Die Symphonie entstand zwischen 1892 und 1896 und wurde zu Mahlers längstem Werk, obwohl von der ursprünglich siebensätzigen Disposition »nur« sechs Sätze übrigblieben. An siebenter Stelle sollte zunächst das Wunderhorn-Lied Vom himmlichen Leben stehen, das zur Keimzelle der Vierten Symphonie wurde und diese nun als vierter Satz beschließt.
Sie war eine Freundin von Virginia Woolfe, pflegte lesbische Affairen – darunter mit der berüchtigten Suffragette Emmeline Pankhurst – ebenso aber auch Beziehungen zu verheirateten Männern; sie galt überdies als eine der effektivsten Aktivistinnen für die frühe Frauenbewegung – und landete schon auch einmal wegen Aufmüpfigkeit für kurze Zeit im Gefängnis: Ethel Smyth ist von den weiblichen Komponisten der Musikgeschichte gewiß die »auffälligste«.
Im Wien der Ringstraßen-Ära galten Hugo Wolf und Gustav Mahler, die Gleichaltrigen aus der Provinz (der eine aus der Gegend von Iglau, der andere aus Windischgraz zugereist) mit dem zwei Jahre älteren Hans Rott als die mit Abstand Begabtesten unter den jungen Musikern.
Rott – aus dem gleichen Grund wie Wolf früh aus dem Leben gerissen – wird mit seiner Symphonie in E-Dur, zum Ideengeber: Manche Passage aus den ersten Mahler-Symphonien tönen verdächtig nach Rott, dessen Partitur nach seinem Tod im Besitz des jüngeren Kollegen war.
Der Anspruch, die symphonische Form noch über Brahms – ja, was die Dimensionen betrifft, sogar über Bruckner hinaus zu entwickeln, ist bei Rott grundgelegt.
Der Lehrkörper des Wiener Konservatoriums wollte die Bedeutung dieses Werks freilich nicht erkennen. Als einziger ging Rott bei der Schlußprüfung seines Jahrgangs ohne Auszeichnung ab. Angeblich sollen einige Mitglieder der Kommission laut gelacht haben, als der erste Satz von Rotts Symphonie gespielt wurde.
Bruckners Fürsprache
Nur Anton Bruckner soll daraufhin den Saal unter Protest verlassen haben – mit den Worten
Lachen Sie nicht, meine Herren, von diesem Mann werden Sie noch Großes hören.
Die Prophezeiung ist eingetreten, allerdings bedeutend später als selbst Bruckner damals denken hätte können.
Der »Mörder Brahms«
Ohne Anerkennung – wenn auch mit einem guten Zeugnis in Komposition – verließ Rott das Konservatorium. Johannes Brahms sprach sich gegen eine Aufführung der 1880 vollendeten Symphonie in E-Dur aus. Der Dirigent Hans Richter, immerhin interessiert an der Partitur, stellte eine philharmonische Premiere aus Zeitgründen zurück.
Inzwischen mußte sich Rott als Organist bei den Wiener Piaristen sein Brot verdienen und bewarb sich um Kapellmeisterstellen. Ein staatliches Stipendium wurde ihm – wiederum auf Grund er Weigerung von Brahms – nicht gewährt. Als endlich eine Möglichkeit bestand, in Mühlhausen Chorleiter zu werden, zeigten sich auf der Reise die ersten ernsten gesundheitlichen Störungen aufgrund der venerischen Erkrankung. Rott bedrohte einen Mitreisenden im Zug, als der versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden: Brahms habe den Waggon mit Dynamit füllen lassen, um ihn in die Luft zu sprengen . . .
Hans Rott verbrachte den Rest seines kurzen Lebens in der Irrenanstalt, wo er 1884 an Tuberkulose starb. Freunde wie Hugo Wolf bezeichneten Brahms als »Rotts Mörder«.
