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Musik und Bildende Kunst
Raphaela Gromes
Musik und Natur
Zwischentöne
Die feinen Härchen am Pelzkragen der Robe von Maria Callas
An der Mailänder Scala gibt es derzeit ebenso wie in Wien keine Opernaufführungen. Aber im Netz sind beide Häuser präsenter denn je.
Das wird bestimmt auch in den Jahren nach dem Coronastopp eine virtuelle Anlaufstelle für Opernfreunde bleiben: Die Mailänder Scala hat eben eine Vereinbarung mit Google Arts & Culture geschlossen, damit ihre unschätzbar reiche Sammlung an Fotografien für die Welt sichtbar wird.
Für dieses, der ganzen Welt offene, Scala-Museum, abrufbar per Mausklick über die Website des Hauses, hat man mit modernsten Mitteln 259.000 Bilder aus dem Archiv digitalisiert. Sie stehen künftig in höchstmöglicher Auflösung im Internet.
So wird die Geschichte eines der drei oder vier bedeutendsten Opernhäuser der Welt lebendig, das anders als die große Konkurrentin, unsere Staatsoper, immer wieder wichtige Uraufführungen herausgebracht hat.
Zu sehen sind Bühnenbilder, Kostüme, Dokumentationen von legendären Auftritten – etwa vom Konkurrenzkampf zwischen Diven vom Format einer Maria Callas und einer Renata Tebaldi. Außerdem wichtige Manuskripte, die sich im Archiv erhalten haben, beispielsweise das Libretto, das Verdi bei der Komposition seines „Nabucco“ als Vorlage auf dem Schreibtisch vor sich liegen gehabt hat.
So lässt sich nun beispielsweise die Arbeit an einer Opernproduktion mit der großen Callas von der Anprobe mit dem Kostümbildner bis hin zur Archivierung der Roben nach Ende der Stagione studieren. Die hochauflösenden Fotografien ermöglichen Einblicke bis hin zu den einzelnen Härchen am Pelzbesatz.
Google hat für die Abbildungen eine „Art Camera“ mit einer Auflösung von bis zu zwölf Milliarden Pixel verwendet, wie sie für Fotografien von Gemälden verwendet wird.
„Street View“ ermöglicht es Opernkiebitzen überdies, die Handwerker der Scala bei der Arbeit an den Bühnenbildern zu beobachten.
Dominique Meyer, derzeit Intendant der beiden berühmtesten europäischen Opernhäuser, kann zwar weder in Wien noch in Mailand Vorstellungen ankündigen, aber er bringt sowohl die Staatsoper als auch die Scala in Krisenzeiten ihrem Publikum via Internet näher. Während die Scala nun ihre Museumspforten öffnet, schaltet die Streamingplattform www.staatsoperlive.com täglich eine Aufzeichnung aus den vergangenen Jahren frei. Heute, Montag, ist tagsüber noch der „Barbier von Sevilla“ mit Margarita Gritskova und Juan Diego Florez zu sehen, abends gibt es dann Nurejews „Schwanensee“ mit Vladimir Shishov und Olga Esina, morgen „Ariadne auf Naxos“ mit Soile Isokoski, Johan Botha und Daniela Fally unter Christian Thielemann.
Eine kleine Retourkutsche an Wiens Boulevardjournalistik, die zuletzt suggerierte, die jüngste Aufführungsgeschichte der Wiener Oper sei eine Art „Durststrecke“ gewesen . . .
Lynn Harrell & Martin Lovett
Über Wiens Opern-Zukunft
Silja und Sokolow feiern
Unerschrockene Diva trifft skrupulösen Pianisten
In Zeiten von Social Distancing darf man immerhin bei virtuellen Geburtstagsfeiern die divergentesten Musikstars gemeinsam feiern.
Dieser Tage feierten die Musikfreunde weltweit die runden Geburtstage zweier Stars, deren Zugänge zur letztlich doch gemeinsamen Sache unterschiedlicher nicht sein könnten.
Da ist einmal der Pianist Grigorij Sokolow, den man hierzulande sehr spät kennenlernen durfte. Da ist andererseits Anja Silja, die schon als Teenager an der Staatsoper debütierte und ohne divenhafte Allüre zur Operndiva wurde.
