Archiv der Kategorie: Kalender

Silja und Sokolow feiern

Unerschrockene Diva trifft skrupulösen Pianisten

In Zeiten von Social Distancing darf man immerhin bei virtuellen Geburtstagsfeiern die divergentesten Musikstars gemeinsam feiern.

Dieser Tage feierten die Musikfreunde weltweit die runden Geburtstage zweier Stars, deren Zugänge zur letztlich doch gemeinsamen Sache unterschiedlicher nicht sein könnten.

Da ist einmal der Pianist Grigorij Sokolow, den man hierzulande sehr spät kennenlernen durfte. Da ist andererseits Anja Silja, die schon als Teenager an der Staatsoper debütierte und ohne divenhafte Allüre zur Operndiva wurde.

Bei Sokolow wussten nur Kenner: Der große Emil Gilels hatte dafür gesorgt, dass unter heftigen Protesten dem damals 16-Jährigen als jüngstem Teilnehmer aller Zeiten der erste Preis beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb zuerkannt wurde.

Das war 1966, da hatte die 26-jährige Silja schon die größte Repertoire-Spannweite durchmessen, die je eine Sopranistin auf der Bühne der Wiener Oper durchmessen hatte: Zwischen ihrem Debüt als koloraturenperlende Königin der Nacht bis zur ihrer Darstellung der Elektra – in der Inszenierung ihres Lebensmenschen Wieland Wagner – lagen keine sieben Jahre!

Grigorij Sokolow durfte solch sprühende pianistische Lebensbeweise (noch) nicht geben. Wie manch bedeutendem Künstler vor ihm schoben die Sowjetbehörden seinen internationalen Auftritten einen Riegel vor. Er blieb zunächst ein russlandweit bestauntes Phänomen.

Von der Silja kannten die Opernfreunde weltweit sofort den Namen und bewunderten die temperamentvolle und zu allen inszenatorischen Kühnheiten bereite Singschauspielerin live als Senta, Salome oder Lulu, später nicht zuletzt in psychologisch meisterhaft durchgestalteten Janacek-Partien von der Emilia Marty („Makropulos“) bis zur Küsterin („Jenufa“).

Die Karriere nahm in Bayreuth so richtig Fahrt auf – und dauerte lang. Noch 2015 stand Silja als Gräfin in Tschaikowskys „Pique Dame“ auf der Wiener Staatsopern-Bühne.

Mit ihrem langjährigen Ehemann Christoph von Dohnanyi erarbeitete sie sich auch ein eminentes zeitgenössisches Repertoire.

Grigorij Sokolow hingegen hat sich nach Abwurf der Fesseln, die ihm die kommunistische Diktatur angelegt hatte, mehr und mehr zu einem in sich gekehrten, akribisch an seinen Interpretationen feilenden Künstler entwickelt. Aus seinem Schneckenhaus taucht er nur auf, um sein gerade aktuelles, oft kühne stilistische Querverbindungen ziehendes Programm weltweit aufzuführen. An diesem ist alles, auch der Gefühlstiefgang, bis ins Detail hinein kalkuliert – und geht doch nah.

Die Silja, ganz Bühnenspontaneität, sprang schon einmal in Jochanaans Zisterne, wenn sie merkte, sie würde Salomes Schlussgesang heute Abend nicht bewältigen . . .

Über die kleine Form

Zwischentöne

Von der Kunst, aus dem Kleinsten das Größte zu machen

Wie Beethovens Erben ihre Auswege aus dem schwer überschaubaren Terrain fanden, das er mit seinem Schaffen erobert hat.

9. März 2020

Auch kleine Dinge können uns entzücken“, heißt es in Hugo Wolfs „Italienischem Liederbuch“. Das klingt wie das Motto der deutschen Romantik, die der Musikgeschichte unter anderem die Formenwelten des Charakterstücks bescherte. In bewusstem Gegensatz zu Beethoven, der mit enormen architektonischen Entwürfen – etwa in der Neunten oder der „Hammerklavier-Sonate“ – die klassische Formbeherrschung auf die Spitze getrieben hat.