Posthume Uraufführung
Die Uraufführung der E-Dur-Symphonie, deren Manuskript aus dem Besitz Gustav Mahlers in die Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek wanderte, fand erst 1989 in den USA statt. Seither ist das Werk mit seinen verblüffenden »Vorwegnahmen« von Passagen aus heute viel gespielten Symphonien des Kommilitonen Gustav Mahler mehr als ein Dutzend Male auf CD eingespielt und gilt als – wenn auch in manchen Zügen unausgereiften – Modell für die moderne symphonische Form.
Die Mahler-Forschung vermeidet peinlich die von unbefangenen Hörern ganz unumwunden geäußerte Feststellung, Mahler habe Ideen seines älteren Kollegen übernommen.
Die Anklänge sind jedenfalls erstaunlich:
Das Scherzo-Thema Hans Rotts
Das Scherzo-Thema in Mahlers Erster.
Mahler Erste ist Jahre nach Rotts Werk entstanden. Anklängen an die E-Dur-Symphonie finden sich auch noch in Mahlers Zweiter Symphonie, ohne daß Mahler als Dirigent etwas für die Verbreitung des Werks seines Studienkollegen getan hätte.
Die tragische Geschichte hat → Ingvar Hellsing Lundqvist in einen Roman verarbeitet, der viele Tatsachen aus Rotts Biographie lebendig werden läßt. (Picus)
Von den Aufnahmen der Symphonie Hans Rotts ist jene unter Leif Segerstam besonders empfehlenswert (BIS). Das Norrköpping Symphony Orchestra musiziert hier leuchtkräftig und versucht nicht, das Pathos und die oft an der Grenze zur Banalität balancierende Stilistik zu kaschieren, sondern nimmt sie an und spielt sie ungeniert aus. Breite Tempi demonstrieren auch Rotts formsprengende »Raumforderung«.
Eine exzellente, sehr klangschöne Wiedergabe der Symphonie erschien 2022 bei Deutsche Grammophon. Jakob Hrusa erarbeitete die Wiedergabe mit seinen Bamberger Symphonikern und spielte für die CD auch sinnvoll noch den vom Komponisten selbst eliminierten Blumine-Satz aus der Ersten Symphonie Gustav Mahlers ein.
Daß Mahler an den mächtig anschwellenden Kadenzwirkungen im Finalsatz für die entsprechenden Passagen etwa noch in seiner Fünften Maß genommen hat, ist zumindest wahrscheinlich; auch daß die gewaltige Schlußsteigerung seiner Vertonung des Rückert-Lieds Um Mitternacht in Rotts Symphonie-Schluß bereits anklingt, ist für Kenner kaum zu überhören.
Robert Fuchs war in Wien als „Serenaden-Fuchs“ bekannt. Sein wohl beliebtestes Werk ist die Fünfte seiner Orchester-Serenaden, die einst als eine Art Salonmusik für den bürgerlichen Konzertbetrieb galten: leichtgewichtige, deshalb aber keinesfalls künstlerisch minderbemittelte Gegenstücke zu den Symphonien von Brahms und Bruckner.
Antonín Dvořáks letzte Symphonie verdankt ihren – übrigens vom Komponisten selbst verliehenen – Untertitel »Aus der Neuen Welt« dem Umstand, daß sie das erste Werk ist, das Dvořák während seines Amerika-Aufenthaltes komponiert hat. Die Symphonie entstand in der Zeit zwischen September 1892 und April 1893. Der Komponist war damals als Direktor des des National Conservatory of Music in New York tätig und leitete dort selbst eine Kompositionsklasse.
Der Name Wieniawski hat in Geiger-Kreisen einen guten Klang. Tatsächlich gab es zwei polnische Meister dieses Namens, den Pianisten Jozef und den Violinvirtuosen Henryk Wieniawski. Die beiden waren zu Lebzeiten hoch angesehen.
Das Streichquintett ist der einzige Beitrag des reifen Anton Bruckner zum Kapitel Kammermusik. Oft ist auch behauptet worden, das Werk sei in Wahrheit eine verkappte Symphonie – und doch: Nur weil der Komponist seine unverwechselbaren stilistischen Eigenheiten auch bei diesem Werk für fünf Streicher hören läßt, bedeutet das nicht, daß er eine Art Reduktions-Fassung eines klanglich größer angelegten Werks vorgelegt hätte. Die Komposition ist durchaus kammermusikalisch angelegt. Bruckner betrachtete sie vielleicht nach den immensen Anstrengungen, die ihn die Komposition seiner ersten fünf numerierten Symphonien gekostet hatte – die ja in einem großen Zug bis 1878 entstanden waren, als eine Art künstlerisches Intermezzo.
