Antonín Dvořáks letzte Symphonie verdankt ihren – übrigens vom Komponisten selbst verliehenen – Untertitel »Aus der Neuen Welt« dem Umstand, daß sie das erste Werk ist, das Dvořák während seines Amerika-Aufenthaltes komponiert hat. Die Symphonie entstand in der Zeit zwischen September 1892 und April 1893. Der Komponist war damals als Direktor des des National Conservatory of Music in New York tätig und leitete dort selbst eine Kompositionsklasse.
Antonín Dvořák startete schon mit 21 den ersten Versuch, ein Streichquartett zu schreiben. Das war 1862, ein Jahr nachdem er auf dem kammermusikalischen Sektor zunächst ein Streichquintett komponiert hatte. Dem vom Komponisten selbst als op. 2 numerierten Quartett sollten in den kommenden Jahrzezten 13 weitere einschlägige Werke folgen. Die Nr. 1 kam noch zu Dvořáks Lebzeite, 1888, zur Uraufführung, wurde aber erst 1948 gedruckt. Der Komponist hat das Stück nie wirklich anerkannt, für die Uraufführung von 1888 aber immerhin eigenhändig Veränderungen an der Partitur angebracht und das Werk gekürzt.
Das Quartett ist eine bemerkenswerte Stilübung und beginnt mit einem regelrechten Sonatensatz, dem eine Andante-Introduktion vorangeht. In der Durchführung erkundet Dvořák das harmonische Terrain mittels ausschweifenden Modulationen. Der langsame Satz steht im parallelen fis-Moll und übt sich in hochromantischem Espressivo, wobei das eindrucksvolle Geigenthema von der Bratsche bald behutsam imitiert wird. Wie in einem Konzert-Satz sorgt eine Kadenz für den Quartett-Primarius für die Überleitung in die Reprise. Die tonale Struktur der ersten beiden Sätze wird im folgenden Allegro scherzando gespiegelt, dessen Trio wiederum in fis-Moll steht.
Wie noch oft in späteren Werken sucht Dvořák bereits in seinem Quartett-Erstling nach innerem Zusammenhalt der einzelnen Sätze: So läßt er vor dem Ende des Finales die langsame Einleitung des ersten Satzes wiederkehren.
Quartett in B-Dur (B. 17)
Allegro ma non troppo
Largo
Allegro con brio
Finale. Andante
Schon das Vorgängerstück hat Antonín Dvořáks Ehrgeiz offenbart, mit seinen Streichquartetten die große Form für sich zu erobern. Die Ausdehnung der Stücke nimmt konsequent zu. Hatte das A-Dur-Werk etwa eine Dreiviertelstunde gedauert, dehnt sich das B-Dur-Quartett auf an die 50 Minuten aus, das folgende D-Dur-Quartett benötigt dann eine Aufführungszeit von mehr als einer Stunde und dauert damit etwa so lange wie Beethovens Neunte Symphonie.
Im Zweiten Streichquartett tritt Dvořáks Intention, seine mehrsätzigen Kompositionen durch übergreifende Motive und Themen zu einen und große formale Bögen zu spannen, bereits offen zu Tage.
Quartett in D-Dur (um 1870, B. 18)
I. Allegro con brio
II. Andantino
III. Allegro energico
IV. Finale: Allegretto
Das D-Dur-Quartett ist Antonín Dvořáks dritter Versuch mit der klassischen Quartett-Form und entstand 1869 oder 1870. Die Datierung ist unklar, eine erste Stimmenabschrift stammt aus dem Jahr 1870. Die Verwendung des patriotischen tschechischen Liedes Hej, Slované im dritten Satz deutet auf die Jahre 1868/69 hin, in denen das Lied von der erwachenden böhmischen Nationalbewegung gern gesungen wurde. Ob das Quartett in Antonín Dvořáks Zeit je gespielt worden ist, ist fraglich. Das erwähnte Stimmen-Material ist extrem fehlerhaft und weist keine Gebrauchsspuren auf.
Das Quartett ist ungewöhnlich umfangreich und gehört zu Dvořáks ehrgeizigen frühen Versuchen, sich klassische Formen anzueignen und – im subjektiven Stil der Wagner-Liszt-Schule in Vehikel persönlicher Aussagen zu verwandeln. Für die erste Notenausgabe in den Sechzigerjahren des XX. Jahrundert nahmen die Herausgeber massive Kürzungen vor. Im Original dauert es im ersten Satz 150 Takte, bis nach dem breit ausgeführten Hauptthema der lyrische Seitensatz erklingt. Ungekürzt dauert der Kopfsatz des Quartetts an die 24 Minuten!
Der langsame Satz (»Andantino«) ist dreiteilig mit sanft umspielter Reprise und steht in h-Moll. Das patriotische Lied prägt das G-Dur-Scherzo, dessen ruhiges Trio (B-Dur) einen sanften Kontrast zum spritzigen Geschehen bildet. Im Final-Rondo versucht sich Dvořák an einer modern-chromatisierten Melodik und Harmonik, die deutlich an Wagner geschult sind, dessen Einfluß sich auch an der zur selben Zeit entstadnenen Oper Alfred zeigt.
Streichquartett in e-Moll (um 1870)
Allegro
Andante religioso
Allegro con brio.
Dvořáks Streichquartett in e-Moll (B. 19) ist vermutlich im Jahr 1870 entstanden. Aber der Komponist hat das Werk zurückgezogen. Doch lag ihm das entrückte H-Dur-Nocturne am Herzen, das er in einem Arrangemet für Streichorchester als op. 40 herausgabe und zuvor noch in sein Streichqintett in G-Dur integrierte, aus dem er es anläßlich der Veröffentlichung als op. 77 aber ebenfalls wieder entfernte.
Die ursprüngliche, dreisätzige, aber pausenlos gearbeitete Version für Streichquartett wurde zu Lebzeiten Dvořák nicht mehr beachtet und erschien wie zwei weitere verworfene Quartette erst 1968 in Druck. Das Stück gehört in die experimentelle Phase des Komponisten, liebäugelt klanglich durchaus mit der Sprache der Wagner-Epigonen und stellt innige Verbindungen zwischen den Werkteilen her: Die magischen Klänge des Andantes kehren vor dem Schluß des Allegro con brio abrundend noch einmal wieder.
