen.
1952 absolvierte Martzy ihr Debüt mit den Berliner Philharmoniker (unter Joseph Keilberth), 1957 die erste USA-Tournee. Dirigenten wie Clemens Krauss, Otto Klemperer, André CLuytens oder Leonard Bernstein holten sie aufs Podium. Nachdem die Aufnahmen des Dvorak-Konzerts unter Fricsay und Mozarts KV 218 unter Jochum für die Deutsche Grammophon sogleich Kultstatus erlangte, warb Walter Legge die Geigerin für seine Columbia-Aufnahmen ab. Doch entstanden nur wenige Einspielungen, denn zur gleichen Zeit hatte das Label auch die russischen Meistergeiger David Oistrach und Leonid Kogan engagiert. Martzys Vertrag wurde nicht verängert.
Auch die Zeitläufte sorgte für einen empfindlichen Karriereknick: Die Musiker der Tschechischen Philharmonie protestierten – wohl auf staatlichen Druck – gegen einen gemeinsamen Auftritt mit Johanna Martzy beim Edinburgh Festival: Sie hatte sich allzu klar gegen die kommunistische Landnahme in Osteuropa positioniert – was ihr prompt als Parteinahme für die faschistische Diktatur in Ungarn unter Admiral Horhty ausgelegt wurde. Das war zwar absurd, führte aber in der Folge zu einer starken Reduktion der Angebote.
Mittlerweile hatte Martzy sich auch scheiden lassen und den wohlhabenden Verleger Daniel Tschudi geheiratet. Der gemeinsamen Tochter widmete sich die Künstlerin liebevoll. Letzte Konzertreisen führten die Geigerin, die sich rar machte, nach Südamerika (1961) und in die USA (62/63), zu den Proms in London und einmal auch – gegen alle politische Überzeugung – nach Budapest, wo sie ihre Mutter wieder sah, die in Ungarn geblieben war.
Bei diesem Aufenthalt wurde eine Leberentzündung diagnostiziert, an deren Folgen Martzy noch lange laborierte. Hinfort lebte sie Zurückgeogen in der Schweiz, wo sie am 13. August 1979 starb. Ihre Schallplattenaufnahmen waren für Sammler längst zu Ikonen geworden.
Strauss: Intermezzo
Intermezzo
Text und Musik: Richard Strauss (1923)
Hofmannsthal und Herman Bahr winkten ab, so dichtete Richard Strauss den Text zu seiner »Home-Opera« selbst.
Der Briefwechsel zwischen Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal ist voll mit Ermahnungen des Komponisten, der die Suche nach Komödienstoffen und einen leichten Buffo-Tonfall einfordert. Was dem Komponisten vorschwebte, hatte der Dichter nur einmal wirklich realisiert: im nachgelieferten Vorspiel zu Ariadne auf Naxos. Die Mixtur aus Rezitativ und ariosen Einschüben, sogar mit Sprechtexten für einen Schauspieler durchsetzt, schien Strauss vorzüglich gelungen.
Der theatralische Ehekrach
Nun versuchte er, diesen Stil auf einen ganzen Opernabend auszudehnen und befand, sein eigenes Leben sei spannend genug, um ein Musiktheater-Publikum interessieren zu können. Die kapriziöse Ehefrau Pauline hatte ja auch Hofmannsthal als Vorbild für die Färbersfrau in der Frau ohne Schatten genannt. Und Strauss hatte sie als Des Helden Gefährtin schon 1898 in der Tondichtung Ein Heldenleben verewigt. Kurz nach der Jahrhundertwende hatte er sein Familienleben bereits in der Sinfonia domestica zum Klingen gebracht.
Nun fungierte ein – tatsächlich stattgefundener – Ehestreit im Hause Strauss als Ideenbringer für eine Opernhandlung, die in späteren Zeiten eine gute Folge für eine TV-Hauptabend-Komödie hergegeben hätte. Die Opernwelt wollte von solchen realistischen bürgerlichen Selbstbespiegelungen inklusive Rodelbahn auf der Bühne nicht viel wissen. überdies schien der Konversationsstil, den Strauss den Gesangstimmen verordnete doch seine melodische Erfindungsgabe ein wenig gebremst zu haben. Der Komponist selbst hat ihn in späteren Werken nur passagenweise angewendet und erst in seinem Capriccio wieder darauf zurückgegriffen, um ihn mit der Formenwelt der alten Nummernoper zu vermengen.
