Antonín Dvořák als Symphoniker
An den symphonischen Werken von Antonín Dvořák läßt sich die stilistische Bandbreite seines Schaffens gut ablesen. Scheu vor der Begegnung mit großen klassischen Formen hatte dieser Komponist nie.
Im Gegenteil.
Er hat sich Sonate und Symphonie in gerade zu naiver Offenheit genähert. Wobei sein Frühwerk im Banne divergierender Einflußsphären steht:
Da ist einmal, wie denn auch anders?, das Vorbild Ludwig van Beethoven.
Da ist andererseits aber auch die „Zukunftsmusik“ der sogenannten Neudeutschen Schule um Franz Liszt.
Symphonie Nr. 1 c-Moll
So experimentiert Antonín Dvořák als 24-jähriger zunächst einmal ungeniert mit der klassischen viersätzigen Form. Freilich der Ersten Symphonie durchaus auch ein Programm zugrunde liegen. Zumindest der Untertitel, den das Werk von späteren Kommentatoren erhalten hat, läßt das vermuten. Jedenfalls ist die Einleitung zum ersten Satz vom Glockengeläute in dem böhmischen Ort Zlonice inspiriert, wo Dvořák seine Fleischhauerlehre absolvierte, nach einiger Zeit aber beschloß, Musiker zu werden.
Bei aller formalen Unausgewogenheit der Ersten Symphonie ist genau dieser bewegten Einleitungs-Musik mitreißende Inspiration nicht abzusprechen. Da meldet sich schon der originelle, später oft visionäre Komponist.
Symphonie Nr. 2 B-Dur
Die Zweite Sinfonie entstand etwa zur gleichen Zeit wie der Streichquartett-Zyklus Zypressen, der wiederum als eine Art Liederzyklus »ohne Worte« eine Reihe von tönenden Liebesbriefen an Dvořáks spätere Frau Anna Czermak darstellt.
Etwas von dem schwärmerischen Tonfall der nach Gedichten geformten Zypressen ist auch in der Symphonie auszumachen, die der Komponist, anders als sein Erstlingswerk, einer Veröffentlichung für wert erachtete.
Spät, aber doch, kam die B-Dur-Symphonie 1888 in einer von Dvořák eigens hergestellten revidierten Fassung zur Aufführung.
Symphonie Nr. 3 Es-Dur
Nach der Zweiten hat sich der Komponist lange Zeit gelassen, bis es sich wieder der symphonischen Farm zuwandte.
1873 entstand die Dritte Symphonie, die sich nun ganz im Fahrwasser der Liszt-Schule bewegt.
Diese Es-Dur-Symphonie ist die einzige aus Antonin Dvořáks Feder, die nur dreisätzig angelegt ist. Sie verzichtet auf ein Scherzo und stellt einen mehr als viertelstündigen langsamen Trauermarsch, der durch aus als eine Art böhmischer Kreuzung zwischen Beethoven und Wagner zu interpretieren ist, ins Zentrum.
Von hinreißendem melodischem Schwung getragen ist der erste Satz, während das lebhafte Finale doch ein wenig eintönig abläuft.
Symphonie Nr. 4 d-Moll
Noch näher an die ästhetische Welt von Franz Liszt rückt die Vierte Symphonie aus dem Jahr danach. Das Werk ist zwar wieder viersätzig gehalten, erinnert aber im Tonfall eher an eine der symphonischen Dichtungen Franz Liszts (das Raunen der Bergsymponie ist am Symphoniebeginn nah!) als an die Klangwelt eines Johannes Brahms, der sich ja zur selben Zeit erst die symphonische Form erobert.
Die Symphonien Nr. 5 und 6
Freundlicher, geradezu ländliche Töne schlägt die ein Jahr nach der Vierten entstandene Fünfte Symphonie in F-Dur an. Hier nähert sich Dvořák das erste Mal seinem Mentor Brahms an, dessen Einfluß in der 1880 entstanden im Sechsten Symphonie in D-Dur ganz offenkundig wird.
Hier geht Antonín Dvořák bis an die Grenze des bewußten Zitats: Der Anfang des Finalsatzes der Sechsten klingt frappierend nach dem Parallelstück im Brahms Zweiter Symphonie in derselben Tonart, die drei Jahre vor Dvořáks Werk entstanden ist.