Quartett in f-Moll op. 9
Allegro con brio
Andante con moto quasi allegretto
Tempo di valse
Finale: Allegro molto
Das Streichquartett in f-Moll entstand 1873, einem Jahr das für Antonín Dvořák gemischte Erfahrungen bereithielt. Die patriotische Kantate Die Erben des Weißen Berges war auf viel Gegenliebe gestoßen, die Neufassung der König und Köhler hatte den älteren Kollegen Smetana beeindruckt, der sie zur Aufführung im Tschechischen Opern-Theater von Prag annahm. Doch folgte die Enttäuschung auf dem Fuß: König und Köhler verschwanden nach den ersten Ensembleproben wieder vom Probenplan des Hauses. Die Musik klang den Ausführenden zu sehr nach Wagner und sollte für die kommende Spielzeit noch einmal überarbeitet werden. In dieser Stimmung arbeitete Dvořák an seinem neuen Streichquartett. Es war Anfang Oktober fertiggestellt, einen Monat vor der Hochzeit des Komponisten mit einer Choristin des Operntheaters. Anders als die vier vorangegangenen Quartett-Versuche wurde das Opus 9 zumindest zur Uraufführung angenommen; doch auch hier bemängelten die Musiker den Stil, der zu sehr von der neudeutschen Schule beeinflußt schien – dieselben Musiker hatten übrigens Friedrich Smetanas e-Moll-Quartett (»Aus meinen Leben«) aus dem nämlichen Grund kritisiert.
Vermutlich hat die eigentliche Uraufführung von Dvořák f-Moll-Quartett erst nach Erscheinen der Partitur in Druck, 1930, stattgefunden. Der Komponist hat aus dem langsamen Satz des Werkes eine Romanze für Solovioline und Orchester gemacht, die er 1879 veröffentlichte. Kommentatoren rücken Dvořáks Komposition in die Nähe von Smetanas erstem Quartett und vermuten auch hier autobiographische Züge: Dvořák soll hier, heißt es, seine künstlerischen Selbstzweifel in Musik gesetzt haben und auch deren Überwindung durch befriedigende musikalische Arbeit.
Quartett in a-Moll op. 12
Allegro,ma non troppo
Andante cantabile
Allegro scherzando
Allegro, ma non troppo
Dvořáks a-Moll-Streichquartett entstand in den Monaten November und Dezember des Jahres 1873, in der Zeit der Hochzeit des Komponisten. Mit dem Ergebnis seiner Arbeit war Dvořáks nicht zufrieden. Rasch ging er an eine Neufassung der Partitur, die er allerdings nie beendet hat. Das Stück blieb fragmentarisch liegen. Jahrzehnte später versuchte Jarmil Burghauser, Herausgeber der Dvořák-Gesamtausgabe der Supraphon-Edition, eine Spielfassung zu rekonstruieren, die dann dem Erstdruck zugrundegelegt wurde.
Original erhalten blieben von Dvořáks Hand Exposition und ein großer Teil der Durchführung des Kopfsatzes, ein großer Teil des Scherzos, der gesamte dritte Satz, ein schönes Adagio in E-Dur, das wohl den wertvollsten Teil der Komposition darstellt, sowie Abschnitte des Finales.
Quartett in a-Moll op. 16
Wie viele Werke Antonín Dvořáks entstand auch dieses Streichquartett in atemberaubend kurzer Frist, innerhalb von zehn im September 1874. Es erschien 1875 in Druck und erklang 1878 erstmals öffentlich, gespielt vom Bennewitz-Quartett. Wie schon im f-Moll-Quartett (und des öfteren noch in späteren Werken) legt Dvořák die dramatischsten Momente in den Schlußsatz, den er »grandioso« enden läßt. Unverwechselbarer Dvořák ist das tänzerische C-Dur-Trio im Scherzo.
DIE QUARTETTE DER REIFEZEIT
Für die ersten beiden Streichquartette aus des Komponisten Reifezeit ist eine sanfte Melancholie charakteristisch, die wohl die Tragödien im Familienverband spiegelt, die Antonín Dvořák in jener Zeit erleben mußte. Töchterchen Josefa starb im September 1875 kurz nach ihrer Geburt. Ihre 1876 geborene Schwester Ruzena war kaum ein Jahr alt, als sie einen Schluck aus einer Phosphorlösung zu sich nahm, die man damals im Haus hatte, um Streichhölzer herzustellen. Das Kind überlebte den Unfall nicht. Wenig später starb auch Dvořáks Sohn, Otakar, an den Pocken. Was Wunder, daß Dvořák damals die Arbeit an der Vertonung des Stabat mater wieder aufnahm, die er1876 skizziert, aber dann abgebrochen hatte.
Quartett in E-Dur op. 80
Allegro
Andante con moto
Allegro scherzando
Finale. Allegro con brio
Das E-Dur-Quartett ist in der chronologischen Reihung Antonín Dvořáks achtes Streichquartett. Seine Erstfassung vom Winter 1875/76 war bereits unter der Opuszahl 27 aufgeführt worden. Die Letztfassung erstellte Dvořák 1888 für die Erstaufführung durch das Kneisel-Quartett am 27. Februar 1889 in Boston.
Entsprechend den Lebensumständen, darf man das E-Dur-Quartett als Musik mit Trauerrand bezeichnen, melancholisch umflort bereits im Eingangs-Allegro, dessen Seitenthema (cis-Moll) trotz der folkloristisch anmutenden Begleitfiguren rettungslos melancholisch anmutet. Die Durchführung strebt in zwei Steigerungswellen heftig artikulierten Höhepunkten zu, wonach sich der Satz in visionär-traumverlorene Gefilde aufzulösen scheint.
Im Andante con moto, eine der vielen Anverwandlungen der Dumka in Dvořáks Instrumentalmusik, gehört der elegische Ton ohnehin zu den charakteristischen Mermalen des beliebten, aus dem ukrainischen Raum importierten Tanzes. Der bewegte Mittelteil ist von höchster Erregung gekennzeichnet. Selbst das Scherzo, wiewohl von den metrischen Verwirrspielen zwischen Zwei- und Dreizeitigkeit beherrscht, wie sie für den Furiant typisch sind, klingt in diesem Werk vergleichsweise verhalten, eine Valse triste, von einem düsteren cis-Moll-Trio unterbrochen.
Auch das Finale ist in diesem Fall kein fröhlich-unbeschwerter Kehraus, sondern enthält manch poetisch-verklärte, lyrisch-innehaltende Elemente.
Quartett in d-Moll op. 34
Allegro
Alla Polka. Allegretto scherzando
Adagio
Finale. Poco allegro
Das Quartett in d-Moll entstand in der zweiten Jahreshälfte 1877 als Hommage an den freundschaftlichen Kollegen und Förderer Johannes Brahms. 1879 revidiert, erklang es erstmals am 27. Februar 1882 in Prag. Die Anregung zur Komposition dürfte die Nachricht von der Zuerkennung des Wiener Staatsstipendiums geboten haben, die mit der Veröffentlichung der »Mährischen Duette« durch Simrock verbunden war. Diese wiederum war durch die Vermittlung von Brahms zustandegekommen.