Symphonische Zwischenspiele
Im Intermezzo setzt die Partitur durchwegs eher auf kleinteilige Charakterisierungskunst als auf große Vokallinie, von den Monologen der Ehefrau Christine und einem grüblerischen Selbstgespräch des verzweifelten, zu Unrecht der Untreue bezichtigten Kapellmeisters Storch bei Gewitter und Sturm in den Praterauen abgesehen.
So blieb Intermezzo ein Stück für geeichte Strauss-Verehrer, die freilich manche Köstlichkeiten in dem Werk entdecken können, die komponierten Kartenpartie am Beginn des zweiten Aktes etwa oder – vor allem – die großen Zwischenspiele, die von einer Szene zur andern überleiten; hier nimmt sich der Symphoniker Strauss Zeit, die Geschichte in Tönen auszuerzählen.
Daß das eine vergnüglich-besinnliche Angelegenheit sein kann, beweisen die wenigen, aber durchwegs künstlerisch hochwertigen Livemitschnitte und Studioproduktion. In Wien fand zum Strauss-Jahr 1964 eine Neuinszenierung im Theater an der Wien mit Hanny Steffek und Hermann Prey statt, die Joseph Keilberth am Pult liebevoll betreute.
In Glyndebourne sang – für das Konversationsstück folgerichtig auf Englisch – 1974 Elisabeth Söderström die weibliche Hauptrolle wunderschön. Und Wolfgang Sawallisch hat mit Lucia Popp und Dietrich Fischer-Dieskau eine fein geschliffene Studioversion des Stücks für EMI realisiert . Da wird Intermezzo zu einem durchaus amüsant-hintergründigem Hörspiel mit Musik.
Wer die Handlung auch sehen möchte, findet im Netz gewiß den → TV-Mitschnitt der von Joseph Keilberth glänzend dirigierten Münchner Produktion von 1963 (wiederum mit Hanny Steffek und Hermann Prey). Damals hatte man noch den Mut, die szenischen Anweisungen des Komponisten wirklich auf Punkt und Komma umzusetzen – also wird bei Rudolf Hartmann – in einem Bühnenbild von Jean-Pierre Ponnelle! – wirklich gerodelt…
Isolde Ahlgrimm
1914 – 1995
Schon während ihrer Ausbildung an der Wiener Akademie (bei Emil von Sauer und Franz Schmidt) wandte sich die Pianistin dem Cembalo zu, dem sie seit 1937 ausschließlich treu blieb. Damit wurde sie Seite an Seite mit ihrem Mann, Erich Fiala, einem kundigen Sammler alter Instrumente, zu einer Pionierin der Beschäftigung mit barocker und vorbarocker Musik, was in jenen Jahren noch als exotisch galt.
Ahlgrimm lehrte nach 1945 an der Akademie (der späteren Musik-Universität) in Wien – mit einem Intermezzo, das sie von 1958 bis 1962 ans Salzburger Mozarteum führte.
Ihr Erbe an Tonaufnahmen ist ungemein fruchtbar. Sie spielte im Zuge von zyklischen Gesamtaufführungen in Wien unter anderem das Gesamtwerk Johann Sebastian Bachs für Cembalo ein.
In Sachen Bach war Ahlgrimm eine der ersten, die darauf bestanden, → Die Kunst der Fuge auf Cembalo aufzuführen.
Vor allem machte sie sich aber für in ihrer Zeit noch völlig unbekannte Musik für Tasteninstrumente aus dem Barock stark. Manches von Komponisten wie Sweelinck, Frescobaldi, nicht zuletzt aber in Österreich tätigen Meistern wie Muffat oder Poglietti entriß sie durch ihre Aufnahmetätigkeit der Vergessenheit.
Mit Alice und Nikolaus Harnoncourt nahm Ahlgrimm in den Fünfzigerjahre unter anderem auch Bachs Musikalisches Opfer auf. Die Aufnahme wurde von französischen Nationalbibliothek digitalisiert.
