Archiv der Kategorie: SINKOTHEK

Dvoraks Quartette

Die Streichquartette

Antonín Dvořák

FRÜHE VERSUCHE

Quartett in A-Dur (1862)

Antonín Dvořák startete schon mit 21 den ersten Versuch, ein Streichquartett zu schreiben. Das war 1862, ein Jahr nachdem er auf dem kammermusikalischen Sektor zunächst ein Streichquintett komponiert hatte. Dem vom Komponisten selbst als op. 2 numerierten Quartett sollten in den kommenden Jahrzezten 13 weitere einschlägige Werke folgen. Die Nr. 1 kam noch zu Dvořáks Lebzeite, 1888, zur Uraufführung, wurde aber erst 1948 gedruckt. Der Komponist hat das Stück nie wirklich anerkannt, für die Uraufführung von 1888 aber immerhin eigenhändig Veränderungen an der Partitur angebracht und das Werk gekürzt.

Das Quartett ist eine bemerkenswerte Stilübung und beginnt mit einem regelrechten Sonatensatz, dem eine Andante-Introduktion vorangeht. In der Durchführung erkundet Dvořák das harmonische Terrain mittels ausschweifenden Modulationen. Der langsame Satz steht im parallelen fis-Moll und übt sich in hochromantischem Espressivo, wobei das eindrucksvolle Geigenthema von der Bratsche bald behutsam imitiert wird. Wie in einem Konzert-Satz sorgt eine Kadenz für den Quartett-Primarius für die Überleitung in die Reprise. Die tonale Struktur der ersten beiden Sätze wird im folgenden Allegro scherzando gespiegelt, dessen Trio wiederum in fis-Moll steht.

Wie noch oft in späteren Werken sucht Dvořák bereits in seinem Quartett-Erstling nach innerem Zusammenhalt der einzelnen Sätze: So läßt er vor dem Ende des Finales die langsame Einleitung des ersten Satzes wiederkehren.

Quartett in B-Dur (B. 17)

  • Allegro ma non troppo
  • Largo
  • Allegro con brio
  • Finale. Andante

Schon das Vorgängerstück hat Antonín Dvořáks Ehrgeiz offenbart, mit seinen Streichquartetten die große Form für sich zu erobern. Die Ausdehnung der Stücke nimmt konsequent zu. Hatte das A-Dur-Werk etwa eine Dreiviertelstunde gedauert, dehnt sich das B-Dur-Quartett auf an die 50 Minuten aus, das folgende D-Dur-Quartett benötigt dann eine Aufführungszeit von mehr als einer Stunde und dauert damit etwa so lange wie Beethovens Neunte Symphonie.

Im Zweiten Streichquartett tritt Dvořáks Intention, seine mehrsätzigen Kompositionen durch übergreifende Motive und Themen zu einen und große formale Bögen zu spannen, bereits offen zu Tage.

Quartett in D-Dur (um 1870, B. 18)

  • I. Allegro con brio
  • II. Andantino
  • III. Allegro energico
  • IV. Finale: Allegretto

Das D-Dur-Quartett ist Antonín Dvořáks dritter Versuch mit der klassischen Quartett-Form und entstand 1869 oder 1870. Die Datierung ist unklar, eine erste Stimmenabschrift stammt aus dem Jahr 1870. Die Verwendung des patriotischen tschechischen Liedes Hej, Slované im dritten Satz deutet auf die Jahre 1868/69 hin, in denen das Lied von der erwachenden böhmischen Nationalbewegung gern gesungen wurde. Ob das Quartett in Antonín Dvořáks Zeit je gespielt worden ist, ist fraglich. Das erwähnte Stimmen-Material ist extrem fehlerhaft und weist keine Gebrauchsspuren auf.

Das Quartett ist ungewöhnlich umfangreich und gehört zu Dvořáks ehrgeizigen frühen Versuchen, sich klassische Formen anzueignen und – im subjektiven Stil der Wagner-Liszt-Schule in Vehikel persönlicher Aussagen zu verwandeln. Für die erste Notenausgabe in den Sechzigerjahren des XX. Jahrundert nahmen die Herausgeber massive Kürzungen vor. Im Original dauert es im ersten Satz 150 Takte, bis nach dem breit ausgeführten Hauptthema der lyrische Seitensatz erklingt. Ungekürzt dauert der Kopfsatz des Quartetts an die 24 Minuten!

Der langsame Satz (»Andantino«) ist dreiteilig mit sanft umspielter Reprise und steht in h-Moll. Das patriotische Lied prägt das G-Dur-Scherzo, dessen ruhiges Trio (B-Dur) einen sanften Kontrast zum spritzigen Geschehen bildet. Im Final-Rondo versucht sich Dvořák an einer modern-chromatisierten Melodik und Harmonik, die deutlich an Wagner geschult sind, dessen Einfluß sich auch an der zur selben Zeit entstadnenen Oper Alfred zeigt.

Streichquartett in e-Moll (um 1870)

  • Allegro
  • Andante religioso
  • Allegro con brio.

Dvořáks Streichquartett in e-Moll (B. 19) ist vermutlich im Jahr 1870 entstanden. Aber der Komponist hat das Werk zurückgezogen. Doch lag ihm das entrückte H-Dur-Nocturne am Herzen, das er in einem Arrangemet für Streichorchester als op. 40 herausgabe und zuvor noch in sein Streichqintett in G-Dur integrierte, aus dem er es anläßlich der Veröffentlichung als op. 77 aber ebenfalls wieder entfernte.

Die ursprüngliche, dreisätzige, aber pausenlos gearbeitete Version für Streichquartett wurde zu Lebzeiten Dvořák nicht mehr beachtet und erschien wie zwei weitere verworfene Quartette erst 1968 in Druck. Das Stück gehört in die experimentelle Phase des Komponisten, liebäugelt klanglich durchaus mit der Sprache der Wagner-Epigonen und stellt innige Verbindungen zwischen den Werkteilen her: Die magischen Klänge des Andantes kehren vor dem Schluß des Allegro con brio abrundend noch einmal wieder.