Den Schmerz über den Tod seiner Tochter, der das E-Dur-Quartett überschattet hatte, hatte der Komponist trotz aller Erfolgsmeldungen noch nicht überwunden. Daraus erklärt sich wiederum der melancholische Grundton im Kopfsatz des Quartetts, der einen geradezu opernhaft gesteigerten Schluß mündet. Aufgeräumt klingt dagegen die folgende Polka, die die Stelle des Scherzos einnimmt. Wie schon in früheren Werken bemüht sich der Komponist, durch Übernahme thematischen Materials von Satz zu Satz, seinen mehsätzigen Werken größere Einheitlichkeit zu sichern. So schimmern thematische Gestalten aus dem ersten Satz im großen Adagio-Gesang des dritten Satzes durch. Das Finale gibt sich nicht als leichtergewichtiger Kahraus, sondern steht in Sonatenform und stellt mit seiner rhythmisch heftig akzentuierten und dramatisch durchgeführten Thematik die inhaltliche Balance mit dem Kopfsatz her.
Quartett in Es-Dur op. 51
Allegro ma non troppo
Dumka (Elegia): Andante con moto – Vivace
Romanze: Andante con moto
Finale: Allegro assai
Das Quartett in Es-Dur ist das zehnte von Antonín Dvořáks 14 Streichquartetten, entstanden 1879 über Auftrag von Jan Becker: Der Primarius des Florentiner Streichquartetts orderte beim Komponisten ein Werk von deutlich »böhmischem« Zuschnitt. Das ließ sich Dvořák nicht zweimal sagen. Johannes Brahms zeigte sich vom Ergebnis der Arbeit ebenso beeindruckt wie der Wiener Geiger und Dirigent Josef Hellmesberger, der mit seinem Hellmesberger Quartett seit langem nach einem Werk von Dvořák verlangt hatte.
Es war die Zeit, in der Dvořák mit seinen »Slawischen Tänzen« weltweit Erfolge feierte, was dazu führte, daß der von Brahms vermittelte Verleger Simrock immer neue Komposition dieser Art verlangte.
Dem setzte Dvořák nun sein zwar durchaus »slawisch« getöntes, aber höchst ernsthaft gearbeitetes Quartett entgegen, das erstmals eine Balance findet zwischen den Ansprüchen der klassischen kammermusikalischen Form und Dvořáks romantischem Ausdrucksbedürfnis, das sich – schon das vom Cello angestimmte Hauptthema des in Sonatenform gehaltenen Kopfsatzes läßt keinen Zweifel daran – des beliebten böhmischen Idioms bedient, ohne ins Folkloristische abzugleiten.
Der zweite Satz ist eine typische Dumka, wie sie Dvořák in die Welt der Kunstmusik eingeführt hat, Musik von rasch wechselnden Stimmungen zwischen elegisch und tänzerisch-beschwingt. Da hier der effektvolle Furiant-Rhythmus dominiert, fungiert erst die folgende »Romanze« als langsamer Satz des Quartetts. Der zweite »slawische Tanz« des Es-Dur-Quartetts ist das Finale, eine Skocna, deren Melodien der Komponist auf raffinierte Weise kontrapunktisch behandelt – womit er zwischen dem nationalistisch-tänzerischen Ton der Musik und ihrer kunstvollen Faktur in der Tradition des klassischen Streichquartetts souverän vermittelt.
Quartett in C-Dur op.61
Allegro
Poco Adagio e molto cantabile
Scherzo. Allegro vivo
Finale. Vivace
Dvořák vollendete sein Quartett in C-Dur im November 1881. Das Werk war im Auftrag des Wiener Hellmesberger Quartetts enstanden, wobei vermutlich Johannes Brahms eine Vermittlerrolle gespielt haben könnte. Die Uraufführung fand jedoch im November 1882 nicht in Wien, sondern durch das Joachim Quartett in Berlin statt, weil der Spielbetrieb in Wien im Gefolge des katastrophalen Brands des Ringtheaters unterbrochen war.
Von den kammermusikalischen Werken der Reifezeit ist es jenes, in dem das böhmische Element am stärksten zurücktritt. Es meldet sich lediglich im Trio des dritten Satzes unverwechselbar zu Wort.
Hingegen zeigt sich der Experimentator Dvořák in vergleichsweise ungewöhnlichen harmonischen Kozepten; so vermeidet er ganz gegen die klassische Regel in der Reprise des Kopfsatzes lange die eindeutige Festlegung der Grundtonart. Die Faszination der Musik der sogenannten Neudeutschen Schule um Wagner und Liszt war für Dvořák offenkundig noch keineswegs gebrochen, auch wenn deren Gegner Brahms zu seinen entschiedenen Förderern gehörte.
Ungeheuer expressiv ist der langsame Satz, der ursprünglich Teil der Violinsonate in F-Dur war. Für die integrativen formalen Konzepte, die für Dvořák immer wichtiger wurden, spricht die thematische Verwandtschaft des Scherzo-Themas mit motivischem Material aus dem ersten Satz.
DAS BERÜHMTE »AMERIKANISCHE«
Quartett in F-Dur op. 96
Allegro ma non troppo
Lento
Molto vivace
Vivace ma non troppo
Es hat viel Überredungskraft gekostet, Antonín Dvořák nach Amerika zu locken. Wirklich glücklich war der Komponist dort vor allem in den Sommermonaten des Jahres 1893, nachdem er sich überreden ließ, seinen Urlaub in der tschechischen Kolonie Spillville zu verbringen. Hier fühlte er sich zu Hause und warf in kürzester Frist – von 8. bis 10. Juni – nach einer langen Pause wieder ein Streichquartett, das F-Dur-Quartett aufs Notenpapier. Das Werk sollte als sogenanntes »amerikanisches Quartett« ins Repertoire Einzug halten und zu Dvořáks meistgespieltem Kammermusik-Werk werden.
Dabei tönt es alles andere als »amerikanisch«, ist durch und durch erfüllt vom böhmischen Geist. Wie in der »Symphonie aus der Neuen Welt« aus der selben Phase sind die pentatonischen Themen, die so gern als »amerikanisch« apostrophiert werden, durchaus europäischer Provenienz und ebenso in Böhmen wie in den USA daheim. Angeblich hat das gezwitscher eines Vogels, den Dvořák in Spillville erstmals sah und hörte, die Hauptmelodie des Scherzo-Satzes inspiriert.