Nicht überhören sollte man die Parallelen zur Symphonik Franz Schuberts, die Dvořák besonders geschätzt hat. Noch nach vollendung seiner letzten Symphonie schrieb Dvořák für die Publikation in New York einen Artikel über Schuberts Musik, in der er schreibt:
Ich zögere nicht zu sagen, daß ich Schuberts Lieder liebe, aber seine Instrumentalmusik noch höher schätze ... Was Schuberts Symphonien anlangt, stelle ich sie gleich hinter Beethoven, weit vor Mendelssohn und vor Schumann ... Die große C-Dur-Symphonie ist ein einzigartiges Werk der Musikliteratur ... Der Reichtum, die Farbigkeit dieser Musik ist unglaublich.
Symphonie Nr. 7 d-Moll
Mit der 1885 vollendeten Siebenten Symphonie in d-Moll nabelt sich Antonín Dvořák endgültig von allen Vorbildern ab und wird quasi in einer Vereinigung der zuvor disparat nebeneinander stehenden Stilrichtungen ganz er selbst: Der dramatische Atem der symphonischen Dichtungen der Franz Liszt Schule paart sich hier mit einer wohl ausbalancierten Formbeherrschung, die jegliches klassizistische Schablonendenken hinter sich gelassen hat.
Symphonie Nr. 8 G-Dur
Entsprechend verblüfft haben die Zeit genossen vier Jahre später auf Dvořáks Achte in der Volkslieder-Tonart G Dur reagiert. Hier wird die Antithese zur feurig-dramatischen Siebenten formuliert, hier gehen freie Inspiration und formale Fantasie Hand in Hand.
Die Achte ist nicht minder originell als die folgende, ungemein populäre Neunte, die so genannte Symphonie aus der neuen Welt, und sie gehört unteilbar Antonín Dvořák Genie.
Symphonie Nr. 9 e-Moll
Für seinen Aufenthalt in New York schrieb der Komponist seine letzte viersätzige Symphonie und zog damit die Summe seiner jahrzehntelangen Arbeit an der klassischen Form, die er sich mit den beiden vorangegangenen Werken bereits vollständig anverwandelt hatte.
Die Neunte ist nun von einer fast improvisatorisch anmutenden, freien Fabulierlust und bedient sich simpler melodischer Floskeln, die zum Teil an die amerikanische Folklore angelehnt sind (die wiederum des öfteren durchaus mit der böhmischen verwandt zu sein scheint....)
Das Publikum hat dank dieser Eigenschaften diese Symphonie sofort geliebt und sie wurde zu einer der meistgespielten Symphonien des Repertoirekanons.
Doch stellt sie bei aller Zugänglichkeit gleichzeitig eine der kunstvollsten Bewältigungen der symphonischen Form dar, die je vorgelegt worden sind. Dvořáks handwerklicher Meisterschaft gelingt es, sukutane motivische Beziehungen über die vier Sätze gespannt herzustellen und dem Gesamtwerk einen präzis kalkulierten tonalen Plan zugrunde zu legen. Eine der zugänglichsten Symphonien der Musikgeschichte ist gleichzeitig eine der komplexesten.
Ab nun wirkt dieser Komponist auch inspirierend für die folgende Kompoisten-Generation und hat alle gedanklichen fesseln abgelegt: Gustav Mahler oder sogar Arnold Schönberg verdanken Dvořák mehr als die Musikforschung bisher entdeckt beziehungsweise zugegeben hat.
Späte Tondichtungen
Bemerkenswert ist, daß Antonín Dvořák nach seiner in jeder Hinsicht vollendeten Neunten die viersätzige symphonische Form nicht mehr gereizt zu haben scheint. In rascher Folge entstehen nach Dvořáks Rückkehr aus den Vereinigten Staaten fünf Tondichtungen, von denen vier von tschechischen Märchen-Balladen Karel Jaromir Erbens inspiriert sind: Der Wassermann
In seinem Spätwerk wendet er sich der einsätzigen symphonischen Dichtung nach Franz Liszts Vorbild zu und formuliert sie auf seine Weise neu. (Übrigens parallel mit dem so anders gearteten Richard Strauss.)
die Mittags Hexe
die Waldtaube
das goldene Spinnrad.
Den vier zum Teil schaurig-abgründigen Märchenerzählungen folgt als Opus 111 noch
Heldenlied - die Nähe zu Richard Strauss wenig älter heim ein Heldenleben, dass in der selben Tonart Es-Dur steht, ist oft bemerkt worden.
Die vier Märchen Balladen hingegen sind unverwechselbar Schöpfungen Des böhmischen Meisterkomponisten, der kurz danach auch auf dem Opernsektor sein absolutes Meisterwerk liefern wird: die dem Märchenton der symphonischen Dichtungen Verwandte Rusalka.