Alle Beiträge von sinkothekar

Tristan und Isolde

Die besten Aufnahmen

Die Hieroglyphe der Moderne

Vor 150 Jahren wurde in München »Tristan und Isolde« uraufgeführt, ein Werk, das wie kein anderes Epoche gemacht hat. Mit dem berüchtigten »Tristan«-Akkord begann die musikalische Moderne. Die Wurzel bilden Liebe und Todesfurcht.

Ob sich jemand im Auditorium der Münchner Hofoper im Klaren darüber war, daß er einem historischen Ereignis b...

für PREMIUM-ABONNENTEN

Upgrade unter MEIN ABONNEMENT/Subscriptions

IL TROVATORE

CD-TIPP

Herbert von Karajan – Leontyne Price, Ettore Bastianini, Franco Corelli, Giulietta Simionato
(Salzburger Festspiele 1962 DG)
  1. Il trovatore Salzburg 1962 Leontyne Price Franco Corelli Ettore Bastianini
  2. Giulietta Simionato
  3. Leontyne Price Ettore Bastianini Franco Corelli
  4. Giu8lietta Simionato Ettore
  5. Bastianini Franco Corelli Leontyne Price
  6. Leontyne Price Franco Corelli
  7. Wr. Philharmoniker - Herbert von Karajan

Troubadour und Wien – heikle Beziehung

Verdis Troubadour, das war im 19. Jahrhundert der Inbegriff der italienischen Oper, viel gespielt und an Popularität nur für einige Zeit von Gounods Faust übertroffen. Heute ist das Werk einer der „Angstgegner“ von Intendanten, weil es schwierig geworden ist, Sänger zu finden, die der heiklen Mixtur aus höchster Expressivität und artifizieller Stimmbeherrschung fähig sind. Spannend zu verfolgen, wie dieses Werk, allen Vorwürfen einer unverständlichen Handlung zum Trotz, dank seiner musikalischen Aussagekraft auch in Wien sogleich zum Publikumsfavoriten wurde – und lange Zeit den Spielplan beherrschte. Dagegen konnte auch ein mächtiger Kritiker wie Eduard Hanslick nichts ausrichten, dessen ästhetische Vorbehalte ja nicht nur, wie die Fama will, Richard Wagners Werke trafen, sondern auch Verdi. Nach der Erstaufführung des Troubadour konstatierte der Kritiker der Neuen Freien Presse zwar das „intensive Talent“ des italienischen Meisters, hielt ihm aber „künstlerische Roheit“ vor. An „dramatischer Energie“ übertreffe Verdi zwar seine Vorgänger Bellini, Donizetti und Rossini, doch sei er ihnen „als Musiker“ unterlegen und neige vor allem dazu, „gute Anfänge“ stets mit „einem trivialen Satz“ abzuschließen. Solche Vorbehalte hatte das Publikum offenbar nie. Jedenfalls stand das Werk bereits kurz nach der Eröffnung des neuen Hauses am Ring auf dem Hofopern-Spielplan und hielt sich dort so gut wie ohne Pause – in deutscher Sprache.

Die Ära Karajan

Im Zuge der Neubewertung der Italianità in der Oper nach der Landnahme Herbert von Karajans änderte sich auch die Sicht auf den Troubadour. Alles begann mit dem Gastspiel einer Tourneeproduktion, die Karajan mit Maria Callas und Giuseppe di Stefano von Mailand aus unternahm. Donizettis Lucia di Lammermoor stand auf dem Programm – und der Triumph dieser legendären Aufführungsserie sicherte dem Dirigenten die endgültige bedingungslose Hingabe des Wiener Publikums; und den Posten des Staatsoperndirektors, nachdem Karl Böhm von Angriffen gegen seine Person entnervt das Handtuch warf.

