Archiv der Kategorie: SINKOTHEK

Klaviersonate Nr. 4

Sonate c-Moll

Sergei Prokofieff

  • Allegro molto sostenuto
  • Andante assai
  • Allegro con brio, ma non leggiero

Die Sonate Nr. 4 ist die letzte der Jugendsonaten Prokofieffs und greift wie die drei Vorgängerwerke auf frühe Entwürfe zurück, die der reifende Komponist nach zehn Jahren überarbeitet und formal zielsicher umgestaltete. Das Werk ist dreisätzig und von elegisch-düsterer Grundstimmung.

Das einleitende Allegro stammt aus einer 1907/08 entstandenen Jugend-Sonate, die Prokofieff in seinem Kovolut »Aus alten Heften« gesammelt hatte.

Der Mittesatz ist eine stark überarbeitete Fassung eines Satzes aus dem Entwurf zu einer Symphonie in e-Moll und zeigt in der in einem großen Bogen atmenden Neugestaltung die innere Festigung von Prokofieffs Stil.

Das Finale ist von enormer Kraft, beinah verspielt in seinen akrobatischen Dialogen zwischen unterschiedlichen klassischen Bewegungsmodellen – die den Hörer immer wieder zu Fehlschlüssen verleiten: Die Musik hat, wiewohl freundlicher als in den ersten beiden Sätzen, spürbar einen doppelten Boden.

Die ersten Menschen

1912

Rudi Stephan – Otto Borngräber

AUFNAHMEN

Otto Borngräber hatte dem deutschen Establishment der Zeit um 1900 nicht nur als enragierter Pazifist (Friedensappell an die Völker) und Autor des präzis zur Jahrhundertwende publizierten Dramas Das neue Jahrhundert als Querdenker Nüsse zu knacken aufgegeben. 1908 brachte er mit dem Drama Die ersten Menschen eine theatralische Aufbereitung der Geschichte von Adam, Eva, Kain und Abel heraus, die ganz im expressionistischen Stil der Zeit unverhohlen sexuelle Triebkräfte der alttestamentarischen Handlung aufzeigt — das ausdrücklich als »Erotisches Mysterium« bezeichnete Stück wurde nach seiner Münchner Uraufführung, 1912, sofort für das gesamte Königreich Bayern verboten.

Doch war der jugendliche Komponist → Rudi Stephan von dem Sujet fasziniert. Er hatte den 13 Jahre älteren Borngräber 1909 anläßlich des Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musik-Vereins in Stuttgart kennengelernt.

Doch der Autor war an einer Zusammenarbeit mit dem damals völlig unbekannten jungen Musiker nicht interessiert. Die erotischen Konnotationen seines Dramas ließen ihn hoffen, daß einer der führenden Musikdramatiker jener Ära, allen voran Richard Strauss, sich für den Text interessieren könnten. Borngräber trieb daher seine Honorarforderungen in unerschwingliche Höhen. Selbst der potente Vater des Komponisten, Dr. Karl Stephan, mußte passen. Er unterzeichnete aber letztendlich einen Vertrag auf sofortige Zahlung von 6.000 Reichsmark, der am Uraufführungstag weitere 4.000 Reichsmark folgen sollten. Die Tantiemen für Borngräber sahen einen für Librettisten ungewohnt hohen Berechnungsschlüssel vor.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Stephan längst zu komponieren begonnen, und das, obwohl selbst vom Schott-Verlag warnende Stimmen kamen:

ieser Stoff zieht selbst die himmlischste Musik mit sich in den Abgrund.

Stephan unterbrach die Arbeit an der Oper freilich nur zur Fertigstellung der Musik für Geige und Orchester und der Musik für Orchester.

Die ersten Menschen waren im Sommer 1914 vollendet, kurz nachdem ein Vorvertrag für die Uraufführung mit der Frankfurter Oper unterzeichnet war. Schott wollte das Aufführungsmaterial herstellen und im Falle des Erfolgs ins Verlagsprogramm aufnehmen. Dann kam der Weltkrieg — die Aufführungschancen für eine Oper aus der Feder eines nach wie vor kaum bekannten Komponisten sanken gegen null.

Der Pazifist Borngräber war längst in die Schweiz emigriert. Er starb 1916 in Lugano. Rudi Stephan mußte seinen Militärdienst antreten und fiel 1915 an der russischen Front in der Nähe des galizischen Tarnopol. Seine Oper kam am 1. Juli 1920 in Frankfurt zur Uraufführung. Der Freund Stephans aus Wormser Jugendtagen, Karl Holl, erstellte später eine Fassung derErsten Menschen, die um einige der »anstößigsten« Passagen des Textes bereinigt, eine weitere Verbreitung sicherstellen sollte. Diese Fassung wurde erstmals 1924 in Münster gespielt und erlebte an die 30 weiteren Einstudierungen bis in die Fünfzigerjahre.



Die Personen der Handlung

Erster Akt

Nach dem Sündenfall. Adahm muß im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdienen. Seine Frau Chawa und Söhne Kajin und Chabel träumen vom verlorenen Paradies, Chawa sehnt sich danach, von Adahm wieder körperlich begehrt zu werden. Kajin entdeckt im Anblick seiner Mutter seine sexuellen Triebe. Die Mutter wendet sich entsetzt von ihm ab. Der heimkehrende Chabel bringt mit seiner Vision eines gütig-allmächtigen Gottes Trost.

Zweiter Akt

Chabel beobachtet Chawa, die nachts vor dem Opferstein ekstatisch darum fleht, wieder von ihrem Mann begehrt zu werden. Kajin schleicht herbei und erkennt, wie begierig der Bruder die Mutter betrachtet. Eifersüchtig stürzt er sich auf Chabel und erschlägt ih.

Chawa verflucht den mörderischen Sohn. Adahm kann sie daran hindern, Kajin zu töten. Der Sohn flieht. Das Paar preist die Heraufkunft des neuen Tages als Symbol der Hoffnung auf eine kommende, bessere Welt.