Vollendet, in den Augen der Nachwelt. Und schwer zu übertreffen. Ein Mann wie Brahms brauchte denn auch vier Jahrzehnte, bis er sich an seine Erste Symphonie wagte. Mit Bruckner war es nicht anders.

Robert Schumann schrieb Symphonien, die eher aus dem Geiste seiner pianistischen Charakterstücke gebildet scheinen – auch durch kunstvoll gefügte Mosaike ließen sich ja größere, zusammenhängende Formen bilden: Der Szenen aus Jean Pauls „Flegeljahre“ verarbeitende „Carnaval“, den Leif Ove Andsnes am Donnerstag im Konzerthaus auf dem Programm hat, beweist das.

Andererseits versucht sich Schumann in der Vierten, die chronologisch gesehen seine Zweite Symphonie ist, an einer zyklischen, aus einem einzigen Grundmotiv entwickelten Struktur, deren Sätze pausenlos auseinander herauswachsen. Franz Liszt übernahm diesen Gedanken für seine große h-Moll-Sonate, die er nicht von ungefähr Schumann zueignete – und die bis in die musikalische Moderne hinein Modell für manch späteren Versuch bleiben sollte. (Schönbergs Erstes Quartett und die Kammersymphonie sind prominente Beispiele.)

Für Schubert, der die pianistische Kleinform als einer der Ersten veredelt hat, war die große Symphonie mit vier voneinander getrennten Sätzen das erklärte Ziel der künstlerischen Wünsche. Über die Kammermusik suchte er es zu erreichen und er experimentierte noch mit ausufernden Formen, als er seine „Große C-Dur-Symphonie“ längst in Partitur gesetzt hatte.

Dem verdanken wir das allerletzte der Schubert’schen Quartette, in G-Dur und schon mit dem atemberaubenden einleitenden Wechsel von Dur und Moll in die harmonische Zukunft weisend. Alfred Brendel, der große Schubertianer, erläutert uns das dramatische Werk im Rahmen des Jeunesse-Auftritts des jungen Simply Quartet: Am 15. März darf man sich im Brahmssaal des Musikvereins eineinhalb Stunden lang in ein Meisterwerk versenken: Die Aufführung folgt pausenlos auf Brendels Vortrag.

Dass Schubert hier seine Antwort auf Beethovens riesenhafte Vorbilder gefunden hat, steht fest – wie weit sich der Jahresregent in Sachen Weitung des Horizonts nicht vielleicht manchmal selbst ausgetrickst hat, davon demnächst mehr . . .

Frau ohne Schatten

Auferstehung eines Opernmärchens
Staatsoper. Christian Thielemann hat "Die Frau ohne Schatten" von Hofmannsthal und Strauss völlig ungekürzt einstudiert. Das als schwer verständlich geltende Werk hielt in der klaren Regie Vincent Huguets dank Glanzbesetzung alle in Atem.
Opernpremieren von solchem musikalischen Zuschnitt verzeichnet die Chronik nur...

 

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Gerhard Lampersberg

CHRISTINE LAVANT – GERHARD LAMPERSBERG

Ehrenrettung für einen,
den Thomas Bernhard zum Antihelden machte

Carinthischer Sommer. Das Merlin-Ensemble und Andrea Eckert gedenken des 100. Geburtstags von Christine Lavant und des Komponisten Gerhard Lampersberg, dessen Nachruhm Thomas Bernhard einst so schwer beschädigt hat. Nun verschmilzt seine Musik mit Worten der Dichterin.

Ich will vom Leiden endlich alles wissen“, lautet der Titel einer höchst ungewöhnlichen V eranstaltung, die demnächst beim Carinthischen Sommer aus Anlass des 100. Geburtstags der Dichterin Christine Lavant und zum Gedenken an den Komponisten Gerhard Lampersberg über die Bühne geht.

