Alle Beiträge von sinkothekar

Kritiker schreiben Bücher

Zwischentöne

Über Absonderliches dies- und jenseits der Klassikschwelle

Schuster bleib bei deinem Leisten, heißt es. Wenn Musikkritiker Bücher schreiben, heißt das nicht, sie hielten sich nicht an diesen Spruch.

Essaybände suggerieren ihren präsumtiven Lesern, sie müssten es mit ihrer Leserschaft nicht gar so ernst nehmen. Auch wer grad gar keine Zeit hat, ein Buch zu lesen, darf kurz einmal hineinschauen.

In diesem Sinn nahm ich das jüngste Elaborat meiner geschätzten Berliner Kollegin Eleonore Büning zur Hand, das (im Benevento-Verlag) „Antworten auf die großen und kleinen Fragen der Musik“ nicht nur verspricht, sondern auch gibt. Unter dem Titel „Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur“ sammeln sich hier die besten Kolumnen, die in den vergangenen Jahren in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ erschienen sind.

Menschen, die vor der sogenannten Klassik noch ein bisschen schaudernden Respekt verspüren, aber doch irgendwie fasziniert davon sind, gibt die Autorin gleich zum Entree den entscheidenden Schubs über die notorische Schwelle, indem sie der Frage „Darf ich im Konzert einschlafen?“ ein entschiedenes: „Selbstverständlich. Wo sonst?“ entgegensetzt. Und flugs landen wir schmunzelnd vom scheinbar mutwilligen Pointensetzen bei Brahms, Liszt und der Musikliebe der Japaner.

Danach will der von 205 Seiten in den Konzertsaal Geschubste diesen vermutlich so schnell nicht mehr verlassen; und der längst Klassik-Verdorbene, der bei der Lektüre gern hie und da widersprechen möchte, aber feststellen muss, dass ihm gegen die Büning keine Argumente einfallen, hält plötzlich einen in einem Zug durchgelesenen Essayband in Händen.

Dasselbe wird ihm vermutlich bei Edwin Baumgartners „Wiener Wahn“ (Claudius-Verlag) passieren: Der Kollege von der „Wiener Zeitung“ vermochte an die alte feuilletonistische Tradition dieser Stadt anzuknüpfen und ohne Angst vor heißen Eisen, verschmitzt plaudernd eigenwillige Gestalten zu porträtieren: von Peter Altenberg bis zu Waluliso. Wer mit wenigstens einem der beiden Namen nichts mehr anfangen kann, muss das Büchlein ebenso lesen wie alle, die zu wissen glauben, was sie erwartet, wenn es um „den Hörbiger“ geht.

„Die Ingrisch“ ist freilich „die“ Ingrisch, und „Marcello“ ist der Prawy, und das Fazit lautet: Solche Typen gibt’s fast nimmer. Aber „den Baumgartner“ gibt’s. Er schreibt wie einer von denen, die’s „fast nimmer gibt“.

Neuer Musikvereins-Intendant

Musik aus der Dynamik des Dialogs
Stephan Pauly. Der neue Intendant des Musikvereins über die Saison 2020/21 in Zeiten von Corona, die einzigartige Geschichte des Hauses und seine Konzepte für die Zukunft.
Was für ein Gefühl muss es sein, Herr in diesem Haus zu sein? Stephan Pauly, seit Beginn des Sommers Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, meint auf die Frage, ob er sich noch an sein erstes Musikverein-Erlebnis erinnern könne: "Das war bei mir wie bei den meisten anderen Musikfreunden auch: Ich habe das Neujahrskonzert im Fernsehen gesehen! Es war also eine virtuelle Begegnung."
Eine kostbare Situation
Es war erst in seiner Zeit am Mozarteum in Salzburg, dass Pauly den sogenannten Goldenen Saal das erste Mal in natura zu Gesicht bekam. Und das Erstaunen war groß: "Wenn ic...

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Mozart mal Grieg

Zwischentöne
Eine vergnügliche Musikgeschichtelektion im Mozartsaal
Wen lassen wir lieber altvertraute Klänge akustisch "übermalen" - einen Avantgardisten wie Schönberg oder den Romantiker Edvard Grieg?
Heute Abend setzt Elisabeth Leonskaja im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses ihren klug programmierten Zyklus fort, in dem sie Musik der Wiener Kla...