Auch eines der Couplets im schwungvollen Final-Rondo, soll unmittelbar der Erfahrung in Spillville zu verdanken sein: Eine Melodie, die Dvořák im Sonntagsgottesdienst der tschechischen Landsleute gehört haben soll.
Im Grunde aber ist das Quartett ein Musterbeispiel für Dvořáks souveränen Spätstil: Das gesamte motivische Material scheint – so unterschiedliche Ausprägungen es auch annehmen mag – aus einem ganz zu Beginn exponierten musikalischen Motiv herauszuwachsen. Ganz nach Franz Liszts Prinzip der fortwährenden Verwandlung arbeitet auch Dvořák in jener Phase konzentriert und ökonomisch – der Meister der späten symphonischen Dichtungen kündigt sich bereits an und entwickelt aus unscheinbaren Keimzellen die unterschiedlichsten Gestalten, deren Varianten oft überraschende Kontraste bilden und dramaturgischen Überraschungen heraufbeschwören.
Motivische Verwandtschaften 1. Satz, 2. Satz und Finale
DAS SUBJEKTIVISTISCHE SPÄTWERK
Quartett in G-Dur op. 106
Allegro moderato
Adagio ma non troppo –
Molto vivace
Finale. Andante sostenuto – Allegro con fuoco
Das G-Dur-Quartett ist das letzte Streichquartett, das Antonín Dvořák veröfentlicht hat. Er hat die Arbeit daran später begonnen als jene am Schwesterstück in As-Dur (op. 105) dessen erste Skizzierung noch vor der Heimreise aus den USA stattfand. Doch war die Komposition von op. 106 früher beendet. Die Reihenfolge, die von den Opuszahlen suggeriert wird, ist trügerisch.
Der erste Satz des G-Dur-Quartetts entstand in der ersten Novemberwoche 1895. In der Folge skizzierte Dvořák den zweiten Satz (20. November) und das Scherzo (25.). Während er diese beiden Sätze in Partitur setzte, entwarf er offenbar auch das Finale, hinter dessen Reinschrift er am 9. Dezember 1895 den Schlußstrich zog, ehe er am zuvor begonnenen As-Dur-Quartett weiterarbeitete.
Die beiden Werke gehören jedenfalls eng zusammen und ziehen die Summe der kammermusikalischen Beschäftigung des Komponisten, weit und symphonisch geatmet, dabei ungemein konzentriert in der motivisch-thematischen Arbeit. Formale Fragen stellen sich für Dvořák längst nicht mehr, vielmehr läßt er dem verspielten Klassizismus des »Amerikanischen Quartetts« (op. 96) nun zwei balladeske musikalische Erzählungen folgen, die klassische Formen nur noch als architektonische Raster nutzen. Der Meister der symphonischen Dichtung kündigt sich an. Die Tendenz war in der Neunten Symphonie (»Aus der Neuen Welt«) schon vorgegeben.
Schon der Kopfsatz des G-Dur-Quartetts verrät die mühelose Verschmelzung von Aussage und Formschema: Der fröhlichen ersten Themengruppe steht ein »Seitensatz« in B-Dur gegenüber, der bereits durchführungsartig Elemente der Begleitfiguren des Hauptthemas verarbeitet und fließend in die Durchführung überleitet, die den kontinuierlichen Verwandlungsprozeß in einem natürlichen musikalischen Fluß weiterführt.
Ganz unorthodox auch der Aufbau des langsamen Satzes. Dieses Adagio ma non troppo (Es-Dur) ist zwar ein Variationssatz, doch verschleiert Dvořák die formalen Nahtstellen auch hier. Für den Hörer finden hier zwei große emotionsgeladene Steigerungswellen statt, die harmonisch weit ausgreifen (Episoden in fis-Moll und C-Dur) und sich schließlich in einem »Grandioso«-Höhepunkt entladen. Diese beiden großen Bögen entwickeln sich eigenständig über die Grenzen der einzelnen Variationen hinweg. Wobei sich wiederum Elemente wie die Begleitformel des Cellos aus Variation I im weiteren Verlauf selbständig machen und zu besimmenden thematischen Elementen werden. Wiederum dient – wie im ersten Satz die »Sonatenform« – das Formmodell Variation nur als grundlegender Raster, über dem sich frei die inhatliche Aussage der Musik entfaltet.
Nur scheinbar simpel nachzuvollziehen ist der Aufbau des Scherzos (h-Moll) mit seinem schwingenden As-Dur-Mitteltel im Scherzo-Teil, der den Charakter eines Seitenthemas in einem Sonatenschema annimmt. Ähnlich hat Dvořák etwa auch den dritte Satz seiner Neunten Symphonie aufgebaut. Auch rhythmisch gewinnt der Satz immer wieder verwirrende Vielfalt, verwandt dem von Dvořák so häufig verwendeten Furiant mit dessen charakteristischen Wechselrhythmen (zweizeitiger 6/8 gegen dreizeitigem 3/4-Takt). Beruhigt-beruhigend der wie von Dudelsack-Bässen begleitete Trio-Abschnitt, der sich gegen Ende zu aber auch auflöst und eloquent zur Scherzo-Reprise führt.
Das Finale ist ein Rondo, in dessen »Couplets« das Seitenthema des Kopfsatzes noch einmal variiert anklingt und in Konfrontation mit dem neuen Material des Finalsatzes gerät. Dadurch spitzt sich das Geschehen dramatisch zu. Das ist Dvořáks Kunstfertigkeit: Die Wiederaufnahme von Elementen des Kopfsatzes schafft thematische Einheit und spant einen formalen Bogen zum Beginn des Quartetts, sorgt aber andererseits für inhaltliche Konflikte und emotionale Aufwallungen, denen erst das entschiedene – und entscheidende – Wieder-Auftreten des Rondothemas ein Ende setzt. Das Werk klingt so fröhlich und scheinbar unbeschwert aus, wie es begonnen hat.
Anläßlich der Wiener Erstaufführung durch das Böhmische Streichquartett im Dezember 1896 befand der strenge Rezensent der Neuen Freien Presse, Eduard Hanslick:
Mir will das As-Dur-Quartett noch einheitlicher, noch frischer und origineller erscheinen; Andere ziehen das in G-Dur vor. An beiden besitzen wir Perlen der neueren Kammermusik.