Auf Anregung des Intendanten des Festivals, Thomas Daniel Schlee, hat Martin Walchs Merlin-Ensemble mit Andrea Eckert eine von Hermann Beil gestaltete halb szenische Collage aus Dichtung und Musik erarbeitet.

Schlee freut sich, daß er sich in seiner letzten Spielzeit einen „lang gehegten Wunsch“ erfüllen konnte: „Zum einen war es mir wichtig, etwas für Christine Lavant zu tun, zum andern habe ich lang geträumt von einer Hommage an Lampersberg, einer Würdigung dieses Komponisten, die über die Aufführung einiger weniger Stücke in einem Konzert hinausgeht.“

Selbst für das informierte Lese- und Musikpublikum gelten sowohl Lavant als auch Lampersberg als „schwierige“ Künstler, wobei beim Komponisten die Tatsache erschwerend hinzukommt, daß er von Thomas Bernhard zum (Anti-) Helden seines Romans „Holzfällen“ gemacht wurde, was einen Rechtsstreit inklusive Beschlagnahme des Bernhard-Titels nach sich zog. Das hat den Nachruhm Lampersbergs nachhaltig beschädigt, doch weiß Schlee als Sohn eines bedeutenden Musikverlegers ein bisschen mehr über die wahren Begebenheiten als der österreichische Kulturtratsch. „Ich kann mich noch gut erinnern“, sagt er, „daß meine Eltern von der künstlerischen Zusammenarbeit Bernhards mit Lampersberg begeistert waren.“

Der Landsitz des Komponisten, der Tonhof, war über viele Jahre Treffpunkt einer Elite junger Künstler, vor allem des Schriftstellernachwuchses, mit dem Lampersberg gern zusammengearbeitet hat. Die Zusammenkünfte auf dem Tonhof waren für manch berühmte Literaten erste Bewährungsproben. „Meine eigenen Begegnungen mit beiden Lampersbergs waren sehr eindrucksvoll“, erzählt Schlee: „Maja und Gerhard Lampersberg waren unwahrscheinlich verschieden, aber die Distinguiertheit und Belesenheit beider war unbeschreiblich. Lampersberg erarbeitete mit dem jungen Bernhard eine Kammeroper mit dem Titel ,Die Köpfe‘. Es folgten auch Arbeiten mit H. C. Artmann und vielen anderen.“ Aber auch an das musikalische Werk Lampersbergs sollte die Fachwelt sich wieder erinnern, meint Schlee.

Merlin-Pianist Till Alexander Körber gibt ihm recht: „Wir haben etliche Werke durchgespielt und sind auf faszinierende Musik gestoßen. Man sagt immer, Lampersberg knüpfe an den späten Webern an. Das stimmt vielleicht. Aber er reduziert noch weiter, legt die Strukturen klar, wodurch die Stücke für den Hörer auch beim ersten Hören gut nachvollziehbar werden.“

In Zusammenarbeit mit Andrea Eckert, die seit Langem von einer Lavant-Lesung geträumt hatte, ergab sich dann ein quasi polyphones Miteinander von Literatur und Musik. „Eine szenische Sonate“, wie Körber es nennt, von Hermann Beil „inszeniert“, was „nicht zu illustrativen Effekten“ führen wird, wie der Pianist versichert, sondern zu einer Gleichwertigkeit von Musik und Sprache. „In diesem Zusammenhang wirkt Lampersbergs Musik dann wirklich stark!“ Diese „Musik der leisen Berührung“, wie Intendant Schlee das formuliert, dem auf diese Weise durchaus ein Coup gelingen könnte.

BUNDESTHEATER-BAUSTELLEN

Der Abgang eines Generalmusikdirektors entscheidet nicht über Wohl und Wehe eines traditionsreichen Opernhauses. Schon gar nicht in Wien.