In der Folge nutzte Karajan seine Doppelposition – er war auch einer der führenden Köpfe an der Mailänder Scala –, um die Aufführungen italienischer Opern in Wien zu revolutionieren. Ab sofort wurde in Originalsprache gesungen, und die Sänger waren mehrheitlich nicht mehr die Spitzen des eigenen Ensembles, sondern illustre Gäste. Überdies arbeitete man mit den Salzburger Festspielen zusammen, bei denen Karajan einen weiteren Tabubruch beging. Er nahm den Troubadour ins Programm. Das kam einem Sakrileg gleich. Salzburg war die Hochburg Mozarts und von Richard Strauss. Man hatte Verdi zwar für Choryphäen wie Arturo Toscanini oder Wilhelm Furtwängler angesetzt, doch stets waren es Werke, die immerhin auf Stücken Shakespeares oder Schillers basierten. Karajan hatte sich mit dem Don Carlos in diese Reihe gestellt.

Nun aber folgte der ganz und gar nicht „literarische“  Troubadour, dessen Libretto seit jeher Anlass zu Kritik gab. Puristen waren empört, doch Karajan lobte die theatralische Schlagkraft des Stoffs und die Unmittelbarkeit, mit der Verdi als Klangpsychologe die Tiefe von Uremotionen lotet. Das Publikum war glücklich, gingen doch Karajans interpretatorischer Impetus und vokale Gestaltungskünste eine ideale Verbindung ein.

Titelheld Franco Corelli eroberte dank blendender Erscheinung und ebensolcher Klangentwicklung alle Herzen, Leontyne Price war eine hinreißende Leonore. Bald sah man die Produktion auch in Wien – in ähnlicher Besetzung. Der Triumph war so durchschlagend, dass Karajan seine Troubadour-Produktion auch als Auftakt seines legendären Comebacks nach 13 Jahren Wien-Abstinenz wählte. Neben Christa Ludwig und Piero Cappuccilli war wieder die Salzburger Leonore, Leontyne Price, dabei, diesmal an der Seite von Luciano Pavarotti, auf den die Wiener nach seinen ersten Erfolgen ebenfalls lange Jahre hatten warten müssen.

Eklat – Placido Domingo als Retter

Beim Trovatore 1978 kam es zu einem Eklat. Zur Vorbereitung der TV-Übertragung setzte man kurzfristig eine Zusatzvorstellung an, bei der überraschte Staatsopern-Abonnenten in den Genuss einer Karajan-Aufführung kamen. Doch gingen sie im dritten Akt des Tenors verlustig: Franco Bonisolli, der Mann mit dem vermutlich sichersten hohen C der jüngeren Operngeschichte, warf unmittelbar vor der „Stretta“ sein Schwert auf die Bühne und verließ dieselbe. Karajan behielt die Nerven, gab den Auftakt, und Wien erlebte die wohl einzige Verdi-Cabaletta, in der nur das Orchester musizierte und der Chor sang, aber die Solostimme ausblieb. Den Manrico sang zwei Tage später anlässlich der Fernsehausstrahlung Placido Domingo . . .

Karajans Troubadour-Produktion blieb dann noch viele Jahre im Repertoire. Wobei sich mehr und mehr herausstellte, dass vor allem die Titelpartie immer schwieriger zu besetzen war – und die philologischen Ansichten von Interpreten und Opernfreunden über die »Stretta« weit auseinandergingen. Tatsächlich steht das hohe C nicht in Verdis Partitur. Doch erachten Verdianer es als unsportlich, wenn Tenöre darauf verzichten. Diese denken ebenso und lassen die Szene lieber einen Halbton nach unten transponieren. Sie singen ein hohes H – und ernten in aller Regel begeisterten Applaus dafür.

Skandal um István Szabó

Erst Anfang der Neunzigerjahre kam es an der Staatsoper endlich zu einer Neuinszenierung, die freilich in einem mittleren Desaster endete. Nicht, weil der damals neue Direktor Ioan Holender keinen strahlenden Manrico finden konnte in der damaligen Tenornotlage. Aber Filmregisseur István Szabó ließ das Werk im Nachkriegs-Wien spielen, erinnerte mit den Dekors an die zerbombte Staatsoper und die Flaktürme. Dergleichen ist hierzulande nie gut angekommen. So wurden Troubadour-Aufführungen rar, was die Direktoren auch der schweren Aufgabe entband, adäquate Interpreten für den Titelhelden zu finden. Ganz zu vernachlässigen ist ein solches Spitzenwerk für ein Haus wie die Staatsoper aber doch nicht. 15 Jahre nach der letzten Vorstellung des Szabó-Missgeschicks stand dann doch wieder Il trovatore auf dem Spielplan, Roberto Alagna war der Manrico, Anna Netrebko seine Leonora, Ludovic Tézier der Graf Luna und Luciana D’Intino die Azucena, ein luxuriöses Quartett. Marco Armiliator dirigierte, Daniele Abbado hat inszeniert.