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Günter Pichler ist 80

Ein Botschafter unserer Kultur von Weltformat
Dem Geiger, Gründer des Alban Berg Quartetts und großen Lehrer Günter Pichler zum Achtzigsten.
Es war für uns einst nicht schwer, einen Salzburger zu musikalischen Zwecken einzuwienern. Selbst bei dem Mann aus Bonn ist es uns ja gelungen. Jetzt aber wird es heikel, denn es geht um einen Tiroler. Das ist...

 

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Puccini in Wien

Zwischentöne
Puccini-Sternstunden zelebrierte Wien oft auch außer Haus
Wenn nach mehr als 60 Jahren im Haus am Ring eine neue "Madame Butterfly" zu sehen ist, darf man wieder einmal zurückblicken.
Madame Butterfly" - heute Abend gibt man Puccinis Oper zum Einstand einer neuen Staatsopern-Direktion im Haus am Ring. Tatsächlich ist das jenes Repertoi...

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Philippe Jordan

"Das wäre in Paris nicht realisierbar"
Der neue Staatsopern-Musikchef Philippe Jordan im Gespräch: Warum Schönklang ein Muss ist, wie er mit Operndirektor Roscic redet, wer ihn die richtigen Fragen lehrte und wie man in Paris heute noch für Wagner kämpfen muss.
Die Presse: Die Staatsoper bekommt einen Musikdirektor, der sein Handwerk von der Pike auf gelernt hat: Sie waren, wie Karajan, mit 22 Kapellmeister in Ulm, Assistent bei Barenboim und Jeffrey Tate, dann Chefdirigent in Graz, sind bis Ende der Saison Musikchef an der Pariser Oper. Sie sind der Sohn eines Dirigenten, war diese Ochsentour vorgezeichnet?
Philippe Jordan: Tatsächlich sagte mein Vater: Wenn du Dirigent werden willst, rate ich dir, diesen Weg zu gehen. Er ist nicht angenehm, aber der beste. Und ich dachte: warum nicht? Op...

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Symphoniker, verfilmt

Musik, das heißt Ekstase - Musik, das heißt auch Angst!
Musikfilm. Für die Wiener Symphoniker wurde die Kinoleinwand zu Sigmund Freuds Couch: Was geht in einem "Klangkörper" vor sich?
Wie es hinter den Kulissen internationaler Konzerthäuser zugeht, das wissen mittlerweile alle. Unzählige Filmdokumentationen über große Orchester sind gedreht worden....

 

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Hoffnung für die Volksoper?

So kommt Wiens Musiktheater wieder in Fahrt
Robert Meyer hat sich nicht mehr für die Volksoper beworben - für den neuen Direktor gäbe es ein klares Erfolgsrezept.
Andrea Mayer gegen Robert Meyer - so ließe sich bündig zusammenfassen, was der amtierende Volksoperndirektor dem "Kurier" anvertraut hat: Die Kultur-Staatssekretärin wünscht sich für das ...

 

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Columbia Artists

Zwischentöne
Nachruf auf eine der mächtigsten Musikagenturen
Am Beginn einer reduzierten Saison verabschiedet sich ein weltumspannendes Klassik-Management, ohne das einst gar nichts ging.
In Europa scheint die Nachricht, die am Samstag in den USA lanciert wurde, kaum jemanden interessiert zu haben. Dennoch: Dass Columbia Artists Konkurs angemeldet ...

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Die „Missa“

Geburt der Musik aus dem Geist der Religion

Beethoven-Jahr. Wer als ein Religionswissenschaftler sollte sich an die Missa solemnis wagen? Jan Assmann schrieb eines der besten Bücher zum Jubiläum.

Ein Buch über Beethovens Missa solemnis von einem Ägyptologen und Religionswissenschaftler? Wahrscheinlich ist das die einzige Möglichkeit, diesem Gipfelwerk der abendländischen Kulturgeschichte irgendwie beizukommen. Für die Musikologie steht dieses Opus 123 ja im Schatten der umgebenden Spätwerke, der raumgreifenden Neunten Symphonie und der späten Streichquartette, um die sich längst ein ganzer Sagenkreis von mehrheitlich populärwissenschaftlicher Literatur gesammelt hat. Was diese angeblich so schwer verständliche Musik in der Aufführungsstatistik längst vor die sogenannten frühen und mittleren Quartette katapultiert hat.