Quartett in As-Dur op. 105
Adagio ma non troppo – Allegro appassionato
Molto vivace
Lento e molto cantabile
Allegro non tanto
Das Streichquartett in As-Dur entstand nahezu gleichzeitig mit dem G-Dr-Quartett (op. 106) nach der Rückkehr des Komponisten aus Amerika im Jahr 1895. Simrock veröffentlichte beide Werke schon wenige Monate später, 1896.
Das As-Dur-Werk basiert noch auf Entwürfen, die Dvořáks noch in den USA zu Papier gebracht hatte. Den Schlußstrich hinter die Partitur zog er am 30. Dezember 1895, nach Vollendung des später begonnenen G-Dur-Quartetts.
In diesen beiden Werken gebietet der Komponist mühelos über die viersätzige klassische Form und paßt sie auf jeweils originelle Art seinem Ausdrucksbedürfnis an. Der zweite Satz ist wiederum ein tschechischer Furiant, dessen Trio ganz offenkundig motivisch mit der Einleitung zum ersten Satz verwandt ist. Der langsame Satz gehört zu den großen, ausdrucksvollen Instrumentalgesängen in Dvořáks Spätwerk und ist harmonisch von höchster Innenspannung. Originell und ungewöhnlich auch das Finale, in dem Dvořák ein unewartet auftretendes Thema in Ges-Dur einführt, das im weiteren nie mehr wiederkehrt – ein formaler Coup, der sich ähnlich auch im ersten Satz des berühmten Cellokonzerts findet. Im Tonfall ist die Musik durchwegs den Klängen von Dvořáks böhmischer Heimat verpflichtet, in die er trotz seinen amerikanischen Erfolgen dankbar zurückgekehrt war. Er stand am Beginn einer musikalischen Phase, die ihn noch zu erstaunlichen kompositorischen Abenteuern führen sollte, in denen er alle klassischen Form-Bemühungen hinter sich ließ. Nach Symphonien und Streichquartetten schrieb er fürderhin programmatische Tondichtungen und wandte sich schließlich ganz dem Musiktheater zu.
Das As-Dur-Quartett erlebte seine Uraufführung durch das Rosé-Quartett in Wien am 10. November 1896. Es erklang kurz danach auch in den Konzerten des Hellmesberger-Quartetts. Das Rosé-Quartett stellte in jenen Tagen auch das G-Dur-Quartett (op. 106) erstmals in Wien vor, und zwar nur zwei Tage, nachdem die Philharmoniker in ihren Abonnementkonzerten unter Hans Richter erstmals Dvořáks Tondichtung »Der Wassermann« präsentiert hatten.
Das As-Dur-Quartett fand bei seiner Uraufführung freundliche Aufnahme, aber nicht durchwegs begeisterte Aufnahme. Richard Kralik befand, das sei
Musik von halber Energie und daher nur von halber Wirkung.
Sie stieß bei den deutschnationalen Teilen der Presse vor allem wegen es unverkennbar böhmischen Tonfalls auf Kritik, eines Tonfalls, der sich, so einer der Rezensenten
sorglos dem nationalen Fahrwassser überläßt, das sehr klar, aber auch sehr seicht ist.
Kritiker-Papst Eduard Hanslick hingegen befand in der Neuen Freien Presse Genugtuung darüber, daß der Komponist sich in der alten Heimat nach seinem Ausflug in die Neue Welt wieder eingefunden hatte und nun seiner Fantasie offenbar freien Lauf ließ. Auch, so befand der Kritiker,
von den czechischen Motiven scheint sich der Komponist emanzipiert zu haben.
Das Quartett hätte, so Hanslick
ungemein gefallen und wird es noch mehr, wenn einmal Spieler und Hörer sich darin vollkommen heimisch fühlen.
Der Name Wieniawski hat in Geiger-Kreisen einen guten Klang. Tatsächlich gab es zwei polnische Meister dieses Namens, den Pianisten Jozef und den Violinvirtuosen Henryk Wieniawski. Die beiden waren zu Lebzeiten hoch angesehen.
Das Wiener Publikum lernte die Musik des Hamburger Zuwanderers Johannes Brahms vor allem einmal in kleineren Formen kennen und schätzen: Kammermusik wurde auch im Umfeld der Erstaufführung der Ersten Symphonie im Jahr 1876 gegeben: Der philharmonische Konzertmeister Hellmesberger, einer der Brahms-Pioniere in Wien startete zu jener Zeit geradezu eine Brahms-offensive und präsentierte innerhalb kurzer Frist das (für Wien neue) H-Dur-Trio, die Erstaufführung des B-Dur-Sreichquartetts und das längst beliebte Klavierquartett in g-Moll.
Die Streichquartette
Frucht der ersten Wiener Jahre sind die ersten beiden der drei Streichquartette aus Brahms‘ Feder. Diesen Quartett-Zwillingen gesellt Brahms 1875 noch ein B-Dur-Streichquartett hinzu, das er auf der Sommerfrische in der Nähe von Heidelberg entwirft und im Herbst in Wien vollendet. Damit war sein Quartett-Schaffen abgeschlossen.
Das Streichquintett ist der einzige Beitrag des reifen Anton Bruckner zum Kapitel Kammermusik. Oft ist auch behauptet worden, das Werk sei in Wahrheit eine verkappte Symphonie – und doch: Nur weil der Komponist seine unverwechselbaren stilistischen Eigenheiten auch bei diesem Werk für fünf Streicher hören läßt, bedeutet das nicht, daß er eine Art Reduktions-Fassung eines klanglich größer angelegten Werks vorgelegt hätte. Die Komposition ist durchaus kammermusikalisch angelegt. Bruckner betrachtete sie vielleicht nach den immensen Anstrengungen, die ihn die Komposition seiner ersten fünf numerierten Symphonien gekostet hatte – die ja in einem großen Zug bis 1878 entstanden waren, als eine Art künstlerisches Intermezzo.
