1912
Rudi Stephan – Otto Borngräber
Otto Borngräber hatte dem deutschen Establishment der Zeit um 1900 nicht nur als enragierter Pazifist (Friedensappell an die Völker) und Autor des präzis zur Jahrhundertwende publizierten Dramas Das neue Jahrhundert als Querdenker Nüsse zu knacken aufgegeben. 1908 brachte er mit dem Drama Die ersten Menschen eine theatralische Aufbereitung der Geschichte von Adam, Eva, Kain und Abel heraus, die ganz im expressionistischen Stil der Zeit unverhohlen sexuelle Triebkräfte der alttestamentarischen Handlung aufzeigt — das ausdrücklich als »Erotisches Mysterium« bezeichnete Stück wurde nach seiner Münchner Uraufführung, 1912, sofort für das gesamte Königreich Bayern verboten.
Doch war der jugendliche Komponist → Rudi Stephan von dem Sujet fasziniert. Er hatte den 13 Jahre älteren Borngräber 1909 anläßlich des Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musik-Vereins in Stuttgart kennengelernt.
Doch der Autor war an einer Zusammenarbeit mit dem damals völlig unbekannten jungen Musiker nicht interessiert. Die erotischen Konnotationen seines Dramas ließen ihn hoffen, daß einer der führenden Musikdramatiker jener Ära, allen voran Richard Strauss, sich für den Text interessieren könnten. Borngräber trieb daher seine Honorarforderungen in unerschwingliche Höhen. Selbst der potente Vater des Komponisten, Dr. Karl Stephan, mußte passen. Er unterzeichnete aber letztendlich einen Vertrag auf sofortige Zahlung von 6.000 Reichsmark, der am Uraufführungstag weitere 4.000 Reichsmark folgen sollten. Die Tantiemen für Borngräber sahen einen für Librettisten ungewohnt hohen Berechnungsschlüssel vor.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Stephan längst zu komponieren begonnen, und das, obwohl selbst vom Schott-Verlag warnende Stimmen kamen:
ieser Stoff zieht selbst die himmlischste Musik mit sich in den Abgrund.
Stephan unterbrach die Arbeit an der Oper freilich nur zur Fertigstellung der Musik für Geige und Orchester und der Musik für Orchester.
Die ersten Menschen waren im Sommer 1914 vollendet, kurz nachdem ein Vorvertrag für die Uraufführung mit der Frankfurter Oper unterzeichnet war. Schott wollte das Aufführungsmaterial herstellen und im Falle des Erfolgs ins Verlagsprogramm aufnehmen. Dann kam der Weltkrieg — die Aufführungschancen für eine Oper aus der Feder eines nach wie vor kaum bekannten Komponisten sanken gegen null.
Der Pazifist Borngräber war längst in die Schweiz emigriert. Er starb 1916 in Lugano. Rudi Stephan mußte seinen Militärdienst antreten und fiel 1915 an der russischen Front in der Nähe des galizischen Tarnopol. Seine Oper kam am 1. Juli 1920 in Frankfurt zur Uraufführung. Der Freund Stephans aus Wormser Jugendtagen, Karl Holl, erstellte später eine Fassung derErsten Menschen, die um einige der »anstößigsten« Passagen des Textes bereinigt, eine weitere Verbreitung sicherstellen sollte. Diese Fassung wurde erstmals 1924 in Münster gespielt und erlebte an die 30 weiteren Einstudierungen bis in die Fünfzigerjahre.
Erster Akt
Nach dem Sündenfall. Adahm muß im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdienen. Seine Frau Chawa und Söhne Kajin und Chabel träumen vom verlorenen Paradies, Chawa sehnt sich danach, von Adahm wieder körperlich begehrt zu werden. Kajin entdeckt im Anblick seiner Mutter seine sexuellen Triebe. Die Mutter wendet sich entsetzt von ihm ab. Der heimkehrende Chabel bringt mit seiner Vision eines gütig-allmächtigen Gottes Trost.
Zweiter Akt
Chabel beobachtet Chawa, die nachts vor dem Opferstein ekstatisch darum fleht, wieder von ihrem Mann begehrt zu werden. Kajin schleicht herbei und erkennt, wie begierig der Bruder die Mutter betrachtet. Eifersüchtig stürzt er sich auf Chabel und erschlägt ih.
Chawa verflucht den mörderischen Sohn. Adahm kann sie daran hindern, Kajin zu töten. Der Sohn flieht. Das Paar preist die Heraufkunft des neuen Tages als Symbol der Hoffnung auf eine kommende, bessere Welt.
Eine beeindruckende Wiedergabe des Werks entstand 1998 mit Gabriela Maria Ronge und Sigmund Nimsgern als Adam und Eva anläßlich einer konzertanten Live-Aufführung im Konzerthaus Berlin unter Karl-Anton Rickenbacher. (cpo)
Die früheste Aufnahme entstand 1952 in Frankfurt unter Wilfried Zillig mit Erna Schlüter und Ferdinand Frantz. (classical moments)