Die Staatsoper bleibt das internationale Aushängeschild

Im Zuge von Franz Welser-Mösts Abgang als Generalmusikdirektor von der Wie ner Staatsoper wegen „künstlerischer Differenzen“ mit Direktor Dominique Meyer, sprach zuletzt der Chef der Bundestheater davon, dass Auslastungszahlen „nicht alles seien“. Und dass es möglicherweise einer Kurskorrektur bedürfe, um das Haus nicht zur Touristen-Attraktion werden zu lassen.

Nun setzt sich das Wiener Staatsopern-Publikum zu 70 Prozent aus Österreichern und zu 30 Prozent aus Gästen zusammen. Die Auslastungsquote beträgt mehr als 99 Prozent.

Man muss dem Bundestheater-Chef recht geben, dass eine solch geradezu irrationale Zahl nicht alles verrät. Für ein Haus, das annähernd 300 Mal im Jahr seine Pforten öffnet und mit an die 50 verschiedenen Werken eine Bandbreite von Populärem bis zu Komponisten wie Janácek, Hindemith und Adés abdeckt, wären tatsächlich auch 90 Prozent sensationell . . .

Obwohl sich die Fremdenverkehrswerbung seit vielen Jahren bemüht, die Stadt als Musical-Metropole zu platzieren, bleibt die Oper offenbar eine Hauptattraktion Wiens. Ist das ein Fehler? Inwiefern wäre eine Kurs-Korrektur nötig? Weil manche Kommentatoren – anders als offenbar das Publikum – die Repertoire-Pflege mit sorgsam renovierten Inszenierungs-Klassikern oder Neuproduktionen wie Otto Schenks „Schlauem Füchslein“ für „verstaubt“ halten.

Gaben da nicht eher die verzweifelten Versuche von Dominique Meyers Amtsvorgänger Grund zur Besorgnis, sich beim deutschen Feuilleton beliebt zu machen? Dank „Regietheater“-Gaben scheiterten Versuche, das Repertoire um Werke wie Meyerbeers „Prophet“ oder Wagners „Rienzi“ zu bereichern; und die Staatsoper steht heute ohne taugliche Inszenierungen von wesentlichen Stücken wie Verdis „Troubadour“ oder Puccinis „Manon Lescaut“ da. Verdis „Macbeth“ musste sogar noch in der Premieren-Saison vom Spielplan genommen werden.

Abgesehen davon, kann ein Repertoirehaus nicht nach Gelingen oder Misslingen von Premieren beurteilt werden. Welche Kurskorrektur also könnte gemeint sein? In den bisher vier Spielzeiten der Ära Dominique Meyers sind so gut wie sämtliche berühmten internationalen Sänger in Wien aufgetreten, die meisten über die Jahre hin in verschiedenen Partien. Hinzu kommt die Pflege eines jungen Ensembles.

Dass der scheidende Generalmusikdirektor nun seinen ehemaligen Kompagnon zwingt, Dirigenten für 34 Abende zu finden, bedeutet angesichts der Reichhaltigkeit des künstlerischen Angebots eine Irritation, doch läuft der Betrieb auf hohem Niveau weiter. Dieser Tage debütierte Bryn Terfel als „fliegender Holländer“, Piotr Beczala sang Dvorák, José Cura an der Seite von Nina Stemme Puccini. Nächste Woche sind Roberto Alagna als Don Carlos und Juan Diego Flórez als Nemorino avisiert. Und wenn Kristine Opolais krankheitshalber absagt, präsentiert sich das junge Ensemble-Mitglied Olga Bezsmertna – allseits gelobt – erstmals als Rusalka.

Die Staatsoper erfüllt also ihren gesetzlichen Auftrag, ein breites Repertoire attraktiv zu pflegen – und hält dabei noch das Budget ein. Überall anders würde man den Direktor dafür loben. In Wien raunt man von einer drohenden künstlerischen Krise . . .

Und das angesichts eines Burgtheaters, das inmitten eines Finanz-Skandals nicht das geringste künstlerische Profil erkennen lässt; und einer Volksoper, die bei sinnlosen Repertoire-Verdoppelungen von „Fidelio“ bis „Salome“ vor allem Bühne ihres (freilich grandiosen) Schauspieler-Direktors ist. Wo ist ihre Zukunftsperspektive im angestammten Repertoire zwischen Operette und Spieloper?