Eine beeindruckende Wiedergabe des Werks entstand 1998 mit Gabriela Maria Ronge und Sigmund Nimsgern als Adam und Eva anläßlich einer konzertanten Live-Aufführung im Konzerthaus Berlin unter Karl-Anton Rickenbacher. (cpo)

Die früheste Aufnahme entstand 1952 in Frankfurt unter Wilfried Zillig mit Erna Schlüter und Ferdinand Frantz. (classical moments)

Berg »Lulu« – Die Musik

»LULU« – DIE HANDLUNG

Dramaturgie und Form

An Stlle einer Ouvertüre steht in »Lulu« der PROLOG des Tierbändigers. Er wird vor vor dem Vorhang gesungen und versetzt uns in die Atmosphäre eines Zirkus.

Musikalisch gesehen fungiert dieses Vorspiel als »Exposition« der wichtigsten Motive, die jeweils erklingen, wenn der Dompteur die vom Tierbändiger vorgestellten »Tiere« seiner »Menagerie« vorführt. Lulu erscheint als »Schlange«. die »Urgestalt des Weibes«.

Vorstellung der Themen und Motive

Im Ersten Bild erleben wir die Dialoge zwischen dem Maler, Dr. Schön und dessen Sohn Alwa, die zugegen sind, während Lulu im Pierrot-Kostüm Modell steht. Als sich die beiden Besucher entfernt haben, beginnt der Maler Lulu nachzustellen.

»Poco Adagio« – Duett (Kanon)

Lulus Gatte, der Medizinalrat, ertappt die beiden in flagranti und erleidet einen Herzinfarkt. An der Leiche singt Lulu einen Monolog in liedhafter Form.

»Canzonetta«

Zweites Bild. Lulu ist die Frau des Malers geworden, der sich vor Aufträgen kaum noch retten kann, seit ihn das Pierrot-Bild Lulus – und massive Unterstützung durch den Zeitungsverleger Dr. Schön – berühmt gemacht haben.

Duett Lulu/Maler in 2 Strophen

Der Maler ahnte weder etwas von Lulus Beziehung zu Dr. Schön, noch von ihrem Vorleben, dessen Verkörperiung in Gestalt des greisen Schigolch erscheint, der als Landstreicher kommt, um Geld zu bitten.

Schigolch sind schleichende chromatische Motive zugeteilt, die Berg auf wechselnde kammermusikalische Ensembles verteilt.

Dr. Schön erscheint und bittet Lulu, ihn freizugeben. Er möchte sich mit einer Frau aus der bürgerlichen Gesellschaft verloben. Lulu geht verstört ab.

Dem Dialog unterlegt Berg den Beginn eines langsamen Satzes in Sonatensatzform. Mit Lulus Abgang bricht die Musik jäh ab – sie wird am Ende des Ersten Akts fortgesetzt – und erklingt am Schluß der Oper als »Reprise« noch einmal, um den formalen Prozeß abzurunden.

Als der Maler erscheint, klärt Schön ihn über die wahren Sachverhalte auf. ihn endlich freizugeben. Jäh aus seinem Traum gerissen, verbarrikadiert sich der Betrogene im Badezimmer und begeht Selbstmord.

Berg erfand für diesen Dialog die Form der »Monoritmica« – ein und derselbe Rhythmus entfaltet sich vom Pianissimo (Grave) in dynamischer Steigerung zu rasender Fortissimo-Bewegung und wieder zurück.

Das dritte Bild spielt in der Theatergarderobe.

Hinter der Szene spielt die Band Rag Time und English Waltz

Ein exotischer Prinz erscheint und macht Lulu einen Heiratsantrag.

Choral, vom Cellosolo konzertant umspielt

Lulu sollte in einer von Alwa komponierten Revue die Hauptrolle tanzen, simuliert aber kurz nach ihrem Auftritt einen Ohnmachtsanfall, als sie die Dr. Schön mit seiner Braut in einer Loge entdeckt.

Großes Ensemble

Lulu droht Dr. Schön, mit dem Prinzen nach Afrika zu gehen. Schön, der einsieht, daß er sich von Lulu nicht zu lösen vermag, schreibt den Abschiedsbrief an seine Braut, den ihm Lulu triumphierend diktiert.

Fortsetzung von Dr. Schöns »Sonate« aus dem 2. Bild

ZWEITER AKT

Viertes Bild. Großer Saal im Hause Dr. Schöns. Lulu ist seine Frau geworden. Ihre gesamte Umgebung ist liebestoll nach ihr: Der Diener, Rodrigo, ein Athlet und Freund Schigolchs, ein junger Gymnasiast, die lesbische Gräfin Geschwitz und Alwa, der nun Lulus Stiefsohn geworden ist.

Im großen Rezitativ erscheinen die Motive der einzelnen Figuren jeweils klar getrennt: Gräfiin Geschwitz gehören die pentatonischen Tonfolgen, dem Gymnasiasten Fanfarenklänge, dem Athleten plumpe Klavier-Cluster, Schigolch die Chromatik.

Dr. Schön überrascht Lulu im zärtlichen Dialog mit Alwa.

Ein lyrisches »Rondo« (das im folgenden Bild fortgesetzt wird)

Dr. Schön drückt ihr im heftigen Streit einen Revolver in die Hand.

»Arie« in fünf Strophen, vor der letzten Strophe: »Lied der Lulu«

Statt sich selbst zu richten, tötet Lulu Dr. Schön.

Im Moment des Todes erklingt das einzige Mal in der Oper die zugrundliegend Zwölftonreihe »nackt«, ohne Begleitung im Unisono der Bläser.

Nach Dr. Schöns Tod singt Lulu eine kurze »Ariette« – Gegenstück zur »Canzonetta« im ersten Akt.

Als die Polizei erscheint, um Lulu zu verhaften, fällt der Vorhang. Im folgenden

ZWISCHENSPIEL (»OSTINATO«)

wünschte Berg ausdrücklich einen Film abgespielt, der die von der Musik illustrierte Handlung zeigen sollte – und zwar sollte der Stummfilm formal ähnlich akribisch gearbeitet sein wie das musikalische Zwischenspiel, das sich zu einem Scheitelpunkt hin entwickelt und dann streng rückläufig im Krebsgang wieder »zurückgespult« wird.

