RAPHAELA GROMES IM GESPRÄCH ÜBER »FEMMES«
Die vergessenen Frauen
Musik von Frauen hört man fast nie in den Opern- und Konzerthäusern. Zu Unrecht: Die deutsche Cellistin Raphaela Gromes hat Komponistinnen aufgestöbert, die seit Jahrhunderten vernachlässigt wurden. Ihr Album beweist, wie viele Frauen komponiert haben und vor allem: wie gut deren Musik ist.
Ein Album mit Werken von Komponistinnen? Warum nicht, dachte Raphaela Gromes, darauf angesprochen. Die deutsche Cellistin hat im Verein mit ihrem Klavierpartner Julian Riem schon einige außergewöhnliche Produktionen herausgebracht, die auch Kenner staunen ließen. Mit den komponierenden Frauen war das nun freilich eine besondere Sache. Es ist eines, etwa eine völlig unbekannte Variante der berühmten Cellosonate von Richard Strauss in einem Archiv aufzustöbern und auf CD zu präsentieren, es ist etwas ganz anderes, das derzeit beliebte Feld der oft über Jahrhunderte vernachlässigten Komponistinnen erfolgreich zu beackern.
Vom mittelalterlichen Gesang der Hildegard von Bingen über Opernklänge adeliger Komponistinnen des Spätbarock bis zu Lera Auerbach und Billie Eilish: Das Album „Femmes“ erschließt Musikfreunden eine neue Welt. Dass komponierende Frauen bis dato ein Schattendasein in den internationalen Spielplänen führten, lässt sich u. a. mit den alten Rollenklischees erklären. Nicht einmal zwei Prozent der Musik in Orchesterkonzerten stammt von Frauen.
Im Gespräch erzählt die Cellistin, wie man jenseits bekannter Namen wie Fanny Mendelssohn über Clara Schumann bis zu den Boulanger-Schwestern eine derartige Fülle guter Musik von 23 Komponistinnen finden kann.
Auch kundige Hörer können auf der neuen CD viel entdecken.
Eine Auswahl:
Matilde Capuis
(1913–2017)
„Melodie und Harmonie“ hat diese Italienerin gesucht – womit sie sich gleich ein zweites Mal exkommuniziert hat: Eine Frau, die in Zeiten des absoluten Dissonanzgebots an der Tonalität festhielt, hatte keine Chance. Die neue CD von Raphaela Gromes enthält aus Capuis‘ Feder ein Werk, dessen Titel auch im Hinblick auf das Leben dieser Komponistin bezeichnend scheint: „Solitude“.
Einsam war diese Künstlerin tatsächlich. Ihre Mutter meinte, als die ältere Schwester während des Zweiten Weltkriegs einem Bombenangriff zum Opfer fiel, sie hätte doch lieber sie, die ungeliebte Tochter, verloren. Introvertiert und von den Zeitgenossen kaum zur Kenntnis genommen, war die Musik für Matilde Capuis die einzige Möglichkeit, den Kontakt zu ihrer Umwelt zu suchen. Tatsächlich klingt eine sanfte Traurigkeit in diesem Werk an, das nun seine Ersteinspielung erfuhr.
Victoria Yagling
(1946–2011)
„Eine der wichtigsten Kräfte der sowjetischen Musik“ hat der Cellist Yuriy Leonovich diese Komponistin genannt, deren Name doch kaum bekannt geworden ist. Für Musikfreunde dürfte die „Aria“ eine der großen Entdeckungen sein, die dieses Album bietet. Yagling war Schülerin von Rostropowitsch (Cello) und Kabalevsky (Komposition) – und eines der vielen Opfer der restriktiven Ausreisepolitik der kommunistischen Behörden in Moskau.
Drei Wettbewerbe hat Yagling gewonnen – und durfte doch bis 1988 die Sowjetunion nie verlassen. Erst mit beginnendem Tauwetter gelang ihr die Flucht. Fortan unterrichtete sie in Helsinki Cello. Dass sie als Komponistin nicht international reüssieren konnte, liegt wohl auch an der retrospektiven Harmonik ihrer Musik, die von einem bemerkenswerten Sinn für gesangliche melodische Entfaltung getragen ist. Nicht „zeitgemäß“ in ihrer Ära, aber effektsicher.
