Marius PETIPA

Zum 200. Geburtstag des legendären Ballettmeisters und „Schwanensee“-Vaters, dessen Werke bis heute zu den wichtigsten Titeln des Ballettrepertoires gehören.


Das Wiener Staatsballett tanzte am 200. Geburtstag „Raymonda“ – zu Ehren jenes Mannes, auf dessen Schaffen unser aller Vorstellung von der hohen Tanzkunst gründet: Marius Petipa. Der Spross einer Tänzerfamilie, in Marseille zur Welt gekommen, sollte als Ballettmeister im zaristischen St. Petersburg zum Vater aller Ballettlegenden, allen voran des „Schwanensee“, werden.


Connaisseurs mögen entgegnen, die Erfindung der beiden „weißen“ Akte in diesem Ballett aller Ballette sei auf das Konto von Petipas Compagnon Lew Iwanow zu buchen. Doch stammte auch das Szenarium dieser Akte von Petipa – und eine suggestive Idee für das Finale des „Grand pas de cygnes“ dazu, in dem die Linienführung des Corps de ballet einen Raubvogel mit geöffneten Schwingen nachbildete.

Man wird diese Figur im ausgearbeiteten Ballett vergeblich suchen, doch charakterisiert sie die visionäre Kraft Petipas, in dem die Überhöhung der Tanzkunst zum ganzheitlichen Theaterereignis ihren Meister fand. Die bedeutendsten Tänzerpersönlichkeiten führten die von ihm begründete Tradition mit Begeisterung weiter. Nicht zuletzt Anna Pawlowa, die nach Petipas Tod an der Seite Vaslav Nijinskis zum Star der Ballets russes wurde und damit das Erbe der St. Petersburger Ballettkunst in die Welt trug.

Wiener Charme zu Gast. Das Renommee der vom Zaren generös unterstützten Petersburger Compagnie hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts Gäste gelockt. So stand Petipa, in jungen Jahren selbst Tänzer, an der Seite Fanny Elßlers auf der Bühne. Übrigens brachte damals Zar Nikolaus, der eine Probe zu „Caterina oder: Die Tochter des Banditen“ beobachtete, der Wiener Tanzlegende höchstpersönlich bei, wie man ein Gewehr richtig hält . . .

Petipa wiederum hat später Wien Avancen gemacht und gebeten, seine Kunst auch im Kärntnertortheater demonstrieren zu dürfen. Vergeblich. Dem kaiserlichen Obersthofmeisteramt waren die Gagen seiner Ehefrau, der Primaballerina Maria Suroschtschikowa, schlicht zu hoch, obwohl sich ein Bild dieser Künstlerin in der legendären „Schönheitsgalerie“ der Kaiserin Elisabeth findet.

Die Verehrung der russischen Tänzer für Petipa blieb freilich auch nach seinem Tod ungebrochen. Seine psychologische Kunst galt als unvergleichlich. Ein „Enkelschüler“, der Georgier Georgy Balanchivadze, der als George Balanchine Weltkarriere machen sollte, erzählte gern, wie Petipa einst für eine Solistin eine neue Schrittfolge geschaffen hatte, weil er an ihren Mienen abgelesen hatte, wie unglücklich sie mit der ursprünglichen Variante war.

Dank dieser Kombination aus vollkommenem Stilgefühl und Sensibilität für die Persönlichkeit des ausführenden Künstlers wurde Petipa zur lebenden Legende. Und seinen eigenwilligen Sprachduktus imitierte man als eine Art Running Gag noch, als St. Petersburg längst Leningrad hieß: Der Mann aus Marseille hatte auch nach einem halben Jahrhundert die Sprache seines Gastlandes nicht akzentfrei beherrscht.
Die Tanzszene „seiner“ Stadt überwachte Petipa bis zuletzt. Verbittert, weil man ihn nach 57 Jahren Dienstzeit nicht zu den Wiederaufnahmeproben für „Dornröschen“ eingeladen hatte, obwohl seine Tochter in der Aufführungsserie die Aurora tanzte, notierte der 85-Jährige ins Tagebuch: „Ich wäre noch kräftig genug, um zu arbeiten“ und: „Heute Abend geht die 101. Aufführung des ,Dornröschen‘ über die Bühne. Meine Tochter tanzt. Der Zar und die Zarin-Mutter sind anwesend. Karteneinnahmen: 2866 Rubel und 07 Kopeken.“


Petipa wusste Erfolge in Zahlen zu dokumentieren und notierte akribisch jeden Kassenrapport seiner Produktionen. An Selbstbewusstsein hatte es ihm nie gefehlt. Nachdem „Schwanensee“ anlässlich der Uraufführung in Moskau, inszeniert von einem anderen, durchgefallen war, suchte Petipa an, eine eigene Choreographie entwerfen zu dürfen, er könne nicht glauben, dass Tschaikowsky schwache Musik komponiert hätte.

Damit hatte er ja auch recht. Im zweiten Anlauf wurde das Werk zum romantischen Ballett par excellence. In der Folge entstanden „Dornröschen“ und der „Nussknacker“ – und ein Mann wie Alexander Glasunow komponierte „Raymonda“ bereits im Bewusstsein, dass Meister Petipa sie zu ewigem Bühnenleben führen würde.

Hierzulande dauerte es freilich etwas länger als anderswo, bis man von Petipas Kunst profitierte. Obwohl Ludwig Minkus, der fast die Hälfte der Ballettmusiken zu Petipas mehr als 50 Eigenkreationen komponierte, aus Wien stammte, zeigte die kaiserliche Hauptstadt dem berühmten Mann aus St. Petersburg die kalte Schulter. Und wenn einmal ein Petipa-Ballett in der Hofoper gezeigt wurde – beispielsweise eine Kurzversion von „Schwanensee“ 1912 –, reagierte die Kritik kühl.

Es sollte bis in die Fünfzigerjahre dauern, dass in Wien die Bedeutung des Meisters ganz gewürdigt wurde. Was „Raymonda“ betrifft, mit der die Wiener Truppe dank der Aufbauarbeit von Manuel Legris nun brilliert: 1985 hatte dieses Ballett in Rudolf Nurejews Version Premiere.
Kenner feierten diesen Abend als Höhepunkt in der Auseinandersetzung des beliebten Tänzers mit Petipas Klassikern. Spätestens in ihrer Wiener Ausformung war Nurejews „Raymonda“ – ganz im Sinn der Petipa-Ästhetik – eine wohl ausbalancierte Mixtur höchster Bewegungsexpressivität und klassischer Anmut.