Kenneth MacMillan


Anmerkungen zur Wiener Premiere von »Manon«

16. November 1993

Tanz mit Herz und See

»Manon« als Ballett ist, das weiß man seit Sonntag abend auch in Wien, keine Marotte eines Choreographen. Dem Massenet-Tanzverschnitt Kenneth MacMillans war in der Staatsoper ein voller Erfolg beschieden.

Die Wiener Truppe hat damit endlich eine wirklich dankbare neue Aufgabe gefunden. Denn „Manon“ in dieser Form bietet zum einen pro Abend jeweils fünf Solisten Gelegenheit, ihr Talent in vielfältig differenzierter Form zu beweisen. Und sie könnte zum andern endlich einmal auch Publikum ins Haus bringen, das sonst Tanzabende nicht freiwillig besucht – wenn sich nur herumspricht, daß die Meldung von der geschmacklos zusammengestoppelten und billig für Ballettzwecke arrangierten Opernmusik eine Lüge ist, vielmehr im Gegenteil an diesem einen Abend ein ganzer Reigen von herrlichsten Eingebungen des begnadeten Melodienerfinders Massenet zu entdecken ist.

Und daß es dem Choreographen gelungen ist, hier mit den Mitteln des Tanzes eine allgemein verständliche, also jenseits von allem selbstgefälligen Ballettomanen-Jargon angesiedelte Geschichte zu erzählen. Sie berührt – ganz altmodisch und in Pomp und Plüsch – unmittelbar, solange die rechten Künstler auf der Bühne erscheinen.

Bei der Premiere waren sie da. Svetlana Kuznetsova in der Titelpartie, vollendet in der Linienführung, aber kühl und berechnend kokett bis fast ans Ende. Aber eben nur fast. Zuletzt fällt im atemberaubenden Final-Pas-de-deux die Maske, kehrt sich Innerstes doch nach außen. In jenem Augenblick erst, da dem ausgezehrten Körper der Flüchtigen die Kräfte versiegen, die Muskeln den Dienst versagen.
Verhaltene Seele
Svetlana Kuznetsova realisiert diesen zu späten Wandel mit geradezu niederschmetternder Folgerichtigkeit, sie bringt das Paradoxon zuwege, die Eruption einer bis dahin offenbar krampfhaft verhaltenen Seele mit der gleichzeitigen Ermattung der physischen Existenz zur Deckung zu bringen.

Vladimir Malakhov zerbricht folgerichtig neben dieser im Sterben endlich erwachten Geliebten. Er läßt auch das so feinnervig glaubhaft werden, wie er zuvor wahrhaftige Freudensprünge über die Bühne zu machen imstande war – wo andere, vielleicht gleich kraftvoll, lediglich Figuren absolvieren: ein Ausdruckskünstler, dem man jede technische Panne leichten Herzens nachsieht. Er brilliert nicht nur, er irrt auch aus Begeisterung.

Tamás Solymosi gibt den Vater Lescaut und hat nach einem virtuos absolvierten Parodie-Solo als Betrunkener den meisten Applaus. Marialuise Jaska ist seine Partnerin, was ihr von MacMillan wahrhaftig nicht auf den Leib geschneidert wurde. Sie meistert die Aufgabe mit der ihr eigenen Grandezza, also bewundernswert.

Jan Stripling darf als Manons reicher Gönner und Verderber herzhaft lüstern, böse und widerlich sein. Er tut es so glaubhaft wie die übrigen Solisten ihre kleineren Aufgaben bewältigen. Das Corps bleibt zurückhaltend und darf sich trotz etlicher Unebenheiten über einen Erfolg freuen, der der ganzen Truppe zugute kommen müßte.

Wenn sich das Orchester an James Tuggles Dirigierbewegungen gewöhnt haben wird und insgesamt so herrlich aufspielen wird, wie Massenets Musik das verdiente – und wie es jetzt in mancher Passage wie dem poesievoll musizierten Duett von Geige und Cello gegen Ende des ersten Aktes schon passiert ist -, dann könnte diese „Manon“ den unterschiedlichsten Tanz-Charakteren als idealer Ansporn zur künstlerischen Selbstdarstellung dienen.