Herbert von Karajan – Leontyne Price, Ettore Bastianini, Franco Corelli, Giulietta Simionato (Salzburger Festspiele 1962 DG)
Il trovatoreSalzburg 1962 Leontyne Price Franco Corelli Ettore Bastianini
Giulietta Simionato
Leontyne Price Ettore Bastianini Franco Corelli
Giu8lietta Simionato Ettore
Bastianini Franco Corelli Leontyne Price
Leontyne Price Franco Corelli
Wr. Philharmoniker - Herbert von Karajan
Troubadour und Wien – heikle Beziehung
Verdis Troubadour, das war im 19. Jahrhundert der Inbegriff der italienischen Oper, viel gespielt und an Popularität nur für einige Zeit von Gounods Faust übertroffen. Heute ist das Werk einer der „Angstgegner“ von Intendanten, weil es schwierig geworden ist, Sänger zu finden, die der heiklen Mixtur aus höchster Expressivität und artifizieller Stimmbeherrschung fähig sind. Spannend zu verfolgen, wie dieses Werk, allen Vorwürfen einer unverständlichen Handlung zum Trotz, dank seiner musikalischen Aussagekraft auch in Wien sogleich zum Publikumsfavoriten wurde – und lange Zeit den Spielplan beherrschte. Dagegen konnte auch ein mächtiger Kritiker wie Eduard Hanslick nichts ausrichten, dessen ästhetische Vorbehalte ja nicht nur, wie die Fama will, Richard Wagners Werke trafen, sondern auch Verdi. Nach der Erstaufführung des Troubadour konstatierte der Kritiker der Neuen Freien Presse zwar das „intensive Talent“ des italienischen Meisters, hielt ihm aber „künstlerische Roheit“ vor. An „dramatischer Energie“ übertreffe Verdi zwar seine Vorgänger Bellini, Donizetti und Rossini, doch sei er ihnen „als Musiker“ unterlegen und neige vor allem dazu, „gute Anfänge“ stets mit „einem trivialen Satz“ abzuschließen. Solche Vorbehalte hatte das Publikum offenbar nie. Jedenfalls stand das Werk bereits kurz nach der Eröffnung des neuen Hauses am Ring auf dem Hofopern-Spielplan und hielt sich dort so gut wie ohne Pause – in deutscher Sprache.
Die Ära Karajan
Im Zuge der Neubewertung der Italianità in der Oper nach der Landnahme Herbert von Karajans änderte sich auch die Sicht auf den Troubadour. Alles begann mit dem Gastspiel einer Tourneeproduktion, die Karajan mit Maria Callas und Giuseppe di Stefano von Mailand aus unternahm. Donizettis Lucia di Lammermoor stand auf dem Programm – und der Triumph dieser legendären Aufführungsserie sicherte dem Dirigenten die endgültige bedingungslose Hingabe des Wiener Publikums; und den Posten des Staatsoperndirektors, nachdem Karl Böhm von Angriffen gegen seine Person entnervt das Handtuch warf.
In der Folge nutzte Karajan seine Doppelposition – er war auch einer der führenden Köpfe an der Mailänder Scala –, um die Aufführungen italienischer Opern in Wien zu revolutionieren. Ab sofort wurde in Originalsprache gesungen, und die Sänger waren mehrheitlich nicht mehr die Spitzen des eigenen Ensembles, sondern illustre Gäste. Überdies arbeitete man mit den Salzburger Festspielen zusammen, bei denen Karajan einen weiteren Tabubruch beging. Er nahm den Troubadour ins Programm. Das kam einem Sakrileg gleich. Salzburg war die Hochburg Mozarts und von Richard Strauss. Man hatte Verdi zwar für Choryphäen wie Arturo Toscanini oder Wilhelm Furtwängler angesetzt, doch stets waren es Werke, die immerhin auf Stücken Shakespeares oder Schillers basierten. Karajan hatte sich mit dem Don Carlos in diese Reihe gestellt.