Es gibt „Baustellen“ bei den Bundestheatern. Allerdings.

APPLAUS-KULTUR

Von Applaus und schlechtem Stil

Tosender Jubel nach dem ersten Akt! Doch soll man den Opernabend nicht vor dem Fallen des letzten Vorhangs loben. Nur eine knappe Stunde später hatte der Wotan die Stimme verloren, ging aber dankenswerterweise nicht ab, sondern stand seine Qualen bis zum Aktschluss durch. Die letzten Zeilen, die Wagner seinem Göttervater zudenkt, sparte sich der Sänger. Er brachte keinen Ton mehr heraus. Dafür stürmte das Orchester umso heftiger. Wotans Zorn wurde zur akustischen Realität. Doch im Publikum wussten einige besonders feinfühlige Zeitgenossen nichts Besseres, als das vokale Hinscheiden eines Darstellers mit heftigen Buhrufen zu quittieren.

Dergleichen ist angesichts der Leistung, die von Sängern und Musikern rundum erbracht wurde, so unerfreulich wie angesichts des Pechs, das ein verdienter Sänger hatte, der diese Partie zwischen Aix en Provence und Florenz, aber auch in der Wiener Generalprobe bereits mit beachtlichem Erfolg gesungen hat. Wie auch immer: Da war ein arger Unfall passiert. Man kann einen solchen auch ungehobelt kommentieren.

Dass am Ende der Vorstellung aber auch die Darstellerin der Brünnhilde mit Buhrufen bedacht wurde, stimmt bedenklich. Denn da ging es nicht um die Bewertung einer Leistung, sondern um Geschmacksfragen, die wohl diskutiert werden, aber nicht mit Schmähungen einhergehen dürfen. Man kann darüber unterschiedlicher Ansicht sein, welches Timbre eine Brünnhilde in der „Walküre“ haben soll und darf, ob ihre Stimme etwa prinzipiell schwerer und dunkler sein müsse als jene der Sieglinde. Das kann sich sogar auf die Stärke des Applauses auswirken, denn wer eine ästhetische Ansicht nicht teilt, kann seine Zustimmung verweigern. Eine Sängerin aber auszubuhen, obwohl sie gegen die Anforderungen der Partitur eine tadellose Leistung erbracht hat, nur weil einem ihre Stimmfarbe nicht passt, das ist schlicht und einfach unfair, ungezogen und des angeblich nach wie vor so kundigen Wiener Musikpublikums nicht würdig.

»Die schweigsame Frau«

über das Werk

Richard Strauss‘ Stefan-Zweig-Oper ist ein Sorgenkind des Repertoires

Premiere, Wien – Dezember 1996

Die Ehrenrettung für Richard Straussens späten Versuch einer »komischen Oper« dürfte der Wiener Staatsoper wieder nicht gelungen sein. Das Stück, das man gespielt hat, ist nur andeutungsweise mit dem von Strauss verwandt. Es erntete jedoch einen rauschenden Premierenerfolg.

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Brucknerfest

Ist’s Bruckner oder Janacek?

Brucknerfest 1995

Roger Norrington sorgte mit einer Aufführung der Urfassung von Bruckners Dritter für Aufsehen.

Die London Classical Players sorgten mit Beethoven für Aufruhr im Wiener Musikleben und warfen in Linz mit Bruckner viele Fragen auf.
So viel Zündstoff enthalten Konzerte nicht alle Tage.

Die Zeiten, in denen die berüchtigten Vertreter der Originalklang-Ästhetik die ihnen willig zugeordneten Schrebergärten beackerten, sind endgültig vorbei. Längst geht es an die Substanz des gesamten Musiklebens, um die Frage, ob nicht auch Brahms, Bruckner, ja sogar Richard Wagner einer neuen interpretatorischen Beleuchtung bedürfen, die historisch-wissenschaftliche Erkenntnisse über Aufführungspraxis und Spieltradition akribisch berücksichtigt.