Wie die musikalischen Motive und Themen sollten sich auch die optischen Signale des Films entsprechen: Verhaftung Lulus – Untersuchungshaft – Prozeß – Gefängnis (ein Jahr Haft) dann rückläufig: Ärzte-Konsilium – Isolierbarocke, Befreiung, wie es im folgenden Bild erzählt wird. Selbst Details wie Patronen – Phiolen, Ketten – Bandagen, Gefängniskleider – Spitalskittel sollten einander symmetrisch entsprechen.

Fünftes Bild: Lulu ist von der Gräfin Geschwitz auf abenteuerliche Weise aus dem Kerker befreit worden. Als Mörderin des Doktor Schön muß sie nun aber das Land verlassen. Denn der Schwindel – Gräfin Geschwitz hat mit Lulu, die an der Cholera erkrankte, im Lazarett die Rollen getauscht – fliegt auf. Schigolch, nachdem er mit List die umherschwirrenden Verehrer vom Gymnaisasten bis zum Athleten verscheuchen konnte besorgt die Schlafwagenbillette nach Paris. Alwa und Lulu nehmen ihre unterbrochene »Liebesszene« wieder auf.

Die Fortsetzung von Alwas »Rondo«, mündet in eine leidenschaftliche »Hymne« auf die Schönheit Lulus.

Die »Symphonischen Stücke«

  • 1. Rondo. Andante und Hymne
  • 2. Ostinato. Allegro
  • 3. Lied der Lulu. Comodo
  • 4. Variationen. Moderato
    • Grandioso – Grazioso – Funèbre – Affettuoso – Thema
  • 5. Adagio.
    • Sostento – Lento – Grave

Die von Berg zusammengestellten »Symphonischen Stücke aus der Oper Lulu«, irreführend meist »Lulu-Suite« genannt, 1934 von Erich Kleiber in Berlin uraufgeführt, beginnen mit diesem symphonischen »Rondo« des Alwa unter Eliminierung der Singstimmen. In der Suite folgen darauf das »Ostinato«-Zwischenspiel, das »Lied der Lulu« (mit Sopransolo) sowie das von Berg extra zu diesem Zweck vollendete und instrumentierte Zwischenspiel, das im Dritten Akt das Paris- mit dem London-Bild verbindet: »Variationen« über ein Lautenlied von Wedekind, die den skuzessiven Abstieg der jungen Frau zur Straßendirne nachzeichnen und von fröhlichem Überschwang in tiefe Tragik münden). Der letzte Satz der »symphonischen Stücke« ist identisch mit dem Schluß der Oper, wiederum unter Eliminierung der Singstimmen. Dieses große »Adagio« nimmt die Musik der Sonate des Dr. Schön wieder auf – Berg hat diese Passage der Oper für die Uraufführung der »Symphonischen Stücke« vorab orchestriert, ehe noch die gesamte Komposition vollendet war.

Die Instrumentation und einige Dialog-Passagen des Dritten Akts konnte Berg nicht mehr vollenden. Seine Witwe Helene, die zunächst noch versucht hatte, Komponisten wie Schönberg oder Winfried Zillig zu gewinnen, das Stück spielbar zu machen, verbot zuletzt die Einsicht in die Skizzenblätter. So kam »Lulu« als Torso zur Uraufführung. Nach dem zweiten Akt spielte man die von Berg vollendeten Passaten des Dritten Akts aus den »Symphonischen Stücken«, zunächst bei geschlossenem Vorhang die »Variationen«, zuletzt – mit pantomimischer Drastellung des Mords an Lulu durch Jack the Ripper – das »Adagio«. Von hinter der Szene hörte man Lulus Todesschrei, zu dem in dreifachem Forte ein Zwölftonakkord erklingt. Die abschließenden Worte der Gräfin Geschwitz, die in den »Symphonischen Stücken« fehlen, wurden bei szenischen Aufführungen in der Regel gesungen:

Lulu! – mein Engel! – Laß dich noch einmal sehen! – Ich bin dir nah! – Bleibe dir nah – in Ewigkeit!

Friedrich Cerhas »Herstellung«

Noch zu Lebzeiten Helene Bergs hat der Wiener Verlag des Komponisten, die Universal Edition, dem Komponisten Friedrich Cerha den Geheimauftrag erteilt, die Skizzen Bergs zum letzten Akt zu vervollständigen, wobei Cerha bekannte, es seien kompositorisch nur ganz wenige Passagen zu »erfinden« gewesen und die Instrumentation fertigzustellen. Er nannte seine Arbeit denn auch die »Herstellung« des Dritten Akts.

Cerha betonte, daß viele Teile der Musik – wie schon das krebsgängige »Ostinato« inmitten des zweiten Akts vermuten läßt – dank Bergs Dramaturgie in Anlehnungen, teils sogar wörtlichen Reprisen aus den vorangegangenen Akten bestanden.

Im fertiggestellten DRITTEN AKT begegnen wir musikalisch daher etlichen Entsprechungen: Die großen Ensemble-Szenen, die das Paris-Bild umrahmen, sind mit dem Ensemble im Garderoben-Bild des Ersten Akts verwandt, die »Choral-Variationen«, in denen der »Marquis« Lulu zu erpressen versucht, um sie als Nobelprostituierte nach Ägypten zu verkaufen, entsprechen der Musik des Prinzen aus dem Garderoben-Bild. (Die beiden Partien werden in der Regel auch vom selben Sänger interpretiert). Die Szene in der Londoner Dachkammer setzt Lulus Freier mit ihren Männern im ersten Teil der Oper gleich: Der bigotte Professor erscheint zu den Klängen des Medizinalrats (ebenfalls eine stumme Rolle), der Neger mordet Alwa, der Wache hält, zu den Klängen des Malers (und wird von demselben Tenor gesungen). Und Jack the Ripper wird von Dr. Schön dargestellt. Lulu stirbt unter seinem Messer zu den Klängen der »Sonate« («Adagio«).

