Dramaturgie und Form
An Stlle einer Ouvertüre steht in »Lulu« der PROLOG des Tierbändigers. Er wird vor vor dem Vorhang gesungen und versetzt uns in die Atmosphäre eines Zirkus.
Musikalisch gesehen fungiert dieses Vorspiel als »Exposition« der wichtigsten Motive, die jeweils erklingen, wenn der Dompteur die vom Tierbändiger vorgestellten »Tiere« seiner »Menagerie« vorführt. Lulu erscheint als »Schlange«. die »Urgestalt des Weibes«.
Vorstellung der Themen und Motive
Im Ersten Bild erleben wir die Dialoge zwischen dem Maler, Dr. Schön und dessen Sohn Alwa, die zugegen sind, während Lulu im Pierrot-Kostüm Modell steht. Als sich die beiden Besucher entfernt haben, beginnt der Maler Lulu nachzustellen.
»Poco Adagio« – Duett (Kanon)
Lulus Gatte, der Medizinalrat, ertappt die beiden in flagranti und erleidet einen Herzinfarkt. An der Leiche singt Lulu einen Monolog in liedhafter Form.
»Canzonetta«
Zweites Bild. Lulu ist die Frau des Malers geworden, der sich vor Aufträgen kaum noch retten kann, seit ihn das Pierrot-Bild Lulus – und massive Unterstützung durch den Zeitungsverleger Dr. Schön – berühmt gemacht haben.
Duett Lulu/Maler in 2 Strophen
Der Maler ahnte weder etwas von Lulus Beziehung zu Dr. Schön, noch von ihrem Vorleben, dessen Verkörperiung in Gestalt des greisen Schigolch erscheint, der als Landstreicher kommt, um Geld zu bitten.
Schigolch sind schleichende chromatische Motive zugeteilt, die Berg auf wechselnde kammermusikalische Ensembles verteilt.
Dr. Schön erscheint und bittet Lulu, ihn freizugeben. Er möchte sich mit einer Frau aus der bürgerlichen Gesellschaft verloben. Lulu geht verstört ab.
Dem Dialog unterlegt Berg den Beginn eines langsamen Satzes in Sonatensatzform. Mit Lulus Abgang bricht die Musik jäh ab – sie wird am Ende des Ersten Akts fortgesetzt – und erklingt am Schluß der Oper als »Reprise« noch einmal, um den formalen Prozeß abzurunden.
Als der Maler erscheint, klärt Schön ihn über die wahren Sachverhalte auf. ihn endlich freizugeben. Jäh aus seinem Traum gerissen, verbarrikadiert sich der Betrogene im Badezimmer und begeht Selbstmord.
Berg erfand für diesen Dialog die Form der »Monoritmica« – ein und derselbe Rhythmus entfaltet sich vom Pianissimo (Grave) in dynamischer Steigerung zu rasender Fortissimo-Bewegung und wieder zurück.
Das dritte Bild spielt in der Theatergarderobe.
Hinter der Szene spielt die Band Rag Time und English Waltz
Ein exotischer Prinz erscheint und macht Lulu einen Heiratsantrag.
Choral, vom Cellosolo konzertant umspielt
Lulu sollte in einer von Alwa komponierten Revue die Hauptrolle tanzen, simuliert aber kurz nach ihrem Auftritt einen Ohnmachtsanfall, als sie die Dr. Schön mit seiner Braut in einer Loge entdeckt.
Großes Ensemble
Lulu droht Dr. Schön, mit dem Prinzen nach Afrika zu gehen. Schön, der einsieht, daß er sich von Lulu nicht zu lösen vermag, schreibt den Abschiedsbrief an seine Braut, den ihm Lulu triumphierend diktiert.
Fortsetzung von Dr. Schöns »Sonate« aus dem 2. Bild
ZWEITER AKT
Viertes Bild. Großer Saal im Hause Dr. Schöns. Lulu ist seine Frau geworden. Ihre gesamte Umgebung ist liebestoll nach ihr: Der Diener, Rodrigo, ein Athlet und Freund Schigolchs, ein junger Gymnasiast, die lesbische Gräfin Geschwitz und Alwa, der nun Lulus Stiefsohn geworden ist.