Isolde Ahlgrimms Aufnahme der Händel-Suiten
DIE BERNAUERIN
Ein wahrhaft „bairisches Stück“
Eine Oper ist es nicht. Sprechtheater im klassischen Sinne auch nicht. Eher ein Stück für zwei bedeutende Schauspieler mit kräftig-melodramatischer Musikuntermalung, Ein musiktheatralisches Zwitterwesen also.
Der Untertitel, „bairisches Stück” verrät schon, dass Carl Orff hier eine Kunstsprache konstruiert hat, um seinen Figuren, die mehrheitlich von Schauspielern dargestellt werden, auch in verbaler Hinsicht ein adäquates „klangliches” Umfeld zu gestalten. Die Sprache soll so bodenständig derb und hemdsärmelig tönen wie die pulsiernde, oft stampfende Orchesteruntermalung zu Bierstuben-Dumpfheit, unflätig laszivier Badstubenszene oder zur unzügelbaren Eigendynamik einer veritablen Volksaufwiegelung: Die bitterbös-gemeine Szene der Hexen, in der die Hinrichtung der Agnes Bernauer durch Ertränken im Fluß hämisch-lüstern kommentiert wird, galt seit der Uraufführung als einer der Höhepunkt Orffscher Theatralik. Wohl gerade weil diese „Hexen“ Sinnbilder für den ganz normalen Volks-Geifer darstellen.
Die Hauptdarsteller sind eine hübsche Baderstochter aus Augsburg und ihr Geliebter, der Herzogssohn, dessen Vater die Beziehung nicht goutiert und der jungen Frau nach dem Leben trachtet. Die Bernauerin schwebt bei entsprechend sensibler Darstellung fast unwirklich durchs Hurenhaus, wie ein Englein, in einer ihm nicht geheuren Mission auf Erden. Wenn der Herzogssohn ihr von blühenden Wiesen singt und irreale Zukunftsvisionen entwirft, scheint sie sich ahnungsvoll in vertrautere Gefilde zu träumen, und wenn sie in Todesangst der „Himmelsmuatta” eine „Honigkerzen” zu stiften verspricht, öffnet sich ihre Seele ganz.
Das taugt zu berührendem Bühnenspiel wie der verzweifelte Wutausbruch des jungen Liebhabers gegen den aus Standesdünkel zum Mörder gewordenen Herzog: „Ein Vattern hab i nit mehr“ – eine gewaltige Sprecharie, deren Poesie in ein unausweichliches emotinales Crescendo münden muß. Wenn auch hier die Musik schweigt, müssen musikalische Schauspieler am Werk sein, um den rechten Ton und die rechten dynamischen Differenzierungen zu treffen. Das gilt auch für die Rolle des eifernden Mönchs, der die Bürger verhetzen und die unstandesgemäße Herzogsbraut als Hexe vernadern muss: Nicht nur in der Hexenszene steckt beängstigendes Ausdruckspotential.Rein musikalisch bestehen muss nur ein lyrischer Tenor, der während der Liebesnacht hinter der Szene lyrischen Pianoschmelz verströmen muss.
Paul Hindemith
1895 – 1963
Paul Hindemith stammte aus Hanau, studierte am Hoch’schen Konservatorium, Frankfurt/Main Violine und Komposition und wurde 20jährig Konzertmeister des Frankfurter Opernorchesters. Ab 1922 spielte er sieben Spielzeiten lang Bratsche im von ihm selbst mitbegründeten »Amar-Quartett«. Ab 1923 engagierte sich Hindemith im Organisationsausschuss der Donaueschinger Musiktage, die zum Schauplatz der Uraufführung seines Streichquartetts op. 16 wurden, die ihn schlagartig als eine der zentralen schöpferischen Persönlichkeit der Neuen Musik in Deutschland erscheinen ließ.