Quartett in f-Moll op. 9

  • Allegro con brio
  • Andante con moto quasi allegretto
  • Tempo di valse
  • Finale: Allegro molto

Das Streichquartett in f-Moll entstand 1873, einem Jahr das für Antonín Dvořák gemischte Erfahrungen bereithielt. Die patriotische Kantate Die Erben des Weißen Berges war auf viel Gegenliebe gestoßen, die Neufassung der König und Köhler hatte den älteren Kollegen Smetana beeindruckt, der sie zur Aufführung im Tschechischen Opern-Theater von Prag annahm. Doch folgte die Enttäuschung auf dem Fuß: König und Köhler verschwanden nach den ersten Ensembleproben wieder vom Probenplan des Hauses. Die Musik klang den Ausführenden zu sehr nach Wagner und sollte für die kommende Spielzeit noch einmal überarbeitet werden. In dieser Stimmung arbeitete Dvořák an seinem neuen Streichquartett. Es war Anfang Oktober fertiggestellt, einen Monat vor der Hochzeit des Komponisten mit einer Choristin des Operntheaters. Anders als die vier vorangegangenen Quartett-Versuche wurde das Opus 9 zumindest zur Uraufführung angenommen; doch auch hier bemängelten die Musiker den Stil, der zu sehr von der neudeutschen Schule beeinflußt schien – dieselben Musiker hatten übrigens Friedrich Smetanas e-Moll-Quartett (»Aus meinen Leben«) aus dem nämlichen Grund kritisiert.

Vermutlich hat die eigentliche Uraufführung von Dvořák f-Moll-Quartett erst nach Erscheinen der Partitur in Druck, 1930, stattgefunden. Der Komponist hat aus dem langsamen Satz des Werkes eine Romanze für Solovioline und Orchester gemacht, die er 1879 veröffentlichte. Kommentatoren rücken Dvořáks Komposition in die Nähe von Smetanas erstem Quartett und vermuten auch hier autobiographische Züge: Dvořák soll hier, heißt es, seine künstlerischen Selbstzweifel in Musik gesetzt haben und auch deren Überwindung durch befriedigende musikalische Arbeit.

Quartett in a-Moll op. 12

  • Allegro,ma non troppo
  • Andante cantabile
  • Allegro scherzando
  • Allegro, ma non troppo

Dvořáks a-Moll-Streichquartett entstand in den Monaten November und Dezember des Jahres 1873, in der Zeit der Hochzeit des Komponisten. Mit dem Ergebnis seiner Arbeit war Dvořáks nicht zufrieden. Rasch ging er an eine Neufassung der Partitur, die er allerdings nie beendet hat. Das Stück blieb fragmentarisch liegen. Jahrzehnte später versuchte Jarmil Burghauser, Herausgeber der Dvořák-Gesamtausgabe der Supraphon-Edition, eine Spielfassung zu rekonstruieren, die dann dem Erstdruck zugrundegelegt wurde.

Original erhalten blieben von Dvořáks Hand Exposition und ein großer Teil der Durchführung des Kopfsatzes, ein großer Teil des Scherzos, der gesamte dritte Satz, ein schönes Adagio in E-Dur, das wohl den wertvollsten Teil der Komposition darstellt, sowie Abschnitte des Finales.

Quartett in a-Moll op. 16

Wie viele Werke Antonín Dvořáks entstand auch dieses Streichquartett in atemberaubend kurzer Frist, innerhalb von zehn im September 1874. Es erschien 1875 in Druck und erklang 1878 erstmals öffentlich, gespielt vom Bennewitz-Quartett. Wie schon im f-Moll-Quartett (und des öfteren noch in späteren Werken) legt Dvořák die dramatischsten Momente in den Schlußsatz, den er »grandioso« enden läßt. Unverwechselbarer Dvořák ist das tänzerische C-Dur-Trio im Scherzo.

DIE QUARTETTE DER REIFEZEIT

Für die ersten beiden Streichquartette aus des Komponisten Reifezeit ist eine sanfte Melancholie charakteristisch, die wohl die Tragödien im Familienverband spiegelt, die Antonín Dvořák in jener Zeit erleben mußte. Töchterchen Josefa starb im September 1875 kurz nach ihrer Geburt. Ihre 1876 geborene Schwester Ruzena war kaum ein Jahr alt, als sie einen Schluck aus einer Phosphorlösung zu sich nahm, die man damals im Haus hatte, um Streichhölzer herzustellen. Das Kind überlebte den Unfall nicht. Wenig später starb auch Dvořáks Sohn, Otakar, an den Pocken. Was Wunder, daß Dvořák damals die Arbeit an der Vertonung des Stabat mater wieder aufnahm, die er1876 skizziert, aber dann abgebrochen hatte.

Quartett in E-Dur op. 80

  • Allegro
  • Andante con moto
  • Allegro scherzando
  • Finale. Allegro con brio

Das E-Dur-Quartett ist in der chronologischen Reihung Antonín Dvořáks achtes Streichquartett. Seine Erstfassung vom Winter 1875/76 war bereits unter der Opuszahl 27 aufgeführt worden. Die Letztfassung erstellte Dvořák 1888 für die Erstaufführung durch das Kneisel-Quartett am 27. Februar 1889 in Boston.

Entsprechend den Lebensumständen, darf man das E-Dur-Quartett als Musik mit Trauerrand bezeichnen, melancholisch umflort bereits im Eingangs-Allegro, dessen Seitenthema (cis-Moll) trotz der folkloristisch anmutenden Begleitfiguren rettungslos melancholisch anmutet. Die Durchführung strebt in zwei Steigerungswellen heftig artikulierten Höhepunkten zu, wonach sich der Satz in visionär-traumverlorene Gefilde aufzulösen scheint.

Im Andante con moto, eine der vielen Anverwandlungen der Dumka in Dvořáks Instrumentalmusik, gehört der elegische Ton ohnehin zu den charakteristischen Mermalen des beliebten, aus dem ukrainischen Raum importierten Tanzes. Der bewegte Mittelteil ist von höchster Erregung gekennzeichnet. Selbst das Scherzo, wiewohl von den metrischen Verwirrspielen zwischen Zwei- und Dreizeitigkeit beherrscht, wie sie für den Furiant typisch sind, klingt in diesem Werk vergleichsweise verhalten, eine Valse triste, von einem düsteren cis-Moll-Trio unterbrochen.