Im großen Rezitativ erscheinen die Motive der einzelnen Figuren jeweils klar getrennt: Gräfiin Geschwitz gehören die pentatonischen Tonfolgen, dem Gymnasiasten Fanfarenklänge, dem Athleten plumpe Klavier-Cluster, Schigolch die Chromatik.
Dr. Schön überrascht Lulu im zärtlichen Dialog mit Alwa.
Ein lyrisches »Rondo« (das im folgenden Bild fortgesetzt wird)
Dr. Schön drückt ihr im heftigen Streit einen Revolver in die Hand.
»Arie« in fünf Strophen, vor der letzten Strophe: »Lied der Lulu«
Statt sich selbst zu richten, tötet Lulu Dr. Schön.
Im Moment des Todes erklingt das einzige Mal in der Oper die zugrundliegend Zwölftonreihe »nackt«, ohne Begleitung im Unisono der Bläser.
Nach Dr. Schöns Tod singt Lulu eine kurze »Ariette« – Gegenstück zur »Canzonetta« im ersten Akt.
Als die Polizei erscheint, um Lulu zu verhaften, fällt der Vorhang. Im folgenden
ZWISCHENSPIEL (»OSTINATO«)
wünschte Berg ausdrücklich einen Film abgespielt, der die von der Musik illustrierte Handlung zeigen sollte – und zwar sollte der Stummfilm formal ähnlich akribisch gearbeitet sein wie das musikalische Zwischenspiel, das sich zu einem Scheitelpunkt hin entwickelt und dann streng rückläufig im Krebsgang wieder »zurückgespult« wird.
Wie die musikalischen Motive und Themen sollten sich auch die optischen Signale des Films entsprechen: Verhaftung Lulus – Untersuchungshaft – Prozeß – Gefängnis (ein Jahr Haft) dann rückläufig: Ärzte-Konsilium – Isolierbarocke, Befreiung, wie es im folgenden Bild erzählt wird. Selbst Details wie Patronen – Phiolen, Ketten – Bandagen, Gefängniskleider – Spitalskittel sollten einander symmetrisch entsprechen.
Fünftes Bild: Lulu ist von der Gräfin Geschwitz auf abenteuerliche Weise aus dem Kerker befreit worden. Als Mörderin des Doktor Schön muß sie nun aber das Land verlassen. Denn der Schwindel – Gräfin Geschwitz hat mit Lulu, die an der Cholera erkrankte, im Lazarett die Rollen getauscht – fliegt auf. Schigolch, nachdem er mit List die umherschwirrenden Verehrer vom Gymnaisasten bis zum Athleten verscheuchen konnte besorgt die Schlafwagenbillette nach Paris. Alwa und Lulu nehmen ihre unterbrochene »Liebesszene« wieder auf.
Die Fortsetzung von Alwas »Rondo«, mündet in eine leidenschaftliche »Hymne« auf die Schönheit Lulus.
Die »Symphonischen Stücke«
- 1. Rondo. Andante und Hymne
- 2. Ostinato. Allegro
- 3. Lied der Lulu. Comodo
- 4. Variationen. Moderato
- Grandioso – Grazioso – Funèbre – Affettuoso – Thema
- 5. Adagio.
- Sostento – Lento – Grave
Die von Berg zusammengestellten »Symphonischen Stücke aus der Oper Lulu«, irreführend meist »Lulu-Suite« genannt, 1934 von Erich Kleiber in Berlin uraufgeführt, beginnen mit diesem symphonischen »Rondo« des Alwa unter Eliminierung der Singstimmen. In der Suite folgen darauf das »Ostinato«-Zwischenspiel, das »Lied der Lulu« (mit Sopransolo) sowie das von Berg extra zu diesem Zweck vollendete und instrumentierte Zwischenspiel, das im Dritten Akt das Paris- mit dem London-Bild verbindet: »Variationen« über ein Lautenlied von Wedekind, die den skuzessiven Abstieg der jungen Frau zur Straßendirne nachzeichnen und von fröhlichem Überschwang in tiefe Tragik münden). Der letzte Satz der »symphonischen Stücke« ist identisch mit dem Schluß der Oper, wiederum unter Eliminierung der Singstimmen. Dieses große »Adagio« nimmt die Musik der Sonate des Dr. Schön wieder auf – Berg hat diese Passage der Oper für die Uraufführung der »Symphonischen Stücke« vorab orchestriert, ehe noch die gesamte Komposition vollendet war.