Paul Hindemith weiterlesenKlaviersonate Nr. 4
Sonate c-Moll
- Allegro molto sostenuto
- Andante assai
- Allegro con brio, ma non leggiero
Die Sonate Nr. 4 ist die letzte der Jugendsonaten Prokofieffs und greift wie die drei Vorgängerwerke auf frühe Entwürfe zurück, die der reifende Komponist nach zehn Jahren überarbeitet und formal zielsicher umgestaltete. Das Werk ist dreisätzig und von elegisch-düsterer Grundstimmung.
Das einleitende Allegro stammt aus einer 1907/08 entstandenen Jugend-Sonate, die Prokofieff in seinem Kovolut »Aus alten Heften« gesammelt hatte.
Der Mittesatz ist eine stark überarbeitete Fassung eines Satzes aus dem Entwurf zu einer Symphonie in e-Moll und zeigt in der in einem großen Bogen atmenden Neugestaltung die innere Festigung von Prokofieffs Stil.
Das Finale ist von enormer Kraft, beinah verspielt in seinen akrobatischen Dialogen zwischen unterschiedlichen klassischen Bewegungsmodellen – die den Hörer immer wieder zu Fehlschlüssen verleiten: Die Musik hat, wiewohl freundlicher als in den ersten beiden Sätzen, spürbar einen doppelten Boden.
Die ersten Menschen
1912
Rudi Stephan – Otto Borngräber
Otto Borngräber hatte dem deutschen Establishment der Zeit um 1900 nicht nur als enragierter Pazifist (Friedensappell an die Völker) und Autor des präzis zur Jahrhundertwende publizierten Dramas Das neue Jahrhundert als Querdenker Nüsse zu knacken aufgegeben. 1908 brachte er mit dem Drama Die ersten Menschen eine theatralische Aufbereitung der Geschichte von Adam, Eva, Kain und Abel heraus, die ganz im expressionistischen Stil der Zeit unverhohlen sexuelle Triebkräfte der alttestamentarischen Handlung aufzeigt — das ausdrücklich als »Erotisches Mysterium« bezeichnete Stück wurde nach seiner Münchner Uraufführung, 1912, sofort für das gesamte Königreich Bayern verboten.
Doch war der jugendliche Komponist → Rudi Stephan von dem Sujet fasziniert. Er hatte den 13 Jahre älteren Borngräber 1909 anläßlich des Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musik-Vereins in Stuttgart kennengelernt.
Doch der Autor war an einer Zusammenarbeit mit dem damals völlig unbekannten jungen Musiker nicht interessiert. Die erotischen Konnotationen seines Dramas ließen ihn hoffen, daß einer der führenden Musikdramatiker jener Ära, allen voran Richard Strauss, sich für den Text interessieren könnten. Borngräber trieb daher seine Honorarforderungen in unerschwingliche Höhen. Selbst der potente Vater des Komponisten, Dr. Karl Stephan, mußte passen. Er unterzeichnete aber letztendlich einen Vertrag auf sofortige Zahlung von 6.000 Reichsmark, der am Uraufführungstag weitere 4.000 Reichsmark folgen sollten. Die Tantiemen für Borngräber sahen einen für Librettisten ungewohnt hohen Berechnungsschlüssel vor.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Stephan längst zu komponieren begonnen, und das, obwohl selbst vom Schott-Verlag warnende Stimmen kamen:
ieser Stoff zieht selbst die himmlischste Musik mit sich in den Abgrund.
Stephan unterbrach die Arbeit an der Oper freilich nur zur Fertigstellung der Musik für Geige und Orchester und der Musik für Orchester.
Die ersten Menschen waren im Sommer 1914 vollendet, kurz nachdem ein Vorvertrag für die Uraufführung mit der Frankfurter Oper unterzeichnet war. Schott wollte das Aufführungsmaterial herstellen und im Falle des Erfolgs ins Verlagsprogramm aufnehmen. Dann kam der Weltkrieg — die Aufführungschancen für eine Oper aus der Feder eines nach wie vor kaum bekannten Komponisten sanken gegen null.