La Traviata

Abendplakat der Uraufführung

Ein Opern-Psychogramm

»Traviata«, eine »vom Weg Abgeirrte« nennt sich Violetta Valéry selbst - in einem Moment, da ihr niemand widersprechen könnte: Es ist das stille Gebet einer verzweifelten jungen Frau, die sich dem Tod nahe fühlt, die fürchtet, ihren Geliebten nie wieder sehen zu können und die Gott um Verzeihung bittet. Ein intimer Akt der Selbstbespiegelu...

für PREMIUM-ABONNENTEN

Upgrade unter MEIN ABONNEMENT/Subscriptions

Verdis »Otello«

zur Otello-Diskographie

Bühnenbild-Entwurf für die Mailänder Uraufführung (1. Akt)

Eine lange Schaffenspause hat sich Giuseppe Verdi nach seiner »Aida« gegönnt. Das Publikum sollte auch lange nicht erfahren, daß doch eine weitere Verdi-Oper in Arbeit war. Die Tatsache, daß sich Verdi zum zweiten Mal - nach »Macbeth« - einem Shakespeare-Drama zuwandte, blieb lange ein gut gehütetes Geheimnis ...

für PREMIUM-ABONNENTEN

Upgrade unter MEIN ABONNEMENT/Subscriptions

Verdi Traviata

DISKOGRAPHIE

Musik von Giuseppe Verdi.Libretto von Franceso Maria Piave, basierend auf dem Roman »Die Kameliendame« und dem gleichnamigen Theaterstück von Alexandre Dumas d. J.

Schon die ersten Takte des Orchestervorspiels verraten Giuseppe Verdis Absicht, hier neue Wege zu gehen: Nur Wagners Lohengrin hebt in jener Zeit vergleichbar irreal-schwebend mit vielstimmigen Violin-Klängen an...

für PREMIUM-ABONNENTEN

Upgrade unter MEIN ABONNEMENT/Subscriptions

Verdi Nabucco

Die älteste räsonable Aufnahme läßt uns Maria Callas in einer ihrer größten frühen Leistungen hören: Ihre Abigail setzte Maßstäbe in der Verdi-Interpretation.

Vittorio Gui – Gino Bechi, Gino Sinimberghi, Luciano Neroni, Maria Callas, Amalia Pini, Iginio Riccò, Luciano della Pergola, Silvana Tenti
(Neapel, 1949)



Leonie Rysanek in der »Callas-Partie« in einem fulminanten Live-Mitschnitt von der Met.

Thomas Schippers – Cornell MacNeil, Eugenio Fernandi, Cesare Siepi, Leonie Rysanek, Rosalind Elias, Bonaldo Giaiotti, Paul Franke, Carlotta Ordassy
(New York, 1960)


Lamberto Gardelli – Tito Gobbi, Bruno Prevedi, Carlo Cava, Elena Souliotis, Dora Carral, Giovanni Foiani, Walter Kräutler, Anna D‘ Auria
(Wien, 1965 – Decca)

Die Referenzaufnahme der Interpretation der Titelrolle durch Tito Gobbi, entstanden in Wien. (Philips/Decca)


Giuseppe Sinopoli – Piero Cappuccilli, Plácido Domingo, Evgeny Nesterenko, Ghena Dimitrova, Lucia Valentini-Terrani
(Berlin 1982, DG)