Auch das Finale ist in diesem Fall kein fröhlich-unbeschwerter Kehraus, sondern enthält manch poetisch-verklärte, lyrisch-innehaltende Elemente.

Quartett in d-Moll op. 34

  • Allegro
  • Alla Polka. Allegretto scherzando
  • Adagio
  • Finale. Poco allegro

Das Quartett in d-Moll entstand in der zweiten Jahreshälfte 1877 als Hommage an den freundschaftlichen Kollegen und Förderer Johannes Brahms. 1879 revidiert, erklang es erstmals am 27. Februar 1882 in Prag. Die Anregung zur Komposition dürfte die Nachricht von der Zuerkennung des Wiener Staatsstipendiums geboten haben, die mit der Veröffentlichung der »Mährischen Duette« durch Simrock verbunden war. Diese wiederum war durch die Vermittlung von Brahms zustandegekommen.

Den Schmerz über den Tod seiner Tochter, der das E-Dur-Quartett überschattet hatte, hatte der Komponist trotz aller Erfolgsmeldungen noch nicht überwunden. Daraus erklärt sich wiederum der melancholische Grundton im Kopfsatz des Quartetts, der einen geradezu opernhaft gesteigerten Schluß mündet. Aufgeräumt klingt dagegen die folgende Polka, die die Stelle des Scherzos einnimmt. Wie schon in früheren Werken bemüht sich der Komponist, durch Übernahme thematischen Materials von Satz zu Satz, seinen mehsätzigen Werken größere Einheitlichkeit zu sichern. So schimmern thematische Gestalten aus dem ersten Satz im großen Adagio-Gesang des dritten Satzes durch. Das Finale gibt sich nicht als leichtergewichtiger Kahraus, sondern steht in Sonatenform und stellt mit seiner rhythmisch heftig akzentuierten und dramatisch durchgeführten Thematik die inhaltliche Balance mit dem Kopfsatz her.

Quartett in Es-Dur op. 51

  • Allegro ma non troppo
  • Dumka (Elegia): Andante con moto – Vivace
  • Romanze: Andante con moto  
  • Finale: Allegro assai

Das Quartett in Es-Dur ist das zehnte von Antonín Dvořáks 14 Streichquartetten, entstanden 1879 über Auftrag von Jan Becker: Der Primarius des Florentiner Streichquartetts orderte beim Komponisten ein Werk von deutlich »böhmischem« Zuschnitt. Das ließ sich Dvořák nicht zweimal sagen. Johannes Brahms zeigte sich vom Ergebnis der Arbeit ebenso beeindruckt wie der Wiener Geiger und Dirigent Josef Hellmesberger, der mit seinem Hellmesberger Quartett seit langem nach einem Werk von Dvořák verlangt hatte.

Es war die Zeit, in der Dvořák mit seinen »Slawischen Tänzen« weltweit Erfolge feierte, was dazu führte, daß der von Brahms vermittelte Verleger Simrock immer neue Komposition dieser Art verlangte.

Dem setzte Dvořák nun sein zwar durchaus »slawisch« getöntes, aber höchst ernsthaft gearbeitetes Quartett entgegen, das erstmals eine Balance findet zwischen den Ansprüchen der klassischen kammermusikalischen Form und Dvořáks romantischem Ausdrucksbedürfnis, das sich – schon das vom Cello angestimmte Hauptthema des in Sonatenform gehaltenen Kopfsatzes läßt keinen Zweifel daran – des beliebten böhmischen Idioms bedient, ohne ins Folkloristische abzugleiten.

Der zweite Satz ist eine typische Dumka, wie sie Dvořák in die Welt der Kunstmusik eingeführt hat, Musik von rasch wechselnden Stimmungen zwischen elegisch und tänzerisch-beschwingt. Da hier der effektvolle Furiant-Rhythmus dominiert, fungiert erst die folgende »Romanze« als langsamer Satz des Quartetts. Der zweite »slawische Tanz« des Es-Dur-Quartetts ist das Finale, eine Skocna, deren Melodien der Komponist auf raffinierte Weise kontrapunktisch behandelt – womit er zwischen dem nationalistisch-tänzerischen Ton der Musik und ihrer kunstvollen Faktur in der Tradition des klassischen Streichquartetts souverän vermittelt.

Quartett in C-Dur op.61

  • Allegro
  • Poco Adagio e molto cantabile
  • Scherzo. Allegro vivo
  • Finale. Vivace

Dvořák vollendete sein Quartett in C-Dur im November 1881. Das Werk war im Auftrag des Wiener Hellmesberger Quartetts enstanden, wobei vermutlich Johannes Brahms eine Vermittlerrolle gespielt haben könnte. Die Uraufführung fand jedoch im November 1882 nicht in Wien, sondern durch das Joachim Quartett in Berlin statt, weil der Spielbetrieb in Wien im Gefolge des katastrophalen Brands des Ringtheaters unterbrochen war.

Von den kammermusikalischen Werken der Reifezeit ist es jenes, in dem das böhmische Element am stärksten zurücktritt. Es meldet sich lediglich im Trio des dritten Satzes unverwechselbar zu Wort.

Hingegen zeigt sich der Experimentator Dvořák in vergleichsweise ungewöhnlichen harmonischen Kozepten; so vermeidet er ganz gegen die klassische Regel in der Reprise des Kopfsatzes lange die eindeutige Festlegung der Grundtonart. Die Faszination der Musik der sogenannten Neudeutschen Schule um Wagner und Liszt war für Dvořák offenkundig noch keineswegs gebrochen, auch wenn deren Gegner Brahms zu seinen entschiedenen Förderern gehörte.