Der Pazifist Borngräber war längst in die Schweiz emigriert. Er starb 1916 in Lugano. Rudi Stephan mußte seinen Militärdienst antreten und fiel 1915 an der russischen Front in der Nähe des galizischen Tarnopol. Seine Oper kam am 1. Juli 1920 in Frankfurt zur Uraufführung. Der Freund Stephans aus Wormser Jugendtagen, Karl Holl, erstellte später eine Fassung derErsten Menschen, die um einige der »anstößigsten« Passagen des Textes bereinigt, eine weitere Verbreitung sicherstellen sollte. Diese Fassung wurde erstmals 1924 in Münster gespielt und erlebte an die 30 weiteren Einstudierungen bis in die Fünfzigerjahre.
Erster Akt
Nach dem Sündenfall. Adahm muß im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdienen. Seine Frau Chawa und Söhne Kajin und Chabel träumen vom verlorenen Paradies, Chawa sehnt sich danach, von Adahm wieder körperlich begehrt zu werden. Kajin entdeckt im Anblick seiner Mutter seine sexuellen Triebe. Die Mutter wendet sich entsetzt von ihm ab. Der heimkehrende Chabel bringt mit seiner Vision eines gütig-allmächtigen Gottes Trost.
Zweiter Akt
Chabel beobachtet Chawa, die nachts vor dem Opferstein ekstatisch darum fleht, wieder von ihrem Mann begehrt zu werden. Kajin schleicht herbei und erkennt, wie begierig der Bruder die Mutter betrachtet. Eifersüchtig stürzt er sich auf Chabel und erschlägt ih.
Chawa verflucht den mörderischen Sohn. Adahm kann sie daran hindern, Kajin zu töten. Der Sohn flieht. Das Paar preist die Heraufkunft des neuen Tages als Symbol der Hoffnung auf eine kommende, bessere Welt.
Eine beeindruckende Wiedergabe des Werks entstand 1998 mit Gabriela Maria Ronge und Sigmund Nimsgern als Adam und Eva anläßlich einer konzertanten Live-Aufführung im Konzerthaus Berlin unter Karl-Anton Rickenbacher. (cpo)
Die früheste Aufnahme entstand 1952 in Frankfurt unter Wilfried Zillig mit Erna Schlüter und Ferdinand Frantz. (classical moments)
Rudi Stephan
1887 – 1915
Am 29. September 1915 fiel der deutsche Soldat Rudi Stephan bei Tarnopol in Galizien (heute Ukraine) auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs. Er war 28 Jahre alt – und galt trotz seiner Jugend in Friedenszeiten als einer der Hoffnungsträger der deutschen Musik, Seine Oper → Die ersten Menschen, seine symphonischen Werke, die (zweite) Musik für Orchester, die Musik für Geige und Orchester hatten ihn in die erste Riege der jungen Komponisten katapultiert.
In einem Nachruf, den Kasimir Edelschmid 1915 in der »Frankfurter Zeitung« publizierte hieß es:
Sein Gerechtigkeitssinn war von solch glasharter Schärfe und Durchsichtigkeit, dass es das Auskommen mit ihm erschwerte. Er war weniger impulsiv als abwägend. Kleinigkeiten, über die andere, auch vornehme Menschen, lächelnd weggingen, beschäftigten sein moralisches Bewusstsein lange … In all seinen Handlungen, selbst in seinem Lachen, das er gern und tief lachte, war ein besonderer Ernst. Sein Urteil war gerecht und radikal wie bei Menschen, die, von innerer Berufung schlicht überzeugt, für eine Sache leben. Ich glaube nicht, dass seinem Wesen die große Güte fehlte, die die Grundlage einer großen Leistung ist. Er war ohne Aufheben von sich überzeugt mit der inneren Bescheidenheit der mittelalterlichen Meister.
Prägungen
Studiert hatte Stephan, der sich schon in seiner Gymnasialzeit vor allem für die musischen Dinge interessiert hatte und daher ein schlechter Schüler war, bei Bernhard Sekles (1872-1934). Dieser wiederum war einer der profiliertesten Kompositionsprofessoren seiner Generation. Zu seinen Schülern zählten – nach Staphen – Paul Hindemith, Hans Rosbaud (1895-1962) und Theodor W. Adorno (1903-69).