Die Instrumentation und einige Dialog-Passagen des Dritten Akts konnte Berg nicht mehr vollenden. Seine Witwe Helene, die zunächst noch versucht hatte, Komponisten wie Schönberg oder Winfried Zillig zu gewinnen, das Stück spielbar zu machen, verbot zuletzt die Einsicht in die Skizzenblätter. So kam »Lulu« als Torso zur Uraufführung. Nach dem zweiten Akt spielte man die von Berg vollendeten Passaten des Dritten Akts aus den »Symphonischen Stücken«, zunächst bei geschlossenem Vorhang die »Variationen«, zuletzt – mit pantomimischer Drastellung des Mords an Lulu durch Jack the Ripper – das »Adagio«. Von hinter der Szene hörte man Lulus Todesschrei, zu dem in dreifachem Forte ein Zwölftonakkord erklingt. Die abschließenden Worte der Gräfin Geschwitz, die in den »Symphonischen Stücken« fehlen, wurden bei szenischen Aufführungen in der Regel gesungen:
Lulu! – mein Engel! – Laß dich noch einmal sehen! – Ich bin dir nah! – Bleibe dir nah – in Ewigkeit!
Friedrich Cerhas »Herstellung«
Noch zu Lebzeiten Helene Bergs hat der Wiener Verlag des Komponisten, die Universal Edition, dem Komponisten Friedrich Cerha den Geheimauftrag erteilt, die Skizzen Bergs zum letzten Akt zu vervollständigen, wobei Cerha bekannte, es seien kompositorisch nur ganz wenige Passagen zu »erfinden« gewesen und die Instrumentation fertigzustellen. Er nannte seine Arbeit denn auch die »Herstellung« des Dritten Akts.
Cerha betonte, daß viele Teile der Musik – wie schon das krebsgängige »Ostinato« inmitten des zweiten Akts vermuten läßt – dank Bergs Dramaturgie in Anlehnungen, teils sogar wörtlichen Reprisen aus den vorangegangenen Akten bestanden.
Im fertiggestellten DRITTEN AKT begegnen wir musikalisch daher etlichen Entsprechungen: Die großen Ensemble-Szenen, die das Paris-Bild umrahmen, sind mit dem Ensemble im Garderoben-Bild des Ersten Akts verwandt, die »Choral-Variationen«, in denen der »Marquis« Lulu zu erpressen versucht, um sie als Nobelprostituierte nach Ägypten zu verkaufen, entsprechen der Musik des Prinzen aus dem Garderoben-Bild. (Die beiden Partien werden in der Regel auch vom selben Sänger interpretiert). Die Szene in der Londoner Dachkammer setzt Lulus Freier mit ihren Männern im ersten Teil der Oper gleich: Der bigotte Professor erscheint zu den Klängen des Medizinalrats (ebenfalls eine stumme Rolle), der Neger mordet Alwa, der Wache hält, zu den Klängen des Malers (und wird von demselben Tenor gesungen). Und Jack the Ripper wird von Dr. Schön dargestellt. Lulu stirbt unter seinem Messer zu den Klängen der »Sonate« («Adagio«).
Beziehungsvoll zitiert Berg zu Lulus Tod leise auch das Motiv der Marie aus dem »Wozzeck«.
Die von Friedrich Cerha vervollständigte »Lulu« kam im Februar 1979 unter der Leitung von Pierre Boulez, inszeniert von Patrice Chéreau in Paris zur Uraufführung. Teresa Stratas sang die Titelpartie. Von dieser Aufführung hat sich eine Videoaufzeichnung und eine technisch exzellente Tonaufnahme erhalten, die DG veröffentlicht hat.