Ungeheuer expressiv ist der langsame Satz, der ursprünglich Teil der Violinsonate in F-Dur war. Für die integrativen formalen Konzepte, die für Dvořák immer wichtiger wurden, spricht die thematische Verwandtschaft des Scherzo-Themas mit motivischem Material aus dem ersten Satz.

DAS BERÜHMTE »AMERIKANISCHE«

Quartett in F-Dur op. 96

  • Allegro ma non troppo
  • Lento
  • Molto vivace
  • Vivace ma non troppo

Es hat viel Überredungskraft gekostet, Antonín Dvořák nach Amerika zu locken. Wirklich glücklich war der Komponist dort vor allem in den Sommermonaten des Jahres 1893, nachdem er sich überreden ließ, seinen Urlaub in der tschechischen Kolonie Spillville zu verbringen. Hier fühlte er sich zu Hause und warf in kürzester Frist – von 8. bis 10. Juni – nach einer langen Pause wieder ein Streichquartett, das F-Dur-Quartett aufs Notenpapier. Das Werk sollte als sogenanntes »amerikanisches Quartett« ins Repertoire Einzug halten und zu Dvořáks meistgespieltem Kammermusik-Werk werden.

Dabei tönt es alles andere als »amerikanisch«, ist durch und durch erfüllt vom böhmischen Geist. Wie in der »Symphonie aus der Neuen Welt« aus der selben Phase sind die pentatonischen Themen, die so gern als »amerikanisch« apostrophiert werden, durchaus europäischer Provenienz und ebenso in Böhmen wie in den USA daheim. Angeblich hat das gezwitscher eines Vogels, den Dvořák in Spillville erstmals sah und hörte, die Hauptmelodie des Scherzo-Satzes inspiriert.

Auch eines der Couplets im schwungvollen Final-Rondo, soll unmittelbar der Erfahrung in Spillville zu verdanken sein: Eine Melodie, die Dvořák im Sonntagsgottesdienst der tschechischen Landsleute gehört haben soll.

Im Grunde aber ist das Quartett ein Musterbeispiel für Dvořáks souveränen Spätstil: Das gesamte motivische Material scheint – so unterschiedliche Ausprägungen es auch annehmen mag – aus einem ganz zu Beginn exponierten musikalischen Motiv herauszuwachsen. Ganz nach Franz Liszts Prinzip der fortwährenden Verwandlung arbeitet auch Dvořák in jener Phase konzentriert und ökonomisch – der Meister der späten symphonischen Dichtungen kündigt sich bereits an und entwickelt aus unscheinbaren Keimzellen die unterschiedlichsten Gestalten, deren Varianten oft überraschende Kontraste bilden und dramaturgischen Überraschungen heraufbeschwören.

Motivische Verwandtschaften 1. Satz, 2. Satz und Finale

DAS SUBJEKTIVISTISCHE SPÄTWERK

Quartett in G-Dur op. 106

  • Allegro moderato
  • Adagio ma non troppo –
  • Molto vivace
  • Finale. Andante sostenuto – Allegro con fuoco

Das G-Dur-Quartett ist das letzte Streichquartett, das Antonín Dvořák veröfentlicht hat. Er hat die Arbeit daran später begonnen als jene am Schwesterstück in As-Dur (op. 105) dessen erste Skizzierung noch vor der Heimreise aus den USA stattfand. Doch war die Komposition von op. 106 früher beendet. Die Reihenfolge, die von den Opuszahlen suggeriert wird, ist trügerisch.

Der erste Satz des G-Dur-Quartetts entstand in der ersten Novemberwoche 1895. In der Folge skizzierte Dvořák den zweiten Satz (20. November) und das Scherzo (25.). Während er diese beiden Sätze in Partitur setzte, entwarf er offenbar auch das Finale, hinter dessen Reinschrift er am 9. Dezember 1895 den Schlußstrich zog, ehe er am zuvor begonnenen As-Dur-Quartett weiterarbeitete.

Die beiden Werke gehören jedenfalls eng zusammen und ziehen die Summe der kammermusikalischen Beschäftigung des Komponisten, weit und symphonisch geatmet, dabei ungemein konzentriert in der motivisch-thematischen Arbeit. Formale Fragen stellen sich für Dvořák längst nicht mehr, vielmehr läßt er dem verspielten Klassizismus des »Amerikanischen Quartetts« (op. 96) nun zwei balladeske musikalische Erzählungen folgen, die klassische Formen nur noch als architektonische Raster nutzen. Der Meister der symphonischen Dichtung kündigt sich an. Die Tendenz war in der Neunten Symphonie (»Aus der Neuen Welt«) schon vorgegeben.

Schon der Kopfsatz des G-Dur-Quartetts verrät die mühelose Verschmelzung von Aussage und Formschema: Der fröhlichen ersten Themengruppe steht ein »Seitensatz« in B-Dur gegenüber, der bereits durchführungsartig Elemente der Begleitfiguren des Hauptthemas verarbeitet und fließend in die Durchführung überleitet, die den kontinuierlichen Verwandlungsprozeß in einem natürlichen musikalischen Fluß weiterführt.

Ganz unorthodox auch der Aufbau des langsamen Satzes. Dieses Adagio ma non troppo (Es-Dur) ist zwar ein Variationssatz, doch verschleiert Dvořák die formalen Nahtstellen auch hier. Für den Hörer finden hier zwei große emotionsgeladene Steigerungswellen statt, die harmonisch weit ausgreifen (Episoden in fis-Moll und C-Dur) und sich schließlich in einem »Grandioso«-Höhepunkt entladen. Diese beiden großen Bögen entwickeln sich eigenständig über die Grenzen der einzelnen Variationen hinweg. Wobei sich wiederum Elemente wie die Begleitformel des Cellos aus Variation I im weiteren Verlauf selbständig machen und zu besimmenden thematischen Elementen werden. Wiederum dient – wie im ersten Satz die »Sonatenform« – das Formmodell Variation nur als grundlegender Raster, über dem sich frei die inhatliche Aussage der Musik entfaltet.