Bei Sokolow wussten nur Kenner: Der große Emil Gilels hatte dafür gesorgt, dass unter heftigen Protesten dem damals 16-Jährigen als jüngstem Teilnehmer aller Zeiten der erste Preis beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb zuerkannt wurde.
Das war 1966, da hatte die 26-jährige Silja schon die größte Repertoire-Spannweite durchmessen, die je eine Sopranistin auf der Bühne der Wiener Oper durchmessen hatte: Zwischen ihrem Debüt als koloraturenperlende Königin der Nacht bis zur ihrer Darstellung der Elektra – in der Inszenierung ihres Lebensmenschen Wieland Wagner – lagen keine sieben Jahre!
Grigorij Sokolow durfte solch sprühende pianistische Lebensbeweise (noch) nicht geben. Wie manch bedeutendem Künstler vor ihm schoben die Sowjetbehörden seinen internationalen Auftritten einen Riegel vor. Er blieb zunächst ein russlandweit bestauntes Phänomen.
Von der Silja kannten die Opernfreunde weltweit sofort den Namen und bewunderten die temperamentvolle und zu allen inszenatorischen Kühnheiten bereite Singschauspielerin live als Senta, Salome oder Lulu, später nicht zuletzt in psychologisch meisterhaft durchgestalteten Janacek-Partien von der Emilia Marty („Makropulos“) bis zur Küsterin („Jenufa“).
Die Karriere nahm in Bayreuth so richtig Fahrt auf – und dauerte lang. Noch 2015 stand Silja als Gräfin in Tschaikowskys „Pique Dame“ auf der Wiener Staatsopern-Bühne.
Mit ihrem langjährigen Ehemann Christoph von Dohnanyi erarbeitete sie sich auch ein eminentes zeitgenössisches Repertoire.
Grigorij Sokolow hingegen hat sich nach Abwurf der Fesseln, die ihm die kommunistische Diktatur angelegt hatte, mehr und mehr zu einem in sich gekehrten, akribisch an seinen Interpretationen feilenden Künstler entwickelt. Aus seinem Schneckenhaus taucht er nur auf, um sein gerade aktuelles, oft kühne stilistische Querverbindungen ziehendes Programm weltweit aufzuführen. An diesem ist alles, auch der Gefühlstiefgang, bis ins Detail hinein kalkuliert – und geht doch nah.
Die Silja, ganz Bühnenspontaneität, sprang schon einmal in Jochanaans Zisterne, wenn sie merkte, sie würde Salomes Schlussgesang heute Abend nicht bewältigen . . .
Zum To von Dmitrij Smirnov
Beethoven-Faksimile
Als Beethovens Herz aussetzte
Manuskripte. In Wien hätte man dieser Tage Beethovens kompliziertestes Streichquartett neu beleuchtet. Eine neue Faksimile-Ausgabe macht es möglich nachzulesen, wie der Komponist Unpässlichkeiten in Kunst umzumünzen verstand.
Demnächst hätte im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses eine ungewöhnliche Veranstaltung stattgefunden: Das Belcea Quartet hatte zum Jubiläum „Beethoven in Mysterious Company“ avisiert, um ein Werk des Jahresregenten mit Zeitgenössischem zu konfrontieren.
Das ist an sich noch nichts Besonderes. Die sogenannten Sandwichkonzerte gibt es ja seit Jahrzehnten. Des einen Freud, des andern Leid: Manche Konzertbesucher werteten es als pädagogische Zwangsmaßnahme, wenn Ensembles – das Alban Berg Quartett tat es beispielsweise konsequent – zwischen Haydn und Schubert ein modernes Stück platzierten. Andere – es war zuletzt die Mehrheit – freuten sich über die Weitung des Horizonts.
Tatsächlich ist es auf diese Art der Programmierung zurückzuführen, dass die Spitzenwerte der Quartett-Literatur, allen voran die Werke Bela Bartoks oder Alban Bergs, heute zu den beliebten Repertoirestücken gehören.
Vom Segen der Musik-Sandwiches
Noch Hans Landesmann bekam als Konzerthaus-Intendant von wütenden Abonnenten Jahresbroschüren zurückgeschickt, in denen jedes Stück jüngeren Datums rot angestrichen war. Matthias Naske würde man hingegen schelten, würde er nur Klassiker, Schubert, Brahms und Mendelssohn aufs Programm setzen.