Bei Richard Wagner ist nichts dem Zufall überlassen. Seine Verehrer freuen sich, wenn er sich in den Meistersingern von Nürnberg selbst zitiert und zu Hans Sachs‘ Worten „Mein Kind, von Tristan und Isolde weiß ich ein traurig Lied“ die Anfangstakte des Tristan erklingen. Doch hat dieses Zitat Methode. Denn Hans Sachs, der Held der Meistersinger, hat tatsächlich selbst ein Tristan-Drama (in sieben Akten!) gedichtet – und läßt es mit moralisierenden Worten – und etlichen Bezügen zu klassischen Autoren – enden:
Herbert von Karajan – Leontyne Price, Ettore Bastianini, Franco Corelli, Giulietta Simionato (Salzburger Festspiele 1962 DG)
Il trovatoreSalzburg 1962 Leontyne Price Franco Corelli Ettore Bastianini
Giulietta Simionato
Leontyne Price Ettore Bastianini Franco Corelli
Giu8lietta Simionato Ettore
Bastianini Franco Corelli Leontyne Price
Leontyne Price Franco Corelli
Wr. Philharmoniker - Herbert von Karajan
Troubadour und Wien – heikle Beziehung
Verdis Troubadour, das war im 19. Jahrhundert der Inbegriff der italienischen Oper, viel gespielt und an Popularität nur für einige Zeit von Gounods Faust übertroffen. Heute ist das Werk einer der „Angstgegner“ von Intendanten, weil es schwierig geworden ist, Sänger zu finden, die der heiklen Mixtur aus höchster Expressivität und artifizieller Stimmbeherrschung fähig sind. Spannend zu verfolgen, wie dieses Werk, allen Vorwürfen einer unverständlichen Handlung zum Trotz, dank seiner musikalischen Aussagekraft auch in Wien sogleich zum Publikumsfavoriten wurde – und lange Zeit den Spielplan beherrschte. Dagegen konnte auch ein mächtiger Kritiker wie Eduard Hanslick nichts ausrichten, dessen ästhetische Vorbehalte ja nicht nur, wie die Fama will, Richard Wagners Werke trafen, sondern auch Verdi. Nach der Erstaufführung des Troubadour konstatierte der Kritiker der Neuen Freien Presse zwar das „intensive Talent“ des italienischen Meisters, hielt ihm aber „künstlerische Roheit“ vor. An „dramatischer Energie“ übertreffe Verdi zwar seine Vorgänger Bellini, Donizetti und Rossini, doch sei er ihnen „als Musiker“ unterlegen und neige vor allem dazu, „gute Anfänge“ stets mit „einem trivialen Satz“ abzuschließen. Solche Vorbehalte hatte das Publikum offenbar nie. Jedenfalls stand das Werk bereits kurz nach der Eröffnung des neuen Hauses am Ring auf dem Hofopern-Spielplan und hielt sich dort so gut wie ohne Pause – in deutscher Sprache.
Die Ära Karajan
Im Zuge der Neubewertung der Italianità in der Oper nach der Landnahme Herbert von Karajans änderte sich auch die Sicht auf den Troubadour. Alles begann mit dem Gastspiel einer Tourneeproduktion, die Karajan mit Maria Callas und Giuseppe di Stefano von Mailand aus unternahm. Donizettis Lucia di Lammermoor stand auf dem Programm – und der Triumph dieser legendären Aufführungsserie sicherte dem Dirigenten die endgültige bedingungslose Hingabe des Wiener Publikums; und den Posten des Staatsoperndirektors, nachdem Karl Böhm von Angriffen gegen seine Person entnervt das Handtuch warf.
In der Folge nutzte Karajan seine Doppelposition – er war auch einer der führenden Köpfe an der Mailänder Scala –, um die Aufführungen italienischer Opern in Wien zu revolutionieren. Ab sofort wurde in Originalsprache gesungen, und die Sänger waren mehrheitlich nicht mehr die Spitzen des eigenen Ensembles, sondern illustre Gäste. Überdies arbeitete man mit den Salzburger Festspielen zusammen, bei denen Karajan einen weiteren Tabubruch beging. Er nahm den Troubadour ins Programm. Das kam einem Sakrileg gleich. Salzburg war die Hochburg Mozarts und von Richard Strauss. Man hatte Verdi zwar für Choryphäen wie Arturo Toscanini oder Wilhelm Furtwängler angesetzt, doch stets waren es Werke, die immerhin auf Stücken Shakespeares oder Schillers basierten. Karajan hatte sich mit dem Don Carlos in diese Reihe gestellt.
Nun aber folgte der ganz und gar nicht „literarische“ Troubadour, dessen Libretto seit jeher Anlass zu Kritik gab. Puristen waren empört, doch Karajan lobte die theatralische Schlagkraft des Stoffs und die Unmittelbarkeit, mit der Verdi als Klangpsychologe die Tiefe von Uremotionen lotet. Das Publikum war glücklich, gingen doch Karajans interpretatorischer Impetus und vokale Gestaltungskünste eine ideale Verbindung ein.
Titelheld Franco Corelli eroberte dank blendender Erscheinung und ebensolcher Klangentwicklung alle Herzen, Leontyne Price war eine hinreißende Leonore. Bald sah man die Produktion auch in Wien – in ähnlicher Besetzung. Der Triumph war so durchschlagend, dass Karajan seine Troubadour-Produktion auch als Auftakt seines legendären Comebacks nach 13 Jahren Wien-Abstinenz wählte. Neben Christa Ludwig und Piero Cappuccilli war wieder die Salzburger Leonore, Leontyne Price, dabei, diesmal an der Seite von Luciano Pavarotti, auf den die Wiener nach seinen ersten Erfolgen ebenfalls lange Jahre hatten warten müssen.
Eklat – Placido Domingo als Retter
Beim Trovatore 1978 kam es zu einem Eklat. Zur Vorbereitung der TV-Übertragung setzte man kurzfristig eine Zusatzvorstellung an, bei der überraschte Staatsopern-Abonnenten in den Genuss einer Karajan-Aufführung kamen. Doch gingen sie im dritten Akt des Tenors verlustig: Franco Bonisolli, der Mann mit dem vermutlich sichersten hohen C der jüngeren Operngeschichte, warf unmittelbar vor der „Stretta“ sein Schwert auf die Bühne und verließ dieselbe. Karajan behielt die Nerven, gab den Auftakt, und Wien erlebte die wohl einzige Verdi-Cabaletta, in der nur das Orchester musizierte und der Chor sang, aber die Solostimme ausblieb. Den Manrico sang zwei Tage später anlässlich der Fernsehausstrahlung Placido Domingo . . .
Karajans Troubadour-Produktion blieb dann noch viele Jahre im Repertoire. Wobei sich mehr und mehr herausstellte, dass vor allem die Titelpartie immer schwieriger zu besetzen war – und die philologischen Ansichten von Interpreten und Opernfreunden über die »Stretta« weit auseinandergingen. Tatsächlich steht das hohe C nicht in Verdis Partitur. Doch erachten Verdianer es als unsportlich, wenn Tenöre darauf verzichten. Diese denken ebenso und lassen die Szene lieber einen Halbton nach unten transponieren. Sie singen ein hohes H – und ernten in aller Regel begeisterten Applaus dafür.