Das Musterbeispiel einer amibitionierten Studioproduktion mit großen Namen – und unverhältnismäßig geringem dramatischem Effekt. Immerhin: Für den großen Piero Cappuccilli zählt der Nabucco nicht unbedingt zu den zentralen Rollen, er hat sie hier aber doch für die Ewigkeit festgehalten (ein späterer Mitschnitt aus Verona läßt ihn nur noch mit Restbeständen seiner Stimme hören…)

VERDI

I

Verdi hat es geschafft, zum italienischen Nationalhelden zu werden - sein Name bedeutete den Kräften des Risorgimento nichts weniger als

V -- VittorioE -- EmmanueleR -- ReD -- d'I -- ItaliaBetrachtungen zur Musik

II

Als Komponist gelang es ihm, so gut wie die Hälfte seiner 26 Opern im internationalen Repertoi...

weiterlesen für  SINKOTHEK-ABONNENTEN

 

Phänomen Verdi

Giuseppe Verdi

1813 – 1901

Versuch über ein Musiktheater-Phänomen.

Es stimmt schon: Richard Wagner hat seine Violinen im »Lohengrin« achtstimmig spielen lassen. Das war drei Jahre früher. Und doch: Als im März 1853 im venezianischen Teatro Fenice Verdis »La Traviata« erstmals erklang, ereignete sich ein nicht viel weniger zauberhaftes Klangwunder. Beide Opern, die deutsche und die italienische, heben mit schwebenden, geradezu irrational leuchtenden Klängen an, die auf das Publikum der damaligen Zeit unerhört wirken mußten. Wagner haben die Musikforscher später seine ästhetische Vorreiterrolle nie streitig gemacht. Er war der kühne Entdecker neuer Farben, Formen und Harmonien im Reich der Musik. Aber Verdi?

Der italienischen Widerpart des Bayreuthers hätte in Wahrheit keineswegs als minder fortschrittlich, minder aufgeschlossen, minder zukunftsweisend in die Geschichte eingehen dürfen. Freilich: Die Simplizität, deren er sich des öfteren befleißigt, die ungenierte Melodienseligkeit, die seine Musik über weite Strecken auszeichnet, sie übertünchen das Revolutionäre, das selbst in populärsten Opern, wie eben die »Traviata« eine darstellt, auszumachen ist. Verdis Größe liegt in der Vereinigung von allgemeinverständlicher Theatralik und der Auslotung von Grenzwerten. Daß das Hand in Hand gehen konnte, ist das Wunder.

Und die Zeitgenossen mußten wirklich nicht auf das sogenannte Spätwerk warten, bis der Meister über seine Mittel dermaßen souverän gebot, daß er scheinbar Unvereinbares zu einen wußte. Nicht erst »Otello« sprengt alle Grenzen. 1847 hat in Florenz »Macbeth« Premiere, ein Stück unverfrorener musikalisch-theatralischer Drastik, das fast 100 Jahre warten mußte, bis es in Alban Bergs »Wozzeck« ein ebenbürtig realistisches, auf keine Opernetikette Rücksicht nehmendes Pendant erhielt. Tatsächlich: Auch Verdi hat sich nie wieder so weit in anarchische Gefilde vorgewagt: »Überhaupt nicht gesungen« soll werden, kommentierte der Komponist selbst vor der Uraufführung. Und die Lady Macbeth soll eine »rauhe, erstickte, hohle« Stimme haben! Alles ist Ausdruck, die schöne Melodie, der »Belcanto«, wie er im Buche steht, hat ausgedient.

»Mord am Belcanto«

Verdi, der Mörder des traditionellen Schöngesangs, so mochten ihn manche Kommentatoren seiner Zeit gesehen haben. Tatsächlich klafft ein schier unüberwindlicher Graben zwischen der poetischen Linienführung eines Bellini und den verhalten flüsternden, ja röchelnden Dialogen des mörderischen Paares aus der Werkstatt Shakespeare/Verdi. Die Stimme hat in »Macbeth« eine neue Aufgabe bekommen. Die gewonnenen Farbwerte waren zwar danach nicht allgegenwärtig. Aber sie waren da, bereit, im rechten Moment eingesetzt zu werden. Der musikalische Expressionismus hebt an. Daher ist der Vergleich mit Berg gewiß nicht zu weit hergeholt. Ärgere Zumutungen an die Stimmen seiner Darsteller als Verdi im »Macbeth« wagt der Wiener Opernmeister anno 1925 kaum.