Luise Adolpha Le Beau
(1850–1927)
Den Namen dieser Künstlerin sollten alle neugierigen Musikfreunde kennen, die sich für das vergessene Schaffen von Komponistinnen interessieren. Luise Adolpha Le Beau war eine Studentin von Clara Schumann und nicht nur eine versierte deutsche Tonschöpferin, sondern auch eine Forscherin sozusagen in eigener Sache. Wiewohl von ihren Eltern unterstützt, musste Le Beau alle Probleme einer Komponistin in ihrer Zeit kennenlernen. Ihre Autobiografie „Lebenserinnerungen einer Komponistin“ gehört zu den wichtigsten Dokumenten bei der Aufarbeitung der Frage, warum Musik von Frauen so zögerlich ins Repertoire fand.
Raphaela Gromes und Julian Riem präsentieren in ihrem Album eine „Romanze“, die nicht nur dank des Gespürs für kantable Melodiebildung aufhorchen lässt, sondern auch mit einem liebevoll gearbeiteten Klavierpart aufwartet.
Maria Antonia von Bayern
(1724–1780)
Eine künstlerisch ungemein talentierte Zeitgenossin von Kaiserin Maria Theresia: Sie komponierte, dichtete die Texte zu ihren Opern selbst und sang auch noch die Hauptrollen! Zudem räumte sie in ihrer Oper „Talestri, Königin der Amazonen“ mit der Mär von den männermordenden Amazonen auf. Das Arrangement der Arie aus „Talestri“, das Raphaela Gromes in ihrem Album effektvoll dem Lamento der Dido aus Henry Purcells „Dido und Aeneas“ entgegensetzt, besticht dank der überbordenden Energie der Musik, die unbekannt blieb, weil die Etikette verbot, dass sich eine Prinzessin von Bayern und nachmalige Kurfürstin von Sachsen außerhalb von Palastmauern künstlerisch betätigte.
Apropos: Dass wir wissen, wie sie aussah, verdanken wir auch einem Selbstbildnis, dem das Porträt oben entstammt. Es befindet sich in den Uffizien in Florenz.
Florence Price
(1887–1953)
Der Name Florence Price wird in Zeiten der Besinnung auf das reiche Erbe an Musik von Komponistinnen wieder öfter genannt. Zuletzt erschienen auch Aufnahmen symphonischer Werke dieser Künstlerin, die es in ihrer Heimat, den USA, denkbar schwer gehabt hat. „Ich habe zwei Handicaps: Ich bin eine Frau, und ich habe schwarzes Blut in meinen Adern,“ so umschrieb sie selbst das Problem.
Dabei hatte sie zu Lebzeiten aufsehenerregende Erfolge. Ihre Symphonie in e-Moll, ausgerechnet in der Tonart von Antonín Dvořáks „Symphonie aus der neuen Welt“, kam anlässlich der Weltausstellung 1933 durch das Chicago Symphony Orchestra zur Uraufführung und erhielt anerkennende Rezensionen. Und doch: Auch Florence Price braucht Veröffentlichungen wie diese. „Adoration“, für Orgel komponiert, hier arrangiert von Julian Riem, beweist Inspiration und Geschick.
Lili Boulanger
(1893–1918)
Lili Boulanger – das ist einer jener Namen, die in der Musikwelt nie vergessen waren, nicht zuletzt dank der unermüdlichen Tätigkeit ihrer Schwester Nadia, die selbst Komponistin war, Lehrerin von Größen wie Leonard Bernstein, Astor Piazzolla, Philip Glass oder der im Album „Femmes“ ebenfalls vertretenen Gra?yna Baczewicz. Dass die tragisch früh verstorbene Lili die originellere schöpferische Kraft war, daran hat Nadia Boulanger (1887–1979) nie einen Zweifel gelassen.
Raphaela Gromes und Julian Riem lassen beiden Schwestern Gerechtigkeit widerfahren. Auf drei Stücke für Cello und Klavier aus Nadias Feder folgt ein Arrangement von Lilis „Nocturne“: herrliche Musik, die ahnen lässt, warum diese Komponistin 1913 als erste Frau den begehrten Prix de Rome erhalten hat. Lili wusste zu diesem Zeitpunkt bereits um ihre Krankheit – und machte bis zur letzten Stunde Musik. Das war, so heißt es in ihrer Lebensbeschreibung, „ihr Lebenselixier“, von dem sie nicht abließ, als sie nur noch gestützt von ihrer Schwester arbeiten konnte.
CD-TIPP
Raphaela Gromes: „Femmes“.
Das Album besteht aus zwei CDs, eine mit Orchesterbegleitung durch die Festival Strings Lucerne, eine zweite mit Raphaela Gromes‘ Klavierpartner Julian Riem, der auch einige Nummern arrangiert hat.