Buhrufe für Beethoven!

In Österreich, wo man auf natürlich gewachsene Strukturen Wert legt, rufen solche Tendenzen auch Widerspruch hervor. So hallten nach Beethovens Achter, gespielt von den Classical Players sogar Buhrufe durch den Musikvereinssaal. Das hatte aber auch gesummt und gesurrt und gehämmert und gelärmt wie noch nie in dieser F-Dur-Symphonie. Gewisse Momente heftigster Klangballungen gemahnten angesichts des Eifers, mit dem die Musiker ans Werk gingen, eher an selbstvergessen-entfesseltes Kinderspiel als an eine philharmonische Beethoven-Session.

Da ist noch die Sache mit den „alten Instrumenten“, die schwerer ansprechen und fehleranfälliger sind als ihre modernen Nachfolger. Da waren dementsprechende Hornkiekser und ein im Final-Furor zunehmend undurchdringlicher Tönedschungel, der allen ästhetischen Postulaten der jüngeren Vergangenheit, denen Transparenz und Klarheit der Strukturen über alles ging, Hohn sprach.

So oder so ähnlich könnte freilich zu Beethovens Zeit die Musik wirklich geklungen haben: wild und ungezügelt, erschreckend wohl. Außerdem ist Norrington ein Showmaster, der auf dem Podium hüpft und sich verausgabt wie weiland Leonard Bernstein, der auch in einer Ansprache seinem Publikum suggeriert, es dürfe bei Haydn (Symphonie Nr. 65) auch zwischen den Sätzen applaudieren, der – mehr noch – Thomas Holzmaier animiert, zwischendrin auch noch Opernarien des Komponisten zum besten zu geben (übrigen mit immer noch schöner, aber dank technischer Fehlern zunehmend tonlos werdender, gefährdeter Stimme!).

Bruckners Dritte in der Urfassung

So viel zur ästhetisch-historischen Lektion, die ein solches Konzert auch sein kann. Dann aber: Norrington ist offenkundig auch ein Dirigent, der’s gern leidenschaftlich hat, der die Musikanten zu weit geatmeten Phrasen und gesanglicher Tongebung animiert.
So strömen Haydnsche Adagio-Sätze ebenso duftig wie solche von Anton Bruckner – wenn auch bei der Aufführung der Urfassung von dessen Dritter Symphonie im Linzer Brucknerhaus die Grenzen der Möglichkeiten der „Classical Players“ klar zu Tage traten: Die halbstündige Reise durch den langsamen Satz dieser „Wagner-Symphonie“, in der in dieser Version noch alle „Tristan“-und „Walküren“-Zitate enthalten sind, zerbröselte Norrington trotz heftiger Versuche mittels großem Ausdruck Zusammenhalt zu stiften, unter den Fingern.

In dieser Diskrepanz zwischen Erstrebtem und Erreichtem liegt der mögliche Kritikpunkt. Nicht aber in dem Impetus, in der über alle technischen Pannen und Fehler hinweg stürmenden Emphase der Bruckner-Interpretation, die hier vorgeführt wurde. Diese 1873 entstandene, zu Bruckners Zeiten nie aufgeführte Fassung der Dritten ist tatsächlich das Protokoll eines sich mit ungeheurem Elan über alle Konventionen hinwegsetzenden Geistes. Bruckner dringt mit jähen Kontrasten, schroffen Instrumentations-Kniffen in Regionen vor, die an viel spätere Meister gemahnen – sogar an die wilden, von krassen Stimmungsumschwüngen gezeichneten Ekstasen eines Leos Janacek.

Daß die Zeitgenossen solches als Verrücktheit empfinden mußten, versteht, wer Norringtons kratzbürstige, rüde Aufführung erlebt.
Da kommt etwas von der damaligen Verblüffung zurück – und man empfindet’s gar nicht als Lehrstunde.