Welche Metamorphose! Noch Rossini hat wenige Jahre vor Verdis ersten Erfolgen den spätbarocken Ziergesang aus den Opernhäusern zu verbannen versucht. Mühevoll und langsam sollte ihm das gelingen. Bellini hat dann eine neue Schlichtheit _ und damit mehr Wahrhaftigkeit des Ausdrucks _ eingebracht. Statt virtuoser, zirkusreifer Artistik dominierte plötzlich die ausdrucksvolle Vokallinie: Belcanto, Singen als Akt menschlicher Seelenbespiegelung. Auf den sorgsam modellierten, ausdrucksreichen Gesang war man denn auch eine Zeitlang voll konzentriert. Alles andere hatte dahinter zurückzutreten: das Orchester, versteht sich, vor allem aber auch die musikalische Architektonik.

Ein Schema und die Revolution

Den großen Vorgängern Verdis genügte ein verhältnismäßig dürftiges formales Gerüst. Seit Rossini dominiert auf den Opernbühnen das Schema der Aneinanderreihung solistischer und duettierender Szenen: Kontemplation, Aktion/Entschluß, Aufbruch _ dargestellt in Arie (Cavatina), Rezitativ und Cabaletta (Stretta). Der junge Verdi übernimmt das zunächst willig, zerstückelt es aber im ersten günstigen Augenblick seiner dramaturgischen Revoltierlust zuliebe. Bis hin zu Manricos großer Szene im Finale des dritten Akts des »Troubadours« kennt er die beschriebene »Doppelarie«, die den Helden ausreichend Gelegenheit gab, all ihre Kunstfertigkeiten in den Dienst der jeweiligen Handlung zu stellen: Besinnung, gefolgt von wildem Aufbegehren. Schon im Frühwerk sprengt Verdi jedoch den Schematismus, fügt kurze Ariosi in den Handlungsverlauf ein, wo es nötig scheint, und bringt die Primadonna hie und da auch um ihren wohlverdienten Schlußapplaus, indem er die Cabaletta einfach kappt. Ein Werk wie der »Don Carlos«, erstmals in Paris 1867 präsentiert, kennt überhaupt keine Schablonen mehr. Hier bewegt sich ein freier Geist ungezwungen, um eine der sensibelsten tönenden Psychoanalysen der Musikgeschichte zu entwerfen. Der Titelheld darf gerade einmal eine kurze Arie singen, wird aber im übrigen ausschließlich als singender Gegenspieler aller anderen Akteure präsentiert, muß sich vokal am freundschaftlichen Entgegenkommen eines Baritons, den gehauchten Pianissimi einer Sopranistin und dem wilden Gefauche eines erzürnten Mezzosoprans messen.

Menschliche Beziehungen

Es ist Verdis Detailarbeit in diesen musiktheatralisch demonstrierten zwischenmenschlichen Beziehungen, die »Don Carlos« zum innovativen Musikdrama macht. Wenn Carlos und Elisabeth über ihre verlorene Liebe räsonieren, scheint jede Anlehnung an klassische Duettkünste verpönt. In ganz wenigen Momenten übernehmen die beiden singenden Menschen Motive voneinander. In der Regel wechseln die musikalischen Themen alle paar Takte, stehen disparate Versuche, zusammenhängende Melodien zu gestalten, unverbunden nebeneinander. Die Zerrissenheit wird zur künstlerischen Form. Moderner hat Gegenspieler Wagner, immer bedacht auf die »unendliche Melodie«, nirgendwo komponiert.