Nur scheinbar simpel nachzuvollziehen ist der Aufbau des Scherzos (h-Moll) mit seinem schwingenden As-Dur-Mitteltel im Scherzo-Teil, der den Charakter eines Seitenthemas in einem Sonatenschema annimmt. Ähnlich hat Dvořák etwa auch den dritte Satz seiner Neunten Symphonie aufgebaut. Auch rhythmisch gewinnt der Satz immer wieder verwirrende Vielfalt, verwandt dem von Dvořák so häufig verwendeten Furiant mit dessen charakteristischen Wechselrhythmen (zweizeitiger 6/8 gegen dreizeitigem 3/4-Takt). Beruhigt-beruhigend der wie von Dudelsack-Bässen begleitete Trio-Abschnitt, der sich gegen Ende zu aber auch auflöst und eloquent zur Scherzo-Reprise führt.

Das Finale ist ein Rondo, in dessen »Couplets« das Seitenthema des Kopfsatzes noch einmal variiert anklingt und in Konfrontation mit dem neuen Material des Finalsatzes gerät. Dadurch spitzt sich das Geschehen dramatisch zu. Das ist Dvořáks Kunstfertigkeit: Die Wiederaufnahme von Elementen des Kopfsatzes schafft thematische Einheit und spant einen formalen Bogen zum Beginn des Quartetts, sorgt aber andererseits für inhaltliche Konflikte und emotionale Aufwallungen, denen erst das entschiedene – und entscheidende – Wieder-Auftreten des Rondothemas ein Ende setzt. Das Werk klingt so fröhlich und scheinbar unbeschwert aus, wie es begonnen hat.

Anläßlich der Wiener Erstaufführung durch das Böhmische Streichquartett im Dezember 1896 befand der strenge Rezensent der Neuen Freien Presse, Eduard Hanslick:

Mir will das As-Dur-Quartett noch einheitlicher, noch frischer und origineller erscheinen; Andere ziehen das in G-Dur vor. An beiden besitzen wir Perlen der neueren Kammermusik.

Quartett in As-Dur op. 105

  • Adagio ma non troppo – Allegro appassionato
  • Molto vivace
  • Lento e molto cantabile
  • Allegro non tanto

Das Streichquartett in As-Dur entstand nahezu gleichzeitig mit dem G-Dr-Quartett (op. 106) nach der Rückkehr des Komponisten aus Amerika im Jahr 1895. Simrock veröffentlichte beide Werke schon wenige Monate später, 1896.

Das As-Dur-Werk basiert noch auf Entwürfen, die Dvořáks noch in den USA zu Papier gebracht hatte. Den Schlußstrich hinter die Partitur zog er am 30. Dezember 1895, nach Vollendung des später begonnenen G-Dur-Quartetts.

In diesen beiden Werken gebietet der Komponist mühelos über die viersätzige klassische Form und paßt sie auf jeweils originelle Art seinem Ausdrucksbedürfnis an. Der zweite Satz ist wiederum ein tschechischer Furiant, dessen Trio ganz offenkundig motivisch mit der Einleitung zum ersten Satz verwandt ist. Der langsame Satz gehört zu den großen, ausdrucksvollen Instrumentalgesängen in Dvořáks Spätwerk und ist harmonisch von höchster Innenspannung. Originell und ungewöhnlich auch das Finale, in dem Dvořák ein unewartet auftretendes Thema in Ges-Dur einführt, das im weiteren nie mehr wiederkehrt – ein formaler Coup, der sich ähnlich auch im ersten Satz des berühmten Cellokonzerts findet. Im Tonfall ist die Musik durchwegs den Klängen von Dvořáks böhmischer Heimat verpflichtet, in die er trotz seinen amerikanischen Erfolgen dankbar zurückgekehrt war. Er stand am Beginn einer musikalischen Phase, die ihn noch zu erstaunlichen kompositorischen Abenteuern führen sollte, in denen er alle klassischen Form-Bemühungen hinter sich ließ. Nach Symphonien und Streichquartetten schrieb er fürderhin programmatische Tondichtungen und wandte sich schließlich ganz dem Musiktheater zu.

Das As-Dur-Quartett erlebte seine Uraufführung durch das Rosé-Quartett in Wien am 10. November 1896. Es erklang kurz danach auch in den Konzerten des Hellmesberger-Quartetts. Das Rosé-Quartett stellte in jenen Tagen auch das G-Dur-Quartett (op. 106) erstmals in Wien vor, und zwar nur zwei Tage, nachdem die Philharmoniker in ihren Abonnementkonzerten unter Hans Richter erstmals Dvořáks Tondichtung »Der Wassermann« präsentiert hatten.

Das As-Dur-Quartett fand bei seiner Uraufführung freundliche Aufnahme, aber nicht durchwegs begeisterte Aufnahme. Richard Kralik befand, das sei

Musik von halber Energie und daher nur von halber Wirkung.

Sie stieß bei den deutschnationalen Teilen der Presse vor allem wegen es unverkennbar böhmischen Tonfalls auf Kritik, eines Tonfalls, der sich, so einer der Rezensenten

sorglos dem nationalen Fahrwassser überläßt, das sehr klar, aber auch sehr seicht ist.

Kritiker-Papst Eduard Hanslick hingegen befand in der Neuen Freien Presse Genugtuung darüber, daß der Komponist sich in der alten Heimat nach seinem Ausflug in die Neue Welt wieder eingefunden hatte und nun seiner Fantasie offenbar freien Lauf ließ. Auch, so befand der Kritiker,

von den czechischen Motiven scheint sich der Komponist emanzipiert zu haben.

Das Quartett hätte, so Hanslick

ungemein gefallen und wird es noch mehr, wenn einmal Spieler und Hörer sich darin vollkommen heimisch fühlen.

Brahms: Die Kammermusik

Die Streichsextette

Die Streichquintette

Die Streichquartette

Die Klaviertrios

Die Violinsonaten

Die Cellosonaten

Werke mit Klarinette

Das Wiener Publikum lernte die Musik des Hamburger Zuwanderers Johannes Brahms vor allem einmal in kleineren Formen kennen und schätzen: Kammermusik wurde auch im Umfeld der Erstaufführung der Ersten Symphonie im Jahr 1876 gegeben: Der philharmonische Konzertmeister Hellmesberger, einer der Brahms-Pioniere in Wien startete zu jener Zeit geradezu eine Brahms-offensive und präsentierte innerhalb kurzer Frist das (für Wien neue) H-Dur-Trio, die Erstaufführung des B-Dur-Sreichquartetts und das längst beliebte Klavierquartett in g-Moll.