Beziehungsvoll zitiert Berg zu Lulus Tod leise auch das Motiv der Marie aus dem »Wozzeck«.

Die von Friedrich Cerha vervollständigte »Lulu« kam im Februar 1979 unter der Leitung von Pierre Boulez, inszeniert von Patrice Chéreau in Paris zur Uraufführung. Teresa Stratas sang die Titelpartie. Von dieser Aufführung hat sich eine Videoaufzeichnung und eine technisch exzellente Tonaufnahme erhalten, die DG veröffentlicht hat.

Alban Bergs Schaffen

Jugendwerke

Sieben frühe Lieder
Singstimme und Klavier – Orchesterfassung

Klaviersonate in h-Moll
1909/10
Das »Gesellenstück« anläßlich der Studien bei Arnold Schönberg

Vier Lieder op. 2
nach Texten von Hebbel und Mombert
1912

Streichquartett op. 3
gewidmet: Helene Berg
1919

Orchesterlieder
nach Ansichtskarten-Texten
von Peter Altenberg

Vier Stücle für Klarinette und Klavier op. 5

Die zentralen Werke der kurze aphoristischen Periode in Bergs Schaffen.

Drei Stücke für großes Orchester op. 6
1912

Wozzeck

»Kammerkonzert« für Violine, Klavier und Bläser
1913

Lyrische Suite für Streichquartett
1925

»Der Wein«, Konzertarie
Sopran (oder Tenor) und Orchester
1934

Lulu

Das Violinkonzert

»Dem Andenken eines Engels
1935

Webern-Zeitleiste

Anton von Webern

Zeitleiste

1883 – geboren am 3. Dezember in Wien

1888 – Die Mutter erteilt den ersten Klavierunterricht

1890 – Umzug der Familie nach Graz

1894 – Umzug der Familie nach Klagenfurt
Besuch des humanistischen Gymnasiums

1895 – Erster regulärer Musikunterricht

1899 – Erste Kompositionsversuche

1902 – Matura, Reise nach Bayreuth, Beginn des Studiums an der Universität Wien

1904 – Webern wird Schüler Arnold Schönbergs. Seine erste Orchesterkomposition, die Idylle Im Sommerwind, lag damals bereits vor.

1906 – Promotion (Dr. phil.) mit einer Arbeit über Johann Joseph Fux
– Die Mutter stirbt

Das Klavierquintett entsteht

1908 – Das Studiums bei Schönberg beendet
– Kapellmeistertätigkeit am Kurtheater Bad Ischl

Uraufführung der Passacaglia op. 1 in Wien unter Weberns Leitung.

1910 – Kapellmeisterdienste in Teplitz und Danzig

Webern dirigiert in Danzig seine Passacaglia

1911 – Hochzeit mit der Cousine Wilhelmine Mörtl
– Tochter Amalia geboren
Stücke für Violine und Klavier op. 7
– Übersiedlung nach Berlin

1912 – Kapellmeister in Stettin
– Erstdrucke Webernscher Werke in de Zeitschriften Der Blaue Reiter und Der Ruf

1913 – Rückkehr nach Wien
– das legendäre »Skandal-Konzert« mit der Uraufführung der Orchesterstücke op. 6 in Wien; Geburt der Tochter Maria. Komposition der Orchesterstücke op. 10.

1915 – Sohn Peter geboren
– Webern Einjährig-Freiwilliger im Ersten Weltkrieg

1917 – Entlassung aus dem Militärdienst
– Kapellmeister am Deutschen Theater Prag

1918 – Umzug nach Mödling
– Vortragsmeister des »Vereins für musikalische Privataufführungen«

1919 – Tochter Christinegeboren
– Tod des Vaters

1920 – Kapellmeistertätigkeit in Prag
– Webern wird Komponiste der Universal Edition

1921 – Dirigent des Wiener Schubert-Bundes
– Chormeister Männergesangverein Mödling

1922 – Webern dirigiert seine Passacaglia beim TonkünstlerfestDüsseldorf
Aufführung der Stücke für Streichquartett op. 5 beim Festival der IGNM inSalzburg
– Leiter der Wiener Arbeiter-Symphoniekonzerte
– Dirigent der »Freien Typographia«

1923 – Gastkonzert in Berlin
– Chormeister des sozialistischen »Arbeiter-Singvereins« Wien

1924 – Uraufführung der Bagatellen op. 9 und der Trakl-Lieder op. 14 beim Festival für Neue Musik in Donaueschingen
– Wien verleiht Webern den Großen Musikpreis

1925 – Lehrer am Jüdischen Blindeninstitut

1926 – Ende der Tätigkeit beim Männergesangverein Mödling.

1927 – Dirigent des Österreichischen Rundfunks (»RAVAG«)

1928 – Die Symphonie op. 21 entsteht
– Erkrankung an Magengeschwüren
– Kompositionsauftrag der »League of Composers«

1929 – Konzerte in Frankfurt und London

1930 – Fachberater und Lektor der RAVAG

1931 – Konzerte in London
– Musikpreis der Gemeinde Wien

1932 – Konzerte in London und Barcelona
– Übersiedlung nach Wien, später nach Maria-Enzersdorf

1933 – Konzert in London
– Feier des 50. Geburtstag

1934 – Nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Partei verliert Webern seine Ämter in deren »Kunststelle«
– Das Konzert op. 24 zur Feier von Arnold Schönbergs 60. Geburtstag

1935 – Konzert in London

1936 – Webern sagt seine Mitwirkung beim IGNM-Fest in Barcelona ab – die posthume Uraufführung von Alban Bergs Violinkonzert übernmmt Hermann Scherchen
– Gastspiel in Winterthur

1938 – Elizabeth Sprague Coolidge erteilt den Kompositionsauftrag für ein Streichquartett. Weberns Quartett op. 28 ist in den Märztagen des Jahres vollendet.
– Uraufführung der Kantate Das Augenlicht in London

1940 – Schweiz-Reise
– die Variationen entstehen, Weberns letztes Orchesterwerk.