Nach seiner Übersiedlung nach München setzte Stephan seine Studien bei Rudolf Luis (1861 – 1907) fort, der ihn mit der Ästhetik des Kreises um Ludwig Thuille (1861-1907) vertraut amchte, die wiederum Richard Strauss und Hans Pfitzner nahestand. — Wobei Juliane Brand, die die essentielle Stephan-Biographie geschrieben hat, darauf verweist, daß Stephan selbst in seinen autibiographischen Skizzen festgehalten hat, bei Sekles Harmonielehre und Klavier, bei Louis Kontrapunkt und Fuge studiert zu haben. Der Nachlaß Rudi Stephans wurde 1945 durch die Explosion einer Brandbombe am Tag nach dem schwersten Bombenangriff auf Worms zerstört. Angeblich hat sich darin keine einzige Kompositionsübung gefunden, die auf einen nachhaltigen Kompositions-Unterricht hätte schließen lassen.
Der Zug der Zeit
Mit dem handwerklichen Rüstzeug des Tonsatz-Studenten und auf die Kraft der Inspiration vertrauend, entwarf der nach dem Zeugnis von Freunden langsam und bedachtsam arbeitende Rudi Stephan Skizzen über Skizzen hervor, an denen er ständig feilte und verbesserte. Sein Oeuvrekatalog begann mit einer lediglich im Entwurf beendeten Marcia eroica (1905). Auch die Werke des folgenden Jahres — Ballettszene, Scherzo und Idylle — blieben unfertig liegen.
Als eine Art Abschlußarbeit während des Studiums bei Rudolf Louis bildete das am 1. Juli 1908 in München vollendete »Opus I« für Orchester, ein einsätziges Werk, dem der Komponist sein Motto voranstellte:
Vorwärts sehen, vorwärts streben — keinen Raum der Schwäche geben!
Das Musterstück für die später so erfolgreiche Musik für Orchester war geboren. Die Partitur dieses »Opus 1« fand sich nach dem Zweiten Weltkrieg unter der irrtümlichen Verschlagworung Rudi Stephan: »Konzert für Orchester« in einem Archiv in München.
Offenbar hatte das Münchner Konzertvereins-Orchester das Werk zurückgewiesen und Stephan hatte das Manuskript nicht zurückgefordert —. ein Glücksfall für die Musikwissenschaft, da es andernfalls vermutlich bei dem Bombenangriff auf Worms vernichtet worden wäre.
Als » Opus II« schrieb Stephan 1909 eine heute nicht mehr auffindbare Version seines Liebeszaubers für Tenor und Orchester, als »Opus III« folgte 1910 die (erste) Musik für Orchester, die Stephan später zurückzog und 1912 durch ein gleichnamiges, aber völlig anderes, knapperes Werk ersetzte.
Ein erstes Privatkonzert
Ob das »Opus IV« eine Musik für Geige und Orchester von 1910/11, eine Vorform zum heute bekannten Werk gleichen Namens darstellte, oder — wie die erste Musik für Orchester — ein anderes Werk gewesen ist, kann nicht ermittelt werden. Die Partitur ist verschollen.
Diese (erste) Musik für Geige und Orchester hielt der skrupulöse Stephan jedenfalls für aufführenswert. Da niemand sich für eine Musik interessierte, stellte sein Vater Geld zur Verfügung, um ein privates Konzert mit dem Münchner Konzertvereins-Orchester zu veranstalten. Bei dieser Gelegenheit stellten der Geiger Wolfgang Bülau die Geigenmusik, der Tenor Adolf Wallnöfer den Liebeszauber vor. Der 16. Januar 1911 ist also in die Annalen als erstes wichtiges Uraufführungsdatum von Werken Rudi Stephans eingegangen. Doch spielte das Konzertvereins-Orchester die ungewohnte Musik nach übereinstimmender Zeugenaussage eher lustlos herunter, nachdem Chefdirigent Ferdinand Loewe die Partituren als »chinesisch« und »völlig unverständlich« bezeichnet hatte.
Die mehrheitlich ablehnende Haltung löste in dem unermüdlich an sich arbeitenden Stephan einen Reflexionsschub aus. Er revidierte vorhandene Partituren und schuf Neues, ohne sich in seiner grüblerischen, akribischen Arbeit irritieren zu lassen.