Die Streichquartette

Frucht der ersten Wiener Jahre sind die ersten beiden der drei Streichquartette aus Brahms‘ Feder.
Diesen Quartett-Zwillingen gesellt Brahms 1875 noch ein B-Dur-Streichquartett hinzu, das er auf der Sommerfrische in der Nähe von Heidelberg entwirft und im Herbst in Wien vollendet. Damit war sein Quartett-Schaffen abgeschlossen.

mehr über die Streichquartette




Klavierquartett op. 25 – orchestriert von A. Schönberg

Schumanns Klavierwerk

Robert Schumanns Musik für Klavier solo

Ein Überblick über Schumanns Schaffen für »sein« Instrument als Pandämonium der musikalischen Romantik – und der verschiedenen pianistischen Stil-Welten zwischen Paris, Wien, Rom, Leipzig und St. Petersburg.

op. 1     Abegg-Variationen F-Dur

op. 2    Papillons

op. 3    Studien nach Capricen von Paganini

op. 4    Intermezzi für Klavier

op. 5     Impromptus über ein Thema von Clara Wieck (1. Fassung 1833) (2. Fassung 1850)

op. 6     Davidsbündlertänze

op. 7     Toccata C-dur

op. 8     Allegro h-moll

op. 9     Carnaval – Scènes mignonnes sur quatre notes

op. 10     Sechs Konzert-Etüden nach Capricen von Paganini

op. 11     Klaviersonate Nr. 1 fis-moll

op. 12     Fantasiestücke für Klavier

op. 13     Symphonische Etüden cis-moll

op. 14     Klaviersonate Nr. 3 f-moll

op. 15     Kinderszenen

op. 16     Kreisleriana

op. 17     Fantasie C-dur

op. 18     Arabeske C-dur

op. 19     Blumenstück Des-dur

op. 20     Humoreske B-dur

op. 21     Novelletten

op. 22     Klaviersonate Nr. 2 g-moll

op. 23     Nachtstücke

op. 26     Faschingsschwank aus Wien

op. 28     Drei Romanzen

op. 32     Scherzo, Gigue, Romanze, Fughetta

op. 56     Studien für Pedal-Flügel

op. 58     Vier Skizzen für Pedal-Flügel

op. 68     Klavieralbum für die Jugend

op. 72     Vier Fugen

op. 76     Vier Märsche

op. 82     Waldszenen

op. 99     Bunte Blätter

op. 111     Drei Phantasiestücke

op. 118     Drei Klaviersonaten für die Jugend

op. 124     Albumblätter

op. 126     Sieben Klavierstücke in Fughettenform

op. 133     Gesänge in der Frühe

Streichquartette

Felix Mendelssohn-Bartholdy

Felix Mendelssohn Bartholdys Streichquartette umspannen beinah sein gesamtes Schaffen.

Streichquartett Es-Dur (op. 12)

  • Adagio non troppo – Allegro non tardante
  • Canzonetta. Allegretto – Più mosso
  • Andante espressivo
  • Molto allegro e vivace

Das Es-Dur-Quartett wurde zwar als Opus 12 publiziert entstand aber nach dem in der Zählungen folgenden a-Moll-Quartett. Wie dieses Schwesterwerk spiegelt es Mendelssohns intensive Beschäftigung mit den damals (wie in Wahrheit auch heute noch) als avantgardistisch und unverständlich geltenden späten Streichquartetten Ludwig van Beethovens, die ja zur Entstehungszeit der ersten beiden Mendelssohn-Quartette erst wenige Jahre alt waren.

Mendelssohn hat wiederholt darauf hingewiesen, daß er sich bewußt auf Elemente in Werken wie Op. 130 oder Op. 132 bezogen hätte. Wobei sich das Es-Dur-Quartett eher an den lyrischen Momenten in Beethovens Spätwerk orientiert, während das a-Moll-Stück leidenschaftlich und expressiv geriet.

Wobei die Mittelsätze beider Quartette viel mit den Liedern ohne Worte des Klavierkomponisten Mendelssohn zu tun haben und einem dann von Robert Schumann weiter verfolgten Stil den Boden aufbereiten, der die Ästhetik der Charakterstücke in die große Kammermusik und die Symphonik herüberholt.

Freilich gibt es mit Sätzen wie der Danza tedesca oder sogar der Cavatina aus Op. 130 auch für diese Tendenz bei Beethoven Vorbilder. Die Ungleichheit der Längen der Sätze gehört dazu: Das Andante des Es-Dur-Quartetts ist ein veritables Lied ohne Worte von nur 65 Takten – so sind die beiden Ecksätze jeweils doppelt so lang wie die Mittelsätze zusammengenommen.

Streichquartett a-Moll (op. 13)

  • Adagio – Allegro vivace
  • Adagio non lento
  • Intermezzo. Allegretto con moto – Allegro di molto
  • Finale. Presto – Adagio non lento

Das a-Moll-Quartett ist so etwas wie Mendelssohns Hommage an Beethoven. Es entstand in Beethovens Todesjahr 1827 und stellt die Verbindung zum großen Vorbild mittels einiger Zitate und zitathafter Passagen her. Die Beschäftigung mit Beethoven war für den 18-jährigen Komponisten auch eine Art Protest gegen die im Hause Mendelssohn herrschenden ästhetischen Doktrinen. Ein paar Jahre später erinnert sich der Komponist, wie

meine musikalische Thätigkeit auf meinem eigenen Wege anfing, und als Vater fortwährend in der übelsten Laune war, auf Beethoven und alle Phantasten schalt und mich darum oft betrübte.