1941 – Webern beginnt an der Kantate Nr. 2 (nach Texten von Hildegard Jone) zu arbeiten. Sie wird sein letztes vollendetes Werk sein.

1943 – Erneute Schweiz-Reise
– Feier des 60. Geburtstags

1945 – Sohn Peter stirbt am 11. 
– Flucht vor den herannahenen Sowjet-Truppen nach Mittersill
– Am 15. September wird Anton von Webern von einem amerikanischen Besatzungssoldaten in Mittersill erschossen

Weberns Grab in Mittersill

Strawinsky-Zeitleiste

Leben und Werk des Igor Strawinsky

1882

Igor Fjodorowitsch Strawinsky kommt am 18. Juni in Oranienbaum bei St. Petersburg zur Welt.

Der Vater ist Bassist und geachtetes Mitglied der kaiserlichen Oper.

1891

Igor, dessen Mutter eine gute Hobby-Pianistin ist und exzellent vom Blatt liest, bekomm erstmals professionellen Klavierunterricht.

Erster Opernbesuch: Glinkas Leben für den Zaren.

Strawinsky-Zeitleiste weiterlesen

Le baiser de la fée

Igor Strawinsky (1928)

AUFNAHMEN
Miah Thompson in Kenneth MacMillans Choreographi in London

Das Ballett, entstanden über Auftrag Ida Rubinsteins für die Choreographin Bronislava Nijinska, hat Igor Strawinsky, basierend auf einer Erzählung von Hans C. Andersen als Hommage an sein großes Vorbild Peter Iljitsch Tschaikowsky komponiert. Er griff dabei auf kurze, großteils wenig bekannte Stücke Tschaikowskys zurück, die er allerdings – im Gegensatz zu den barocken Vorlagen, die er für »Pulcinella« genutzt hatte – stark verfremdet hat. Vor allem hat er Tempi und musikalischen Charekter von Tschaikowskys Kompositionen verändert, oft in ihr Gegenteil verkehrt: So wurde aus einem »Scherzo humoresque« (op. 19/2) das langsame Lied, mit dem Szene III beginnt.

Bemerkenswert der Satz, den Strawinsky dieser Ballettmusik in seiner Autobiographie widmet:

Ich habe mich an einem neuen Kompositions- und Orchestrierungsstil versucht, der die Musik beim ersten Hören verständlich machen sollte.

Der Kuß der Fee
Szene I
Wiegenlied im Sturm
Eine Mutter kämpft sich durch einen wilden Sturm und versucht wiegen ihr Kind zu beruhigen, das sie schützend im Arm hält. Die dienstbaren Geister der Fee verfolgen das Paar, entreißen der Frau das Kind, das, von der Fee geküßt, allein bleibt. Bauern finden es und suchen nach der Mutter. Doch vergeblich. Sie nehmen das Findelkind mit sich.

Szene II
Bäuerliches Fest
Ein junger Mann und seine Braut tanzen. Als der Mann zuletzt allein bleibt, erscheint ihm dei Fee in Gestalt einer Zigeunerin, die ihm seine Zukunft weissagt. Tanzend zieht sie ihn immer mehr in ihre Gewalt und verheißt ihm großes Glück. Der junge Mann bittet sie, ihn wieder seiner Braut zuzuführen.

Szene III
In der Mühle
In der Mühle findet der Mann seine Braut, die mit ihren Freundinnen spielt. Nach einem gemeinsamen Tanz verschwindet das Mädchen, um ihr Hochzeitskleid anzulegen. Der junge Mann bleibt allein zurück.

Szene IV
In den Brautschleier gehüllt, erscheint jedoch die Fee. Der junge Mann ist fasziniert und nimmt sie leidenschaftlich in seine Arme. Erst als die Fee den Schleier abwirft, erkennt er seinen Irrtum. Doch hat er gegen die Zauberkräfte keine Macht: Die Fee entführt ihn in ein Land jenseits von Zeit und Raum. Während die Braut vergebens nach ihrem Geliebten sucht, küßt die Fee in den Gefilden der Seligen, umschwebt vom Reigen der Geister, kihr Opfer zu den Klängen eines Wiegenliedes noch einmal: Der junge Mann ist der Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky, die Fee seine mephistophelische Muse.

Balanchines Eigenmächtigkeit

Strawinsky verstand sein Ballett als Hommage an den verehrten Vorgänger – doch die Apotheose mit dem verhängnisvollen »Musenkuß« war nur anläßlich der Pariser Uraufführung am 27. November 1928 in der Choreographie der Nijinska zu sehen. Georges Balanchine hat sie mißfallen. Er strich für seine Version des Werks das Finale und ließ es mit einem Bauerntanz enden, eine Eigenmächtigkeit, die auch den harmonischen Plan von Strawinskys Partitur mißachtet. Das Ballett schließt demnach in der Praxis nicht in der Grundtonart des Werks …

1960 hat auch Kenneth MacMillan eine eigene Version des Werks für seine Londoner Compagnie erarbeitet.

Der »Kuß der Fee« gehört nicht unbedingt zu den Favoriten großer Dirigenten. In seiner Mailänder Zeit hat Riccardo Muti sich der Partitur angenommen und eine höchst wohlklingende Version mit dem Orchester der Scala eingepielt. Sie enthält die gesamte Ballettmusik.

Unverzichtbar ist die Erstaufnahme der »Divertimento« genannten Suite, die einen Großteil der Musik wiedergibt – nur einige wenige Szenen hat Strawinsky für den Konzertgebrauch gestrichen. Igor Markevich stand am Pult des Pariser Rundfunkorchesters – Seite 2 der Langspielplatte enthielt eine nicht minder fein durchgearbeitete, spritzige Version von »Puclinella« – in diesem Fall nicht die Suite, sondern die erste Gesamtaufnahme des Balletts. Eine exzellente Platte, auf diversen CD-Umschnitten und bei Streamingdiensten abrufbar.