Die Initiative des Belcea Quartets wäre nun zwecks raffinierter Geburtstagszelebration für einen musikalischen Giganten noch einen Schritt weitergegangen. Man hätte am Abend des 20. April nicht das übliche Programmheft in die Hand gedrückt bekommen, sondern nur gewusst, dass diesmal Beethovens längstes Streichquartett, das B-Dur-Quartett op. 130 inklusive Große Fuge op. 133 gespielt würde. Allerdings mit Einschüben von zeitgenössischen Kompositionen. Wann genau was gespielt worden ist, dieses Geheimnis wäre erst in einer Conference im Anschluss an die Darbietung gelüftet worden.
Wer da nun meint, das hätte ja wohl kein Problem sein können, Musik Beethovens von Hervorbringungen unserer Zeitgenossen zu unterscheiden, der sollte den Testversuch wagen, wenn die Belceas ihn in einer der kommenden Spielzeiten, hoffentlich von Viren befreit, tatsächlich realisieren dürfen. Da wird er seine blauen Wunder erleben.
Seit ihren Uraufführungen gelten die späten Streichquartette Beethovens als harte Nuss, die zu knacken erst dem 20. Jahrhundert gegeben war. Gerade die Große Fuge wütet und tobt wie nichts in der Musikgeschichte vor Schönberg. Wer da in Zeiten der Langspielplatte die Nadel irgendwo in der Mitte des Stücks auflegte, hätte die anwesenden Musikfreunde raten lassen können, von wem diese Musik denn sei. Auf Wiener Klassik hätten nur ausgewiesene Connaisseurs getippt, die ihren Beethoven wirklich in- und auswendig kennen.
Jedenfalls hält die sogenannte Postmoderne beinah ausschließlich weniger haarige Höranforderungen bereit – und bestimmt keine einzige Komposition von solch komplexer Architektur, in der – apropos Postmoderne – scheinbar gegensätzlichste Dinge völlig unvermittelt nebeneinander stehen können. Was übrigens eine erstaunliche „Operation am offenen Kunstwerk“ möglich gemacht zu haben scheint.
Überforderung der Hörer war wohl der Grund, warum Beethoven das Fugen-Finale aus dem Verband des sechssätzigen, ohnehin riesenhaft angelegten op. 130 herauslöste und unter separater Opusnummer veröffentlichte.
Das nachkomponierte, tänzerisch beschwingte, wenn auch hintergründige Finale ist seine letzte fertiggestellte Komposition. Die Genese nachlesen kann man jetzt im Nachwort der bisher schönsten editorischen Tat zum Beethovenjahr: Bärenreiter hat ein Faksimile des B-Dur-Quartetts (mit beiden Finalvarianten) herausgebracht. Erstmals sind da die Manuskript-Teile wieder gesammelt, die der Wind der Zeitläufte wirklich in Bibliotheken in aller Welt verweht hat.
Akustische Visionen zum Lesen
Für des Notenlesens kundige Musikfreunde ist es ein besonderes Vergnügen, während einer Wiedergabe des Quartetts im Faksimile zu blättern. Vieles, was ein Druck nicht wiedergeben kann, Nuancen, die nur eine einmal großzügigere, dann wieder dichter werdende Handschrift vermittelt, lassen Beethovens Klangvisionen deutlicher ahnen.
Und der Moment, in dem genau in der Mitte der Partiturseite von Beethovens Hand das Wort „beklemmt“ steht, sorgt wirklich für Beklommenheit: Der Komponist hat da wohl einen erlittenen Herzanfall in Musik gefasst, der herrlich strömende Melodiefluss der „Cavatina“ kommt gefährlich ins Stocken, findet erst tastend, taumelnd zurück auf den rechten Pfad. Da hört man den Menschen Beethoven, der seinen unscheinbaren Fingerabdruck inmitten der grandiosen Architektur seines Werks hinterlässt – und nun kann man ihn auch sehen . . .
Ludwig van Beethoven: Streichquartett op. 130, Grande Fugue op. 133. Bärenreiter Faksimile, 2020