Neue Sachlichkeit
In dieser Phase brachte Stephan zwei wesentliche Werke für den Konzertgebrauch zu Notenpapier: Die Musik für Orchester und die Musik für sieben Saiteninstrumente. Es sind früheste Dokumente einer Geisteshaltung, die sich von der spätromantischen Programmusik ab- und einer sachlich-distanzierten Musizierhaltung zuwandte, die von Meistern wie Paul Hindemith und – in anderem Umfeld – Igor Strawinsky später kultiviert wurde und zur »Neuen Sachlichkeit« beziehungsweise zum » Neoklassizismus« führen sollte.
br> Heinz Tiessen, ein Komponisten-Freund Rudi Stephans, stellte nach den Uraufführungen der beiden Werke (1912 und 1913) fest:
Wie eine Fanfare des resolutesten Abrückens von der Programm-Musik wirkten auf den Musikfesten der Jahre 1912 und 1913 die Titel, die Rudi Stephan seinen Werken gab: »Musik für sieben Saiteninstrumente, Musik für Orchester.« Wichtiger aber als der Titel war — im zweiten Werk — die neue, frische, knappe Energie der Musik selbst, die (trotz Delius und Reger) das übrige Jenenser Festprogramm weit hinter sich ließ.
Tod im Schützengraben
Am 2. März 1915 wurde Rudi Stephan zum Kriegsdienst einberufen. Die Reise an die Front führte über Berlin – wo er sich nicht überwinden konnte, den Freund Heinz Tiessen aufzusuchen. In einem Brief vom 6. August 1915 begründete er diese Verweigerung:
Wäre ich nun so, wie ich es ja wollte, erst recht zu Ihnen gegangen und wäre ich durch Sie noch mehr meinen Musik- Sehnsüchten verfallen — es wäre an sich eine schöne Stunde geworden; aber auch umso grässlicher wäre das Erwachen gewesen auf der Rückfahrt im Nachtzug im Abteil — ‚für Militärpersonen‘!
Der Tod durch eine feindliche Kugel ereilte den Komponisten-Soldaten schon wenige Tage nach der Ankunft an der Front, wo einander deutsche und Russische Truppen gegenüberlagen. Der Kompanieführer berichtete an Stephans Eltern:
In der Nacht vom 28. auf 29. griffen uns die Russen an und waren in der Dunkelheit bis an den Draht herangekommen. Der Angriff wurde abgeschlagen, sodaß wir, als wir am Abend des 29. das Kampffeld absuchten, im Raum von 100 Meter 150 Tote und 40 Schwerverwundete fanden, außerdem noch 35 unverwundete Russen, die sich vor unserem Hindernis eingegraben hatten. Einer von diesen letzteren hat nun auf Ihren Sohn — es war zwischen 9 und 10 Uhr morgens — einen Schuß abgegeben, wie dieser durchs Glas das Vorgelände beobachtete vom Schützengraben aus und ihm einen Kopfschuss beigebracht, sodaß er sofort tot war. Ob nun etwas Unvorsichtigkeit dabei war, das kann ich nicht feststellen. Wir haben ihn hinter unserer Front abends unter Schutz der Dunkelheit mit allen Ehren begraben.
Juliane Brand teilt in ihrer Stephan-Biographie noch einen Bericht Karl Holls mit, der private Nachforschungen angestellt hatte:
Offenbar hatten während der Nacht auf den 29. September die verwundeten Russen im Schmerzdelirium unablässig geschrieen, nur wenige Meter von den deutschen Stellungen entfernt. Aus Verzweiflung und vor Erschöpfung geriet Stephan so außer sich, dass er am Morgen plötzlich, ehe seine Kameraden es noch verhindern konnten, mit den Worten, »ich halt’s nicht mehr aus!« im Schützengraben aufsprang und sich weit über die Brustwehr erhob. Er war ein allzu leichtes Ziel.
Der Dirigent Kirill Petrenko hat sich als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker auch für die Musik Rudi Stephans stark gemacht und seine ersten CD- und DVD-Bilanz auch Werken dieses Komponisten gewidmet.