»Petruschka«

AUFNAHMEN
Alexandre Benois Bühnenbild-Entwurf für das zweite Tableau

Petruschka

Ballett von Igor Strawinsky.

Die zweite Partitur, die Igor Strawinsky für den kongenialen Impresario der Balletts russes, Serge Diaghilev, komponiert hat. Die Arbeit an diesem Werk drängte sich dank einer spontanten Eingebung mitten in die Vorarbeiten am spektakulären Projekt zu »Sacre du printemps«. Der Komponist beschreibt den Moment der Inspiration in seinen Memoiren anschaulich.

Ein »szenisches« Klavierkonzert

Die Vorstellung eines Pianisten hatte von ihm Besitz ergriffen, der mit seinen Soli gegen ein widerspenstiges Orchester ankämpft. Die Grundidee des »Petruschka« war ein szenisch inspirierter Gedanke zu einem Klavierkonzert. Dem Klavier wird denn auch in der Ballettmusik solistische Funktion zukommen.

Zwischen »Feuervogel« und »Sacre«

Wenn Strawinsky später selbst von seiner erstaunlichen musikalischen Entwicklung zwischen den schillernden, im grunde aber von der Spätromantik und dem Impressionismus geprägten Klängen des »Feuervogel« zur radikalen Tonsprache seines »Sacre du printemps« berichtet, dann wäre zu sagen, daß die Radikalisierung im dazwischen liegenden »Petruschka« bereits weit fortgeschritten scheint. Die Harmonik dieser Ballettmusik beruht nicht zuletzt auf der dissonierenden Überlagerung zweier weit voneinander entfernten Tonarten – C und Fis – und spitzt die repetitiven, forschen Rhythmen des wilden Tanzes des Katschei aus dem »Feuervogel« weiter zu.

Volksmusik und Mosaik-Technik

Die melodischen Grundlagen findet Strawinsky – wie etwa schon im Finale des »Feuervogel« mehr und mehr in russischen Volksliedern. Der »russische Tanz« am Ende des ersten Bilds von »Petruschka« weist schon auf die noch weiter abstrahierende Kunst des »Sacre« voraus. In der Partitur des »Petruschka« finden sich, ganz anders als im »Feuervogel«, kaum noch Assoziationen zum rauschhaft romantischen Orchesterklang des Lehrer Nikolai Rimskij-Korsakow. Die thematische Arbeit nähert sich zunehmend einer originellen Mosaiktechnik an.

Diese ermöglicht über die Volksszenen in den Außen-Bildern des »Petruschka« eine kontinuierliche Entwicklung, die von der Aneinanderreihung einzelner Nummern abrückt. Aus dem »Feuervogel« konnte Strawinsky noch mühelos einzelne Szenen zu Suiten für den Konzertgebrauch aneinanderreihen. In »Petruschka« erinnert an diese Kompositionsweise nur noch das Finale des ersten Tableaus, der »russische Tanz«. Der auch den Kopfsatz der »Drei Stücke aus Petruschka« bildet, die der Komponist für Klavier bearbeitet hat.

Die beseelte Puppe

Für die Konzertversion des Balletts ließ Strawinsky dann das dritte Bild fort und strich den still verebbenden Schluß des Balletts. Fulminant gelang dem Komponisten die Trennung der Sphären der handelnden Personen: Ballerina und Mohr agieren wirklich wie seelenlose Puppen, Petruschka jedoch ist eine zwar surrealistische, aber mitleiderregende Mixtur aus Marionette und Mensch. So tritt die Dramaturgie aus der Märchenwelt des »Feuervogel« in anrührende, wenn auch mit modernen Collage-Mitteln gebrochene Psychologosierung.

Sein und Schein

Das Mit- und Gegeneinander verschiedener Bewußtseinsebenen wird auch harmonisch zum Ereignis – im berühmten »Petruschka«-Akkord, der C- und Fis-Dur überlagert, in der Parallelführung von mechanischer Drehorgel-Musik und der sie umgebenden »Realität«, aber auch im melodischen und rhythmischen Kontrapunkt verschieder Themen und Metren, die sowohl im ersten als auch im dritten Tableau zu kühnen Überlagerungen führen. Strawinskys Genialität entwickelt musikalische Modernismen stets aus szenisch-dramaturgischen Überlegungen heraus – so bleiben sie für das Publikum erklärlich und daher im tiefen Sinne »verständlich«.

Premiere mit Superstars

Das erkannten auch die zunächst skeptischen Mitwirkenden der Uraufführung. Ausstatter Alexandre Benois geriet bei der ersten gemeinsamen Sitzung des Leading-Tems über die Musik, die Strawisnkys am Klavier vorstellte, ins Schwärmen:

Vor allem der russische Tanz: Das ist diabolische Rücksichtslosigkeit, mit seltsamen Abweichungen in die Region der Zärtlichkeit …

Nijinski als Petruschka

Die Uraufführung am 13. Juni 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet mit Tamara Karsawina als Ballerina und dem einzigartigen Waslaw Nijinski in der Titelpartie wird zu einem Triumph – Strawinsky, mit dem »Feuervogel« im Jahr zuvor ins international Rampenlicht gerückt, ist mit diesem Abend ein gemachter Mann, an dem die Musikwelt nicht mehr vorbeikommt. Die musikalische Leitung dieser Premiere der Ballets russes liegt in den Händen des jungen Franzosen Pierre Monteux — er wird zwei Jahre später die allseits als unspielbar bezeichnete »Sacre du printimps« gegen die toebenden Proteste des Publikums zu einem grlücklichen Ende führen — und damit seinerseits zu einer Dirigenten-Legende werden.

Tableau I.

Sankt Petersburg. Admiralitätsplatz, 1830er-Jahre.