Vor der Uraufführung in Paris schon stellte Mendelssohn den Bezug zum Wiener Klassiker her, indem er schrieb:

Morgen wir mein A-Moll-Quartett öffentlich gespielt. Cherubini sagt von Beethoven’s neuer Musik: Ca me fait éternuer, und so glaube ich, das ganze Publikum wird morgen niesen.

Tatsächlich kam es, wenn man dem Bericht des Komponisten glauben schenkt, anläßlich der ersten Aufführung tatsächlich zu Verwechslungen: Ein Mann im Publikum soll Mendelssohns Stück für ein Werk Beethovens gehalten haben.

Hellhörige Musikfreunde verstehen die Zusammenhänge auch ohne Mendelssohns einschlägige analytische Hinweise in einem Brief an den Komponisten-Freund Adolf Lindblad: Die langsame Einleitung des Quartetts klingt wie ein Nachahll der Les Adieux-Sonate, das chromatisierte Fugenthema, das im Adagio des Quartetts auftaucht und – wie die Introduktion – im Finale noch einmal zitiert wird, erinnert tatsächlich frappant an eine Passage aus Beethovens Siebenter Symphonie. Formal diente dem a-Moll-Quartett wohl Beethovens op. 132 in derselben Tonart als Muster: Vom heftig bewegten Übergang von der Einleitung ins Eingangs-Allegro bis hin zum Rezitativ, das dem Finale wie in einer Opernszene vorangeht.

Rezitativisch-beredt ist nicht nur diese Passage in Mendelssohns Werk. Schon die Introduktion zum stürmisch bewegten ersten Satz zitiert Mendelssohns eigenes Lied Frage und kehrt im Finale beziehungsvoll wieder. Im Mittelteil des Adagios setzt ein Rezitativ der heftigen Steigerung der Fuge, die erregt ganz aus den Fugen zu geraten droht, ein jähes Ende und führt zu einer Wiederkehr des sanften Liedes ohne Worte mit dem der Satz begonnen hatte – es erklingt nun kunstvoll verwoben mit den »gezähmten« Elementen des chromatischen Fugenthemas.

Wie ein Satyrspiel auf dieses Adagio nimmt sich das folgende Intermezzo aus: liedhaft über gezupfter Begleitung in den Außenteilen, wiederum fugiert im »Trio«.

Zerklüftet und hochexpressiv gibt sich das Finale, in dem die Gegensätze schroff gegeneinander ausgespielt werden. Selbst das vorwärtstreibende Marschthema, das den energischen Presto-Beginn ablöst, wird immer wieder durch kommentierende rhetorische Einschübe gehemmt. Das Wiederauftreten des Fugenthemas aus dem Adagio bringt das formale Gerüst vollkommen aus dem Gleichgewicht. Quasi una fantasia läuft die Bewegung in einem Violinsolo aus, dem wie ein andächtiger Schlußchor die Erinnerung an den Beginn des Werks folgt. Das Ende formuliert eher noch einmal die eingangs gestellte Frage als daß es eine Antwort geben könnte…

Hier diente wohl ebenfalls Beethoven mit seinem »Muß es sein«, das dem letzten seiner Streichquartette (op. 135) vorangestellt ist, als Vorbild – doch anders als dieses Vorbild, scheint Mendelssohn die Antwort letztendlich zu verweigern. Ein Beethoven’sches, affirmatives »Es muß sein!« bleibt er seinen Hörern schuldig.

Streichquartett D-Dur (op. 44/1)

  • Molto allegro vivace
  • Menuetto. Un poco allegretto
  • Andante espressivo ma con moto
  • Finale. Presto con brio

Wie bei den ersten beiden Quartetten täuscht auch im Falle der Dreierserie Opus 44 aus den jahren 1837/38 die gedruckte Reihenfolge über die Entstehung der Werke: Das D-Dur-Quartett war das letzte der drei Stücke. Es zieht quasi Bilanz und gehört zu den brillanteste, geschliffensten romantischen Versuchen im heiklen Genre – mit den virtuosen Passagen für den Primgeiger knüpft es an manche Haydn’sche »Geigenquartette« an, die man – wie dieses Mendelssohn-Werk als verkappte Violinkonzerte bezeichnet hat. Es wurde am 16. Februar 1839 in Leipzig uraufgeführt. Gewandhauskonzertmeister Ferdinand David musizierte mit drei Orchesterkollegen. Auf den »Konzertsatz« für Freund David läßt Mendelssohn ein gravitätisch-altmodisches Menuett folgen, das er wohl im Kopf hatte, wenn er diesem Werk ausdrücklich „Rococogeschmack“ zuschrieb. Das Andante, ist ein unverwechselbar mendelssohnisches Lied ohne Worte, dessen Melodie wieder ganz auf die Solovioline zugeschnitten ist, bei der Reprise aber in die Unterstimmen wandelt, um von tönenden Girlanden verbrämt zu werden. Damit stehen wie schon in den Quartetten op. 12 und op. 13 zwei Charakterstücke inmitten gewichtiger Ecksätze, wobei das Finale des D-Dur-Quartetts den »konzertant-virtuosen« Zug des ersten Satzes noch weiter zuspitzt zu einem veritablen akustischen Hochseilakt.

Streichquartett e-Moll (op. 44/2)

  • Allegro assai appassionato
  • Scherzo. Allegro di molto
  • Andante
  • Finale. Presto agitato

Gestern Abend wurde mein E-Moll-Quartett von David öffentlich gespielt, und machte großes Glück. Das Scherzo mußten sie da capo spielen, und das Adagio gefiel den Leuten am besten. Dies setzte mich in langes Erstaunen. In den nächsten Tagen will ich ein neues Quartett anfangen, das mir besser gefällt.

Selten war sich Felix Mendelssohn-Bartholdy über die Qualität eines Werks so im unklaren wie im Falle dieses chronologisch ersten, 1837 komponierten seiner »mittleren« Streichquartette. Die Tonart – und der Charakter des Hauptthemas des Kopfsatzes – nehmen zwar schon den großen Wurf des im Jahr darauf komponierten Violinkonzerts vorweg, doch die Struktur der Ecksätze des Quartett verrät doch den Kampf des Komponisten mit einer adäquaten Anverwandlung der klassischen Sonatenform, wobei die pulsierende Sechzehntelbewegung im Kopfsatz für mehr und mehr dramatische Energie sorgt und in keinem Moment den Eindruck von »Klassizismus« aufkommen läßt.