Skandal um István Szabó
Erst Anfang der Neunzigerjahre kam es an der Staatsoper endlich zu einer Neuinszenierung, die freilich in einem mittleren Desaster endete. Nicht, weil der damals neue Direktor Ioan Holender keinen strahlenden Manrico finden konnte in der damaligen Tenornotlage. Aber Filmregisseur István Szabó ließ das Werk im Nachkriegs-Wien spielen, erinnerte mit den Dekors an die zerbombte Staatsoper und die Flaktürme. Dergleichen ist hierzulande nie gut angekommen. So wurden Troubadour-Aufführungen rar, was die Direktoren auch der schweren Aufgabe entband, adäquate Interpreten für den Titelhelden zu finden. Ganz zu vernachlässigen ist ein solches Spitzenwerk für ein Haus wie die Staatsoper aber doch nicht. 15 Jahre nach der letzten Vorstellung des Szabó-Missgeschicks stand dann doch wieder Il trovatore auf dem Spielplan, Roberto Alagna war der Manrico, Anna Netrebko seine Leonora, Ludovic Tézier der Graf Luna und Luciana D’Intino die Azucena, ein luxuriöses Quartett. Marco Armiliator dirigierte, Daniele Abbado hat inszeniert.
Die älteste räsonable Aufnahme läßt uns Maria Callas in einer ihrer größten frühen Leistungen hören: Ihre Abigail setzte Maßstäbe in der Verdi-Interpretation.
Leonie Rysanek in der »Callas-Partie« in einem fulminanten Live-Mitschnitt von der Met.
Thomas Schippers – Cornell MacNeil, Eugenio Fernandi, Cesare Siepi, Leonie Rysanek, Rosalind Elias, Bonaldo Giaiotti, Paul Franke, Carlotta Ordassy (New York, 1960)
Lamberto Gardelli – Tito Gobbi, Bruno Prevedi, Carlo Cava, Elena Souliotis, Dora Carral, Giovanni Foiani, Walter Kräutler, Anna D‘ Auria (Wien, 1965 – Decca)
Die Referenzaufnahme der Interpretation der Titelrolle durch Tito Gobbi, entstanden in Wien. (Philips/Decca)
Das Musterbeispiel einer amibitionierten Studioproduktion mit großen Namen – und unverhältnismäßig geringem dramatischem Effekt. Immerhin: Für den großen Piero Cappuccilli zählt der Nabucco nicht unbedingt zu den zentralen Rollen, er hat sie hier aber doch für die Ewigkeit festgehalten (ein späterer Mitschnitt aus Verona läßt ihn nur noch mit Restbeständen seiner Stimme hören…)
Es stimmt schon: Richard Wagner hat seine Violinen im »Lohengrin« achtstimmig spielen lassen. Das war drei Jahre früher. Und doch: Als im März 1853 im venezianischen Teatro Fenice Verdis »La Traviata« erstmals erklang, ereignete sich ein nicht viel weniger zauberhaftes Klangwunder. Beide Opern, die deutsche und die italienische, heben mit schwebenden, geradezu irrational leuchtenden Klängen an, die auf das Publikum der damaligen Zeit unerhört wirken mußten. Wagner haben die Musikforscher später seine ästhetische Vorreiterrolle nie streitig gemacht. Er war der kühne Entdecker neuer Farben, Formen und Harmonien im Reich der Musik. Aber Verdi?
Der italienischen Widerpart des Bayreuthers hätte in Wahrheit keineswegs als minder fortschrittlich, minder aufgeschlossen, minder zukunftsweisend in die Geschichte eingehen dürfen. Freilich: Die Simplizität, deren er sich des öfteren befleißigt, die ungenierte Melodienseligkeit, die seine Musik über weite Strecken auszeichnet, sie übertünchen das Revolutionäre, das selbst in populärsten Opern, wie eben die »Traviata« eine darstellt, auszumachen ist. Verdis Größe liegt in der Vereinigung von allgemeinverständlicher Theatralik und der Auslotung von Grenzwerten. Daß das Hand in Hand gehen konnte, ist das Wunder.
Und die Zeitgenossen mußten wirklich nicht auf das sogenannte Spätwerk warten, bis der Meister über seine Mittel dermaßen souverän gebot, daß er scheinbar Unvereinbares zu einen wußte. Nicht erst »Otello« sprengt alle Grenzen. 1847 hat in Florenz »Macbeth« Premiere, ein Stück unverfrorener musikalisch-theatralischer Drastik, das fast 100 Jahre warten mußte, bis es in Alban Bergs »Wozzeck« ein ebenbürtig realistisches, auf keine Opernetikette Rücksicht nehmendes Pendant erhielt. Tatsächlich: Auch Verdi hat sich nie wieder so weit in anarchische Gefilde vorgewagt: »Überhaupt nicht gesungen« soll werden, kommentierte der Komponist selbst vor der Uraufführung. Und die Lady Macbeth soll eine »rauhe, erstickte, hohle« Stimme haben! Alles ist Ausdruck, die schöne Melodie, der »Belcanto«, wie er im Buche steht, hat ausgedient.
»Mord am Belcanto«
Verdi, der Mörder des traditionellen Schöngesangs, so mochten ihn manche Kommentatoren seiner Zeit gesehen haben. Tatsächlich klafft ein schier unüberwindlicher Graben zwischen der poetischen Linienführung eines Bellini und den verhalten flüsternden, ja röchelnden Dialogen des mörderischen Paares aus der Werkstatt Shakespeare/Verdi. Die Stimme hat in »Macbeth« eine neue Aufgabe bekommen. Die gewonnenen Farbwerte waren zwar danach nicht allgegenwärtig. Aber sie waren da, bereit, im rechten Moment eingesetzt zu werden. Der musikalische Expressionismus hebt an. Daher ist der Vergleich mit Berg gewiß nicht zu weit hergeholt. Ärgere Zumutungen an die Stimmen seiner Darsteller als Verdi im »Macbeth« wagt der Wiener Opernmeister anno 1925 kaum.
Welche Metamorphose! Noch Rossini hat wenige Jahre vor Verdis ersten Erfolgen den spätbarocken Ziergesang aus den Opernhäusern zu verbannen versucht. Mühevoll und langsam sollte ihm das gelingen. Bellini hat dann eine neue Schlichtheit _ und damit mehr Wahrhaftigkeit des Ausdrucks _ eingebracht. Statt virtuoser, zirkusreifer Artistik dominierte plötzlich die ausdrucksvolle Vokallinie: Belcanto, Singen als Akt menschlicher Seelenbespiegelung. Auf den sorgsam modellierten, ausdrucksreichen Gesang war man denn auch eine Zeitlang voll konzentriert. Alles andere hatte dahinter zurückzutreten: das Orchester, versteht sich, vor allem aber auch die musikalische Architektonik.