Auch die Instrumentationskunst Verdis ist fabelhaft und von den diesbezüglichen Zauberkunststücken des Bayreuthers qualitativ nicht zu unterscheiden. Die erwähnte frappante Ähnlichkeit der klanglichen Vision in den Anfangstakten des »Lohengrin« und der »Traviata« beweist das ebenso klar wie etwa die zukunftsweisend kühne Aufsplittung der tiefen Register. Welch ein Effekt, wenn Rigoletto dem Sparafucile den Mordauftrag erteilt! Zwei tiefe Männerstimmen, ein Quartett aus vier Bratschen und einem Cello als Harmonieträger, dazu je ein solistisches Cello und ein Kontrabaß, denen die Melodie über den pochenden Rhythmen der übrigen Celli und Bässe zugeteilt wird.

Dann wieder himmlische, ätherisch abgetönte Holzbläsersätze, zu denen sich der späte Verdi nach den blechgeschwängerten Bandaklängen der frühen Opern immer wieder aufschwingt. Der Auftritt der Amelia in »Simone Boccanegra«, die Beschwörung der Geisterwelt durch Nanetta im letzten Bild des »Falstaff« _ da ereignet sich, lange vor dessen verbriefter Erfindung, erstmals echtester Impressionismus. Verdi konterkariert solche verzückten Passagen gern und immer wieder mit jähen Einbrüchen, setzt filmisch harte Schnitte, überrumpelt den Hörer immer wieder, indem er ganz bewußt Erwartungen zuwiderhandelt, scheinbar logisch entwickelten Abläufen mittendrin eine unerwartete Wendung verleiht. Oberstes Gesetz: die dramaturgische Wahrhaftigkeit.

Der erste »Cluster«

Selbst scheinbar Äußerliches wird Introversion. Ist es der Wind, der pfeift, wenn der Chor mit geschlossenem Mund im Finale des »Rigoletto« summt _ oder doch eher ein weiteres drastisches Detail in der klingenden Psychoanalyse der Figuren? Der Sturm, der zu Beginn des »Otello« tobt, klingt vollends wie eine Klang gewordene existentielle Erfahrung. Da schwingt Tiefes mit _ technisch gesprochen übrigens auch ein Orgelbaß aus drei nebeneinander liegenden Halbtönen, die eine klare tonale Zuordnung der Musik vereiteln. Der erste Cluster der Musikgeschichte vielleicht, auch ein viel später »erfundener« Topos der Avantgardemusik. Verdi setzt ihn ein als brachiales Ausdrucksmittel.

Brachial und irritierend: Als ein Dirigent Mitte der achtziger Jahre darauf bestand, daß seine Otello-Aufnahme diesen dumpf dissonierende Kunstgriff Verdis ungeschminkt hören lassen müsse, reagierten die Testhörer der LP-Probepressung verstört und bombardierten die Konzernleitung mit Meldungen eines vermeintlichen Fabrikationsfehlers: Da störe ein fortwährendes Brummgeräusch die gesamte erste Szene, hieß es.

Daß Verdi sein Publikum noch 100 Jahre nach der Uraufführung dieser Oper zu verstören imstande sein würde, hätte ihn selbst diebisch gefreut. Daß Auditorien in aller Welt seine Musik heute in kleinen und großen Opernhäusern, in Arenen und Fußballstadien wie sanft plätschernde Unterhaltungsmusik konsumieren, würde vermutlich kaum seine Zustimmung finden. Außer es konfrontierte ihn ein Impresario mit der Meldung, die Vorstellungen seien allesamt ausverkauft. Der Kassenrapport war zeitlebens die einzige Instanz, die er wirklich anerkannte. Jedenfalls so lange, bis eine Lady Macbeth dem billigen Erfolg zuliebe allzu schön gesungen hätte . . .

»Falstaff«

DISKOTHEK

Giuseppe Verdi, Mailand 1893

Das Werk

Nur eine einzige Komödie hatte Giuseppe Verdi in seiner Karriere komponiert, ganz zu Beginn als Oper Nr. 2 den brillianten, aber erfolglosen »König für einen Tag« (un giorno di regno). Aber dem kongenialen Librettisten Arrigo Boito gelang es, den Komponisten nach dem grandiosen »Otello« noch einmal zu einer Shakespeare-Vertonung z...

für PREMIUM-ABONNENTEN

Upgrade unter MEIN ABONNEMENT/Subscriptions