Nun aber folgte der ganz und gar nicht „literarische“ Troubadour, dessen Libretto seit jeher Anlass zu Kritik gab. Puristen waren empört, doch Karajan lobte die theatralische Schlagkraft des Stoffs und die Unmittelbarkeit, mit der Verdi als Klangpsychologe die Tiefe von Uremotionen lotet. Das Publikum war glücklich, gingen doch Karajans interpretatorischer Impetus und vokale Gestaltungskünste eine ideale Verbindung ein.
Titelheld Franco Corelli eroberte dank blendender Erscheinung und ebensolcher Klangentwicklung alle Herzen, Leontyne Price war eine hinreißende Leonore. Bald sah man die Produktion auch in Wien – in ähnlicher Besetzung. Der Triumph war so durchschlagend, dass Karajan seine Troubadour-Produktion auch als Auftakt seines legendären Comebacks nach 13 Jahren Wien-Abstinenz wählte. Neben Christa Ludwig und Piero Cappuccilli war wieder die Salzburger Leonore, Leontyne Price, dabei, diesmal an der Seite von Luciano Pavarotti, auf den die Wiener nach seinen ersten Erfolgen ebenfalls lange Jahre hatten warten müssen.
Eklat – Placido Domingo als Retter
Beim Trovatore 1978 kam es zu einem Eklat. Zur Vorbereitung der TV-Übertragung setzte man kurzfristig eine Zusatzvorstellung an, bei der überraschte Staatsopern-Abonnenten in den Genuss einer Karajan-Aufführung kamen. Doch gingen sie im dritten Akt des Tenors verlustig: Franco Bonisolli, der Mann mit dem vermutlich sichersten hohen C der jüngeren Operngeschichte, warf unmittelbar vor der „Stretta“ sein Schwert auf die Bühne und verließ dieselbe. Karajan behielt die Nerven, gab den Auftakt, und Wien erlebte die wohl einzige Verdi-Cabaletta, in der nur das Orchester musizierte und der Chor sang, aber die Solostimme ausblieb. Den Manrico sang zwei Tage später anlässlich der Fernsehausstrahlung Placido Domingo . . .
Karajans Troubadour-Produktion blieb dann noch viele Jahre im Repertoire. Wobei sich mehr und mehr herausstellte, dass vor allem die Titelpartie immer schwieriger zu besetzen war – und die philologischen Ansichten von Interpreten und Opernfreunden über die »Stretta« weit auseinandergingen. Tatsächlich steht das hohe C nicht in Verdis Partitur. Doch erachten Verdianer es als unsportlich, wenn Tenöre darauf verzichten. Diese denken ebenso und lassen die Szene lieber einen Halbton nach unten transponieren. Sie singen ein hohes H – und ernten in aller Regel begeisterten Applaus dafür.
Skandal um István Szabó
Erst Anfang der Neunzigerjahre kam es an der Staatsoper endlich zu einer Neuinszenierung, die freilich in einem mittleren Desaster endete. Nicht, weil der damals neue Direktor Ioan Holender keinen strahlenden Manrico finden konnte in der damaligen Tenornotlage. Aber Filmregisseur István Szabó ließ das Werk im Nachkriegs-Wien spielen, erinnerte mit den Dekors an die zerbombte Staatsoper und die Flaktürme. Dergleichen ist hierzulande nie gut angekommen. So wurden Troubadour-Aufführungen rar, was die Direktoren auch der schweren Aufgabe entband, adäquate Interpreten für den Titelhelden zu finden. Ganz zu vernachlässigen ist ein solches Spitzenwerk für ein Haus wie die Staatsoper aber doch nicht. 15 Jahre nach der letzten Vorstellung des Szabó-Missgeschicks stand dann doch wieder Il trovatore auf dem Spielplan, Roberto Alagna war der Manrico, Anna Netrebko seine Leonora, Ludovic Tézier der Graf Luna und Luciana D’Intino die Azucena, ein luxuriöses Quartett. Marco Armiliator dirigierte, Daniele Abbado hat inszeniert.