Publikum und Fachkritik waren sich im übrigen von der Uraufführung an einig: Die Sympathie gehört in diesem Fall uneingeschränkt den beiden Mittelsätzen, die – wie schon zuvor in den ersten beiden Streichquartetten Mendelssohns – zum Genre der romantischen Charakterstücke zu zählen sind.

Dem Scherzo in E-Dur, das für die Interpreten mit seinen Tremoli und brisanten Vorschlägen zu den heikelsten spieltechnischen Herausforderungen der romantischen Kammermusik gehört, folgt wieder ein typisches »Lied ohne Worte« mit einem von Arpeggien umflorten Gesangsthema.

Dieses Stück darf durchaus nicht schleppend gespielt werden

schreibt Mendelssohn als Vortragsanweisung in die Partitur: Der ununterbrochene Fluß der Melodie, erst spät von punktierten Rhythmen unterbrochen, verleitet zum Verweilen.

Am Finale fesseln vor allem die rhythmischen Verwirrspiele, die Mendelssohn im sonst geradezu volkstümlichen Ambiente treibt.

Streichquartett Es-Dur (op. 44/3)

  • Introduzione. Andante con moto – Allegro vivace
  • Andante con moto quasi Allegretto
  • Menuetto. Grazioso – Trio
  • Allegro molto

In diesem – auch in scheinbar unbeschwerten Momenten durchwegs melancholisch umflorten Werk, das Mendelssohn für das beste seiner mittleren Quartette hielt, das aber am seltensten in den Konzertsälen erklingt, verbeugt sich der Komponist vor zwei seiner großen Vorbilder: Der langsame Satz, seltsam unentschlossen, tastend wirkend, beginnt mit einem Mozart-Zitat und endet mit einer Hommage an Franz Schuberts B-Dur-Klaviertrio

Nicht einmal das Scherzo hat hier unbeschwerten Charakter, sondern trägt geisterhafte Züge. Die Ecksätze hingegen sind ungeheuer energetisch – wobei das Eingangs-Allegro von der einleitenden Sechzehntelbewegung regelrecht beherrscht wird: einmal vorantreibende Begleitfigur, dann wieder melodisches Element, und in der Durchführung insistierende Kraftquelle einer seltsam sinistren Reise über unsicherem Grund.

Streichquartett f-Moll (op. 80)

  • Allegro vivace assai – Presto
  • Allegro assai
  • Adagio
  • Finale. Allegro molto

Dies ist ein Bekenntniswerk, eines der persönlichsten, subjektivsten Dokumente, die je komponiert worden sind. Mendelssohn reagiert mit seinem letzten großen Werk auf den unerwarteten Tod seiner Schwester Fanny Hensel im Mai 1847. Fanny, hochbegabt wie ihr berühmter Bruder, starb unter tragischen Umständen mit 41 Jahren während sie eine Probe zu einer Aufführung der Ersten Walpurgisnacht ihres Bruders leitete. Jäh traf sie ein Schlaganfall, dem sie kurz daraf erlag. Felix Mendelssohn-Bartholdy hat diesen Verlust nie überwunden. Am 4. November desselben Jahres folgte er seiner Schwester ins Grab. Als Epitaph für seine Schwester komponierte er sein f-Moll-Streichquartett, Protokoll seines zerrütteten Seelenzustands.

Befreiung suchte Felix Mendelssohn bei einem Urlaub in den Schweizer Bergen.

Bis jetzt kann ich an Arbeit, ja an Musik überhaupt nicht denken, ohne die größte Leere und Wüste im Kopf und im Herzen zu fühlen.

Er malte zauberisch-schöne Idyllen und komponierte gleichzeitig ein fahles, hochdramatisch-aufwühlendes Streichquartett in f-Moll, das in verzweifelter Aufwallung alle klassischen Formmodelle über Bord zu werfen scheint: Wilde Tremoli und jagende Rhythmen beherrschen den Kopfsatz, ein böser Spuk lastet über dem Scherzo, das statt notorisch schwirrender Mendelssohn’scher Elfenklänge eher eine schwarze Messse zu beschreiben scheint: Eine inmitten kurz aufblitzende Walzerepisode droht in den Wellen negativer Energie zu ertrinken. Das Adagio singt zunächst in versöhnlich weichem As-Dur, schließt aber einen edlen Trauergesang ein. Konkreter hat Mendelssohn, der angebliche »Klassizist« nie auf persönliche Befindlichkeiten musikalisch reagiert. Auch das Finale findet keine Ruhe – der Meister der Stimmungs-Miniatur läßt die tänzerische Bewegung mehr und mehr von den wilden, zerfahrenen Ausdrucksgesten des ersten Satzes einholen und dehnt damit sein erschütterndes Psychogramm auf alle vier Sätze der klassischen Quartett-Form aus. Der radikale Gegenentwurf zur Tradition blieb in der Musikgeschichte folgenlos bis zur Heraufkunft der Moderne.

Mendelssohn starb nur wenige Wochen nach Vollendung dieses Werks nach mehreren Schlaganfällen.

Aufnahmen

Das Es-Dur-Quartett fand mit dem Wiener Originalklang-Ensemble Quatuor Mosaïques einen ideale Anwalt. Gespielt wird mit der nötigen Leichtigkeit, doch niemals »leichtgewichtig«, vor allem mit einem untrüglichen Sinn für beredte, differenzierte Phrasierung. (Naïve/Auvidis, 1998)

Das a-Moll-Quartett spielt das Artemis Quartett mit dem nötigen dramatischen Atem und kostet alle Kontrastwirkungen effektvoll aus – schon der leidenschaftliche Kopfsatz beginnt geradezu explosionsartig nach der schwebend-unwirklichen Atmosphäre der dynamisch feinst schattierten Introduktion. (Erato, 2014)