An einem sonnigen Wintertag feiern Scharen von Menschen Karneval. Wenn der Vorhang sich hebt herrscht buntes Volkstreiben, einfache Leute, distinguiertes Bürgertum, vornehme Damen und Herrn, Betrunkene, die sich gegenseitig stützen. Kinder drängen sich um die Bühne des Puppenspielers. Ein Musikant dreht seinen Leierkasten, zu dessen Musik eine Tänzerin sich anmutig bewegt. Doch bald bekommt sie Konkurrenz: Von der gegenüberliegenden Seite des Platzes nähert sich ein Mann mit einer Spieluhr, auch er von Tänzern begleitet. Ungeachtet des akustischen Verwirrspiels, hebt sich der Vorhang des Marionettentheaters: Drei leblose Puppen erscheinen Petruschka, die Ballerina und ein Schwarzer. Mit Flötenklngen erweckt der Puppenspieler die Gestalten zum Leben. Das allgemeinen Erstaunen ist groß, als die drei Figuren mit einem Mal aus dem Theater heraustreten und sich unter Volk mischen. Ein zündender Tanz aller beendet die Szene.

Tableau II.

Petruschkas Garderobe.

Schwarze Wände, auf die Sterne und eine Mondsichel gemalt sind. Die Flügeltüren zieren kleine Teufelchen auf Goldgrund. An einer Wand das Portrait des Puppenspielers.

Petruschka leidet. Er ist sich seiner grotesken Außenseiter-Position bewußt und verbittert, von seinem finsteren Herrn abhängig, eine freudlose Existenz führen zu müssen. Der Gedanke an die hübsche Ballerina tröstet ihn. Doch als sie zu Besuch erscheint, vergrämt er die Angebetete durch seine unbeholfene, ungehobelte Art. Sie flieht vor ihm. Petruschka verflucht den Puppenspieler, der ihm offenbar zu wenig Charme und Grazie eingehaucht hat. Doch seine Attacke auf das Portrait reißt lediglich ein Loch in die Wand des Puppentheaters.

Tableau III.

Die Garderobe des Mohren.

Grüne Palmen zieren die mit Blüten bunt gemusterte Tapete. Eine kleine Tür führt in die Garderobe der Ballerina. Der Mohr hat ein prächtiges exotisches Kostüm angelegt und spielt, auf seinem Diwan liegend, mit einer riesigen Kokosnuss, die er wie einen fetisch anbetet. Offenkundig ist diese Figur grobschlächtig und nicht gerade geistsprühend. Aber die Ballerina ist fasziniert. Doch Petruschkas plötzliches Erscheinen verhindert die Entfaltung der Liebesszene, die sich angahnt. Der Mohr wirft den Konkurrenten aus dem Zimmer.

Tableau IV.

Währenddessen ist das Karnevalstreiben in vollem Gang und treibt mit einem Tanz der Ammen und dem Auftritt eines Tanzbären, den ein Bauer auf seiner Flöte begleitet, dem Höhepunkt zu. Eine Gruppe von Kutschern und Krankenschwestern tritt auf, ehe sich eine wilde Schar von Maskierten – Teufel, Ziege und Schwein – ins wirbelnde Geschehen mischt. In diesem Moment stürmt Petruschka auf den Platz, verfolgt vom wütenden Mohren, den die Ballerina vergeblich zurückzuhalten versucht. Petruschka sinkt unter den Schlägen des Krummsäbels seines Nebenbuhlers verwundet zusammen. Er stirbt, als es leise zu schneien beginnt. Der Puppenspieler beruhigt die entsetze Menschenmenge und versichert, es handle sich lediglich um Marionetten, die ein lebensechtes Theaterstück realisiert hätten. Die Menge zerstreut sich. Die Nacht bricht herein. Während der Puppenspieler versucht, die Puppe Petruschkas ins Theater zu zuerren, erscheint ihm deren Geist gespenstisch und winkt ihm vom Theaterdach höhnisch zu.

Neben der fulminanten Stereo-Aufnahme unter der Leitung des Uraufführungs-Dirigenten Pierre Monteux gilt auch die Einspielung des Strawinsky-Spezialisten Ernest Ansermet als Schallplatten-Legende.

Artur Bodanzky

1877 – 1939

Artur Bodanzky stammte aus Wien, studierte in seiner Heimatstadt und spielte eine Zeitlang in Wiener Orchestern, vor allem war er Geiger im Hofopernorchester. Er hatte aber auch eine gründliche Kapellmeisterausbildung absolviert und wurde in der Ära Gustav Mahlers zu dessen Assistenten. 1904 machte ihn das Theater an der Wien in der Nachfolge Alexander von Zemlinskys zum ersten Kapellmeister, der sein Debüt am Haus mit einer Premiere von Johann Strauß‘ Spitzentuch der Königin feierte.

DIE ERSTE PARISER »FLEDERMAUS«

Für den internationalen Ruf des jungen Dirigenten aus Wien war nicht zuletzt die mit Spannung erwartete Erstaufführung von Johann Strauß‘ Fledermaus in Paris prägend. Unter den Augen von Strauß‘ Witwe studierte Bodanzky das Werk ein und das in Sachen Operette nicht nur kritische sondern auch lokalpatriotische Pariser Publikum jubelte. Ein Rezensent berichtete für das Neue Wiener Journal im April 1904 über die bevorstehende wahre Pariser Sensation:

Wenn die Fledermaus in Paris den großen Erfolg … davonträgt, so wird das in erster Reihe das Verdienst Bodankzy’s sein. Dieser junge Künstler hat mit seinem Taktstock den Musikern und den Darstellern den wienerischen Geist der Strauß’schen Musik eingeprägt, dem Orchester und der Künstlerischaft die Schönheit des Werkes zum Bewußtsein gebracht.

Nicht zuletzt als Wagner-Interpret machte sich Artur Bodanzky sich aber europaweit rasch einen Namen, bekleidete führende Positionen zunächst in Prag, dann in Mannheim. Sein Prager Debütkonzert, 1907, (nach einigen hochgelobten Opernvorstellungen) galt Beethovens Eroica über die der Rezensent der Montagsrevue aus Böhme schwärmte über

das liebe- und verständnisvolle Eindringen in die Details, ohne den Zug ins Große, den Blick auf das Ganze zu verlieren, die suggestive Gewalt über den Orchesterkörper, dessen Glieder jeder für sich das Beste und zusammen ein wohlabgetöntes Ganzes zu geben aufgerüttelt wurden, die subjektive Durchdringung des Werkes ohne Verlezung seiner Substanz.