Die älteste räsonable Aufnahme läßt uns Maria Callas in einer ihrer größten frühen Leistungen hören: Ihre Abigail setzte Maßstäbe in der Verdi-Interpretation.
Leonie Rysanek in der »Callas-Partie« in einem fulminanten Live-Mitschnitt von der Met.
Thomas Schippers – Cornell MacNeil, Eugenio Fernandi, Cesare Siepi, Leonie Rysanek, Rosalind Elias, Bonaldo Giaiotti, Paul Franke, Carlotta Ordassy (New York, 1960)
Lamberto Gardelli – Tito Gobbi, Bruno Prevedi, Carlo Cava, Elena Souliotis, Dora Carral, Giovanni Foiani, Walter Kräutler, Anna D‘ Auria (Wien, 1965 – Decca)
Die Referenzaufnahme der Interpretation der Titelrolle durch Tito Gobbi, entstanden in Wien. (Philips/Decca)
Das Musterbeispiel einer amibitionierten Studioproduktion mit großen Namen – und unverhältnismäßig geringem dramatischem Effekt. Immerhin: Für den großen Piero Cappuccilli zählt der Nabucco nicht unbedingt zu den zentralen Rollen, er hat sie hier aber doch für die Ewigkeit festgehalten (ein späterer Mitschnitt aus Verona läßt ihn nur noch mit Restbeständen seiner Stimme hören…)
Es stimmt schon: Richard Wagner hat seine Violinen im »Lohengrin« achtstimmig spielen lassen. Das war drei Jahre früher. Und doch: Als im März 1853 im venezianischen Teatro Fenice Verdis »La Traviata« erstmals erklang, ereignete sich ein nicht viel weniger zauberhaftes Klangwunder. Beide Opern, die deutsche und die italienische, heben mit schwebenden, geradezu irrational leuchtenden Klängen an, die auf das Publikum der damaligen Zeit unerhört wirken mußten. Wagner haben die Musikforscher später seine ästhetische Vorreiterrolle nie streitig gemacht. Er war der kühne Entdecker neuer Farben, Formen und Harmonien im Reich der Musik. Aber Verdi?
Der italienischen Widerpart des Bayreuthers hätte in Wahrheit keineswegs als minder fortschrittlich, minder aufgeschlossen, minder zukunftsweisend in die Geschichte eingehen dürfen. Freilich: Die Simplizität, deren er sich des öfteren befleißigt, die ungenierte Melodienseligkeit, die seine Musik über weite Strecken auszeichnet, sie übertünchen das Revolutionäre, das selbst in populärsten Opern, wie eben die »Traviata« eine darstellt, auszumachen ist. Verdis Größe liegt in der Vereinigung von allgemeinverständlicher Theatralik und der Auslotung von Grenzwerten. Daß das Hand in Hand gehen konnte, ist das Wunder.
Und die Zeitgenossen mußten wirklich nicht auf das sogenannte Spätwerk warten, bis der Meister über seine Mittel dermaßen souverän gebot, daß er scheinbar Unvereinbares zu einen wußte. Nicht erst »Otello« sprengt alle Grenzen. 1847 hat in Florenz »Macbeth« Premiere, ein Stück unverfrorener musikalisch-theatralischer Drastik, das fast 100 Jahre warten mußte, bis es in Alban Bergs »Wozzeck« ein ebenbürtig realistisches, auf keine Opernetikette Rücksicht nehmendes Pendant erhielt. Tatsächlich: Auch Verdi hat sich nie wieder so weit in anarchische Gefilde vorgewagt: »Überhaupt nicht gesungen« soll werden, kommentierte der Komponist selbst vor der Uraufführung. Und die Lady Macbeth soll eine »rauhe, erstickte, hohle« Stimme haben! Alles ist Ausdruck, die schöne Melodie, der »Belcanto«, wie er im Buche steht, hat ausgedient.