Ein Schema und die Revolution
Den großen Vorgängern Verdis genügte ein verhältnismäßig dürftiges formales Gerüst. Seit Rossini dominiert auf den Opernbühnen das Schema der Aneinanderreihung solistischer und duettierender Szenen: Kontemplation, Aktion/Entschluß, Aufbruch _ dargestellt in Arie (Cavatina), Rezitativ und Cabaletta (Stretta). Der junge Verdi übernimmt das zunächst willig, zerstückelt es aber im ersten günstigen Augenblick seiner dramaturgischen Revoltierlust zuliebe. Bis hin zu Manricos großer Szene im Finale des dritten Akts des »Troubadours« kennt er die beschriebene »Doppelarie«, die den Helden ausreichend Gelegenheit gab, all ihre Kunstfertigkeiten in den Dienst der jeweiligen Handlung zu stellen: Besinnung, gefolgt von wildem Aufbegehren. Schon im Frühwerk sprengt Verdi jedoch den Schematismus, fügt kurze Ariosi in den Handlungsverlauf ein, wo es nötig scheint, und bringt die Primadonna hie und da auch um ihren wohlverdienten Schlußapplaus, indem er die Cabaletta einfach kappt. Ein Werk wie der »Don Carlos«, erstmals in Paris 1867 präsentiert, kennt überhaupt keine Schablonen mehr. Hier bewegt sich ein freier Geist ungezwungen, um eine der sensibelsten tönenden Psychoanalysen der Musikgeschichte zu entwerfen. Der Titelheld darf gerade einmal eine kurze Arie singen, wird aber im übrigen ausschließlich als singender Gegenspieler aller anderen Akteure präsentiert, muß sich vokal am freundschaftlichen Entgegenkommen eines Baritons, den gehauchten Pianissimi einer Sopranistin und dem wilden Gefauche eines erzürnten Mezzosoprans messen.
Menschliche Beziehungen
Es ist Verdis Detailarbeit in diesen musiktheatralisch demonstrierten zwischenmenschlichen Beziehungen, die »Don Carlos« zum innovativen Musikdrama macht. Wenn Carlos und Elisabeth über ihre verlorene Liebe räsonieren, scheint jede Anlehnung an klassische Duettkünste verpönt. In ganz wenigen Momenten übernehmen die beiden singenden Menschen Motive voneinander. In der Regel wechseln die musikalischen Themen alle paar Takte, stehen disparate Versuche, zusammenhängende Melodien zu gestalten, unverbunden nebeneinander. Die Zerrissenheit wird zur künstlerischen Form. Moderner hat Gegenspieler Wagner, immer bedacht auf die »unendliche Melodie«, nirgendwo komponiert.
Auch die Instrumentationskunst Verdis ist fabelhaft und von den diesbezüglichen Zauberkunststücken des Bayreuthers qualitativ nicht zu unterscheiden. Die erwähnte frappante Ähnlichkeit der klanglichen Vision in den Anfangstakten des »Lohengrin« und der »Traviata« beweist das ebenso klar wie etwa die zukunftsweisend kühne Aufsplittung der tiefen Register. Welch ein Effekt, wenn Rigoletto dem Sparafucile den Mordauftrag erteilt! Zwei tiefe Männerstimmen, ein Quartett aus vier Bratschen und einem Cello als Harmonieträger, dazu je ein solistisches Cello und ein Kontrabaß, denen die Melodie über den pochenden Rhythmen der übrigen Celli und Bässe zugeteilt wird.
Dann wieder himmlische, ätherisch abgetönte Holzbläsersätze, zu denen sich der späte Verdi nach den blechgeschwängerten Bandaklängen der frühen Opern immer wieder aufschwingt. Der Auftritt der Amelia in »Simone Boccanegra«, die Beschwörung der Geisterwelt durch Nanetta im letzten Bild des »Falstaff« _ da ereignet sich, lange vor dessen verbriefter Erfindung, erstmals echtester Impressionismus. Verdi konterkariert solche verzückten Passagen gern und immer wieder mit jähen Einbrüchen, setzt filmisch harte Schnitte, überrumpelt den Hörer immer wieder, indem er ganz bewußt Erwartungen zuwiderhandelt, scheinbar logisch entwickelten Abläufen mittendrin eine unerwartete Wendung verleiht. Oberstes Gesetz: die dramaturgische Wahrhaftigkeit.
Der erste »Cluster«
Selbst scheinbar Äußerliches wird Introversion. Ist es der Wind, der pfeift, wenn der Chor mit geschlossenem Mund im Finale des »Rigoletto« summt _ oder doch eher ein weiteres drastisches Detail in der klingenden Psychoanalyse der Figuren? Der Sturm, der zu Beginn des »Otello« tobt, klingt vollends wie eine Klang gewordene existentielle Erfahrung. Da schwingt Tiefes mit _ technisch gesprochen übrigens auch ein Orgelbaß aus drei nebeneinander liegenden Halbtönen, die eine klare tonale Zuordnung der Musik vereiteln. Der erste Cluster der Musikgeschichte vielleicht, auch ein viel später »erfundener« Topos der Avantgardemusik. Verdi setzt ihn ein als brachiales Ausdrucksmittel.
Brachial und irritierend: Als ein Dirigent Mitte der achtziger Jahre darauf bestand, daß seine Otello-Aufnahme diesen dumpf dissonierende Kunstgriff Verdis ungeschminkt hören lassen müsse, reagierten die Testhörer der LP-Probepressung verstört und bombardierten die Konzernleitung mit Meldungen eines vermeintlichen Fabrikationsfehlers: Da störe ein fortwährendes Brummgeräusch die gesamte erste Szene, hieß es.
Daß Verdi sein Publikum noch 100 Jahre nach der Uraufführung dieser Oper zu verstören imstande sein würde, hätte ihn selbst diebisch gefreut. Daß Auditorien in aller Welt seine Musik heute in kleinen und großen Opernhäusern, in Arenen und Fußballstadien wie sanft plätschernde Unterhaltungsmusik konsumieren, würde vermutlich kaum seine Zustimmung finden. Außer es konfrontierte ihn ein Impresario mit der Meldung, die Vorstellungen seien allesamt ausverkauft. Der Kassenrapport war zeitlebens die einzige Instanz, die er wirklich anerkannte. Jedenfalls so lange, bis eine Lady Macbeth dem billigen Erfolg zuliebe allzu schön gesungen hätte . . .