Weniger freundlich nahm man bei dieser Gelegenheit übrigens die Novität auf, die Bodanzky aus Wien mitgebracht hatte und die sein Interesse für Neues spiegelte: Alexander von Zemlinskys Seejungfrau – und zwar noch in ihrer dreisätzigen, später verlorenen und erst Jahrzehnte danach wieder rekonstruierten Fassung.

WECHSEL IN DIE USA

Als Wagner-Kenner holte man Bodanzky 1914 für die Londoner Erstaufführung des Parsifal an die Covent Garden Oper. Im englischsprachigen Raum war Bodanzky in der Folge nicht mehr aus dem Opernleben wegzudenken. Die Metropolitan Opera rief und machte ihn zum führenden Maestro für das deutsche Fach.

Eine Rückkehr nach Europa kam für ihn ab dem Kriegseintritt der USA nicht mehr in Frage. In Österreich berichtete die Musikzeitung 1917 mit einem unverblümten Hinweis auf die mögliche Wiener Karriere des Dirigenten aus Amerika:

Der Patriotismus ergriff gestern nachts das Metropolitan Opera House und bewegte es bis in die vornehmen ränge. Schon bevor Herr Artur Bodanzky zu den einleitenden Takten des Sternenbanners einsetzte, schien das Publikum, das am Montag stets zahlreich und fashionabel ist, zu fühlen, daß irgendetwas Besonderes im Zuge war. Es wurde offenbar als Herr Bodanzky ins Orchester trat und ohne sich zu setzen, seinen Stab hob. Die Klänge der amerikanischen Nationalhymne ertönten. Von allen Seiten kam Gesang. Die Inhaber der Parterresitze sangen wie die Besucher der obersten Galerie. Herr Bodanzky, der Ungar ist, und sein zum großen Teil deutsches Orchester spielten machtvoll. – und Herr Bodanzky galt bisher als einer der fähigstn Anwärter auf den Posten eines musikalischen Chefs der Wiener Hofoper. Das wird man sich wohl aus dem Kopf schlagen müssen.

Es handelte sich um die Aufführung eines Werks namens Canterbury Pilgrims von Reginald De Koven. An diesem Tag hatte der amerikanische Kongreß den Eintritt der USA in den Krieg beschlossen. Die Entscheidung wurde vor der Vorstellung verkündet. Ein Bericht, der 1921 erschien, bewertet Bodanzkys »Engagement« in dieser Causa ein wenig anders als der Berichterstatter von 1917. Da heißt es

Eine panikartige Erregung dudrchzitterte den Saal. Das Publikum erhob sich. Das Orchester, dessen Leitung Bodanzky wohl oder übel beibehalten mußte, intonierte die Nationalhymne.

New York wurde jedenfalls zu Bodanzkys zweiter Heimat. Er dirigiert dort auch das philharmonische Orchester, vor allem aber unzählige Abende an der Met, wobei Wagner nach dem Kriegseintritt für einige Zeit ausgespart wurde.

Anders als sein Mentor Mahler erwies sich Bodanzky als Praktiker, der dem amerikanischen Publikum in Sachen Wagner-Pflege insofern entgegenkam, als er kräftige Kürzungen in den Partituren gestattete. Sogar in die Partituren von Beethovens Fidelio und Webers Freischütz griff er ein, um sie für ein Opernhaus, in dem nach Pariser Vorbild gesprochene Dialoge verpönt waren spielbar zu machen: In beiden Fällen komponierte Bodanzky Rezitative für die Vorstellungen an der Metropolitan Opera anfang des XX. Jahrhunderts.

Daß ein Kapellmeister auch arrangierend tätig werden sollte, war für einen Mann seiner Generation selbstverständlich. Bodanzky kümmerte sich bereits in seinen europäischen Jahren auch um Textfassungen der von ihm dirigierten Opern, etwa als er als führender Dirigent in Mannheim 1914 nach vielen Jahren eine Neuproduktion von Mozarts Don Giovanni herausbrachte, für die er eine neue deutsche Textfassung erstellte.

Die Sicherheit, mit der Bodanzky musikalisch über die Werke gebot, die ihm anvertraut waren, war schon zu seinen Lebzeiten legendär. Er dirigierte beispielweise an jenem Abend, an dem der dann meistbeschäftigte und bedeutendste Wagner-Tenor an der Met debütierte: Lauritz Melchiors New Yorker Einstand mit Tannhäuser fand nicht nur ohne Orchesterprobe, sondern ohne jede Verständigung zwischen Dirigent und Sänger statt. Angesichts der folgenen märchenhaften Met-Karriere Melchiors scheint das nicht geschadet zu haben . . .

Von Bodanzkys späten New Yorker Aufführungen – nicht zuletzt solchen, in denen auch Lauritz Melchior brillierte – sind etliche Livemitschnitte erhalten. Im Studio hat der Dirigent vor allem Ouvertüre und kleinere Orchesterstücke aufgenommen, die nicht repräsentativ für seine Kunst sind. Eine Aufführung einer Wagner-Oper hört man aber trotz mangelhafter technischer Überlieferung mit Hochspannung von Anfang bis Schluß. Ein Abglanz vom Feuergeist Gustav Mahlers scheint da noch bewahrt. Über die Aufführung des Siegfried mit Lauritz Melchior im Jahr 1937 (als Livemitschnitt auf dem Label Pristine greifbar) schrieb der führende New Yorker Kritiker Olin Downes in der New York Times

Mr. Bodanzky’s conducting of ,,Siegfried“ is not the interpretation of one but of every part of the opera. It is not to be taken for granted, for it represents the very essence of the score. It was a performance which in accent, color and sense of form established the mood and significance of the occasion. The fact was appreciated by the public, which gave the conductor special applause.