»Mord am Belcanto«
Verdi, der Mörder des traditionellen Schöngesangs, so mochten ihn manche Kommentatoren seiner Zeit gesehen haben. Tatsächlich klafft ein schier unüberwindlicher Graben zwischen der poetischen Linienführung eines Bellini und den verhalten flüsternden, ja röchelnden Dialogen des mörderischen Paares aus der Werkstatt Shakespeare/Verdi. Die Stimme hat in »Macbeth« eine neue Aufgabe bekommen. Die gewonnenen Farbwerte waren zwar danach nicht allgegenwärtig. Aber sie waren da, bereit, im rechten Moment eingesetzt zu werden. Der musikalische Expressionismus hebt an. Daher ist der Vergleich mit Berg gewiß nicht zu weit hergeholt. Ärgere Zumutungen an die Stimmen seiner Darsteller als Verdi im »Macbeth« wagt der Wiener Opernmeister anno 1925 kaum.
Welche Metamorphose! Noch Rossini hat wenige Jahre vor Verdis ersten Erfolgen den spätbarocken Ziergesang aus den Opernhäusern zu verbannen versucht. Mühevoll und langsam sollte ihm das gelingen. Bellini hat dann eine neue Schlichtheit _ und damit mehr Wahrhaftigkeit des Ausdrucks _ eingebracht. Statt virtuoser, zirkusreifer Artistik dominierte plötzlich die ausdrucksvolle Vokallinie: Belcanto, Singen als Akt menschlicher Seelenbespiegelung. Auf den sorgsam modellierten, ausdrucksreichen Gesang war man denn auch eine Zeitlang voll konzentriert. Alles andere hatte dahinter zurückzutreten: das Orchester, versteht sich, vor allem aber auch die musikalische Architektonik.
Ein Schema und die Revolution
Den großen Vorgängern Verdis genügte ein verhältnismäßig dürftiges formales Gerüst. Seit Rossini dominiert auf den Opernbühnen das Schema der Aneinanderreihung solistischer und duettierender Szenen: Kontemplation, Aktion/Entschluß, Aufbruch _ dargestellt in Arie (Cavatina), Rezitativ und Cabaletta (Stretta). Der junge Verdi übernimmt das zunächst willig, zerstückelt es aber im ersten günstigen Augenblick seiner dramaturgischen Revoltierlust zuliebe. Bis hin zu Manricos großer Szene im Finale des dritten Akts des »Troubadours« kennt er die beschriebene »Doppelarie«, die den Helden ausreichend Gelegenheit gab, all ihre Kunstfertigkeiten in den Dienst der jeweiligen Handlung zu stellen: Besinnung, gefolgt von wildem Aufbegehren. Schon im Frühwerk sprengt Verdi jedoch den Schematismus, fügt kurze Ariosi in den Handlungsverlauf ein, wo es nötig scheint, und bringt die Primadonna hie und da auch um ihren wohlverdienten Schlußapplaus, indem er die Cabaletta einfach kappt. Ein Werk wie der »Don Carlos«, erstmals in Paris 1867 präsentiert, kennt überhaupt keine Schablonen mehr. Hier bewegt sich ein freier Geist ungezwungen, um eine der sensibelsten tönenden Psychoanalysen der Musikgeschichte zu entwerfen. Der Titelheld darf gerade einmal eine kurze Arie singen, wird aber im übrigen ausschließlich als singender Gegenspieler aller anderen Akteure präsentiert, muß sich vokal am freundschaftlichen Entgegenkommen eines Baritons, den gehauchten Pianissimi einer Sopranistin und dem wilden Gefauche eines erzürnten Mezzosoprans messen.
Menschliche Beziehungen
Es ist Verdis Detailarbeit in diesen musiktheatralisch demonstrierten zwischenmenschlichen Beziehungen, die »Don Carlos« zum innovativen Musikdrama macht. Wenn Carlos und Elisabeth über ihre verlorene Liebe räsonieren, scheint jede Anlehnung an klassische Duettkünste verpönt. In ganz wenigen Momenten übernehmen die beiden singenden Menschen Motive voneinander. In der Regel wechseln die musikalischen Themen alle paar Takte, stehen disparate Versuche, zusammenhängende Melodien zu gestalten, unverbunden nebeneinander. Die Zerrissenheit wird zur künstlerischen Form. Moderner hat Gegenspieler Wagner, immer bedacht auf die »unendliche Melodie«, nirgendwo komponiert.