Die Missa freilich hat ihren einsamen Platz auf dem musikhistorischen Denkmalsockel. Jeder Musikfreund weiß, dass es sie gibt, aber kaum einer hat viele (und vor allem denkwürdige) Aufführungen erlebt.

Das hat schon etwas mit dem enormen Respekt zu tun, mit dem man liturgischer Musik begegnet, die rätselhafterweise schon aufgrund der schieren Länge der Komposition dem liturgischen Gebrauch entrückt ist. Von einem Komponisten noch dazu, der nicht gerade als das bekannt war, was man in Wien einen Kerzelschlucker nennt – oder genannt hat; die Spezies derer, die sich darüber mokieren, dass es religiöse Menschen gibt, ist ja ausgestorben.

„Kunstwerdung“ des Gottesdienstes

Längst gilt der normalatheistische Blick auf das Kunstwerk als – sagen wir ruhig: sakrosankt. Im Fall der Missa solemnis hilft es auch, dass Theodor Adorno, der sich auf alles einen Reim machen konnte, just im Fall dieses Werks einen zweckdienlichen argumentativen Schwächeanfall erlitten hat, dessen Verstiegenheiten der Zunft der Programmheft-Autoren heutzutage mehrheitlich als einzige Informationsquelle genügen.

Und jetzt fegt Assmann die Vorstellung, man könne einem Werk wie diesem mit solch neuzeitlich-unheiliger Analytiker-Attitüde beikommen, nachhaltig vom Tisch. Der Untertitel seines Buchs bezeichnet „Beethovens Missa solemnis als Gottesdienst.“

Wer sich das Vergnügen macht, seine Beweisführung zu studieren, die – wo sonst sollte Assmann auch anfangen? – mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten beginnt, der findet sich bald in einem Kosmos kultur- und religionshistorischer Betrachtungen gefangen. Beethoven, so erfährt man da, der sich für die Vorbereitung seiner Arbeit nicht nur in der Geschichte der geistlichen Vokalmusik bis in die Renaissance-Zeit zurückgearbeitet hatte, war auch firm in liturgischen Fragen und hat sich beim Entwurf des architektonischen Plans für den Riesenbau bald weit entfernt vom ursprünglichen Projekt, seinem Schüler Erzherzog Rudolph zur Inthronisation als Bischof von Olmütz den Festgottesdienst musikalisch auszugestalten.

Die Messe wuchs ihm über den Kopf, nahm außerliturgische Dimensionen an und wurde zu einem der bemerkenswertesten Resultate jener allmählichen „Kunstwerdung des Gottesdienstes“, die Assmann „früh und überall auf der Welt“ ortet.

Dieser „Kunstwerdung“ spürt der erste Teil des Buchs nach, der Herkunft der Zelebrationen und der Geheimnisse der christlichen Liturgie, der Abendmahls-Symbolik vor allem über das Judentum bis zurück zu heidnischen Kulten.

Kant und Schiller auf dem Schreibtisch

Virtuos, wie danach der oft diskutierten Frage über Beethovens Religionsverständnis eigenhändige Notizen und Exzerpte des Komponisten entgegengehalten werden, ein „Glaubensbekenntnis“ nach einem Schiller-Text, das hinter Glas gerahmt auf seinem Schreibtisch stand, aber auch – und vor allem – ein Kant-Zitat über den „immateriellen Gott“, der „ewig, allmächtig, allwissend, allgegenwärtig ist“. Diesen Text notierte sich Beethoven unter dem Titel „Hymne“ – während er die „Hymnen“ seiner Missa solemnis schrieb. Mit Plänen, „fromme Gesänge“ und ein „Herr Gott dich loben wir“ in eine Symphonie einzubinden, trug er sich schon, bevor er seine Messe zu entwerfen begann.

Assmanns musikhistorische Leistung besteht darin, dass er im zweiten Teil seines Buchs Adornos verstiegenen Thesen vom „regressiven Archaismus“ der Missa seine klare Sichtweise vom Aufbau des gesamten Werks entgegenhält: „Nicht die musikalischen Themen, die es zu entwickeln gilt, geben ihm den Weg vor, sondern der Text, den es in allen semantischen, das heißt theologischen Nuancen auszuleuchten gilt.“

Wie das geht, zeichnet Assmann in der Folge auch unter Einbindung vieler Notenbeispiele nach – und findet bei Thomas Mann noch einen Zeugen, der ausreichend über die „Trennung der Kunst vom liturgischen Ganzen“ zu philosophieren weiß.