Auch die Instrumentationskunst Verdis ist fabelhaft und von den diesbezüglichen Zauberkunststücken des Bayreuthers qualitativ nicht zu unterscheiden. Die erwähnte frappante Ähnlichkeit der klanglichen Vision in den Anfangstakten des »Lohengrin« und der »Traviata« beweist das ebenso klar wie etwa die zukunftsweisend kühne Aufsplittung der tiefen Register. Welch ein Effekt, wenn Rigoletto dem Sparafucile den Mordauftrag erteilt! Zwei tiefe Männerstimmen, ein Quartett aus vier Bratschen und einem Cello als Harmonieträger, dazu je ein solistisches Cello und ein Kontrabaß, denen die Melodie über den pochenden Rhythmen der übrigen Celli und Bässe zugeteilt wird.
Dann wieder himmlische, ätherisch abgetönte Holzbläsersätze, zu denen sich der späte Verdi nach den blechgeschwängerten Bandaklängen der frühen Opern immer wieder aufschwingt. Der Auftritt der Amelia in »Simone Boccanegra«, die Beschwörung der Geisterwelt durch Nanetta im letzten Bild des »Falstaff« _ da ereignet sich, lange vor dessen verbriefter Erfindung, erstmals echtester Impressionismus. Verdi konterkariert solche verzückten Passagen gern und immer wieder mit jähen Einbrüchen, setzt filmisch harte Schnitte, überrumpelt den Hörer immer wieder, indem er ganz bewußt Erwartungen zuwiderhandelt, scheinbar logisch entwickelten Abläufen mittendrin eine unerwartete Wendung verleiht. Oberstes Gesetz: die dramaturgische Wahrhaftigkeit.
Der erste »Cluster«
Selbst scheinbar Äußerliches wird Introversion. Ist es der Wind, der pfeift, wenn der Chor mit geschlossenem Mund im Finale des »Rigoletto« summt _ oder doch eher ein weiteres drastisches Detail in der klingenden Psychoanalyse der Figuren? Der Sturm, der zu Beginn des »Otello« tobt, klingt vollends wie eine Klang gewordene existentielle Erfahrung. Da schwingt Tiefes mit _ technisch gesprochen übrigens auch ein Orgelbaß aus drei nebeneinander liegenden Halbtönen, die eine klare tonale Zuordnung der Musik vereiteln. Der erste Cluster der Musikgeschichte vielleicht, auch ein viel später »erfundener« Topos der Avantgardemusik. Verdi setzt ihn ein als brachiales Ausdrucksmittel.
Brachial und irritierend: Als ein Dirigent Mitte der achtziger Jahre darauf bestand, daß seine Otello-Aufnahme diesen dumpf dissonierende Kunstgriff Verdis ungeschminkt hören lassen müsse, reagierten die Testhörer der LP-Probepressung verstört und bombardierten die Konzernleitung mit Meldungen eines vermeintlichen Fabrikationsfehlers: Da störe ein fortwährendes Brummgeräusch die gesamte erste Szene, hieß es.
Daß Verdi sein Publikum noch 100 Jahre nach der Uraufführung dieser Oper zu verstören imstande sein würde, hätte ihn selbst diebisch gefreut. Daß Auditorien in aller Welt seine Musik heute in kleinen und großen Opernhäusern, in Arenen und Fußballstadien wie sanft plätschernde Unterhaltungsmusik konsumieren, würde vermutlich kaum seine Zustimmung finden. Außer es konfrontierte ihn ein Impresario mit der Meldung, die Vorstellungen seien allesamt ausverkauft. Der Kassenrapport war zeitlebens die einzige Instanz, die er wirklich anerkannte. Jedenfalls so lange, bis eine Lady Macbeth dem billigen Erfolg zuliebe allzu schön gesungen hätte . . .