BRUCKNERS SYMPHONIEN
Wieviele Symphonien hat Anton Bruckner komponiert? Neun, werden Sie sagen, wobei der Neunten das Finale fehlt. Aber es gibt ganz andere Zählweisen.
Kenner wissen, dass der Komponist selbst eine frühe d-Moll-Symphonie als „Nullte“ gezählt hat. Das schafft Verwirrung, denn das Stück entstand zwischen der Linzer Fassung der Ersten und den ersten Skizzen für die Zweite Symphonie.
Und apropos „Fassung“: Von einigen der Bruckner-Symphonien gibt es zwei, drei oder sogar mehr verschiedene Versionen. Diese Versionen unterscheiden sich oft stark voneinander; so liegen von der Richard Wagner gewidmeten Dritten drei Fassungen vor. Und die Vierte, die sogenannte „Romantische“, kam mit einem Scherzosatz zur Welt, der gar nichts mit dem berühmten „Jagdscherzo“ zu tun hat, dem die Es-Dur-Symphonie ihre große Beliebtheit verdankt. Das neue, populär gewordene Scherzo kam erst nach skrupulösen Überarbeitungsvorgängen hinzu und ersetzte den zunächst vorgesehenen, recht zerklüfteten, bizarren dritten Satz. Die Neukomposition sicherte der Vierten großen Zuspruch seit ihrer ersten Aufführung – aber unter Preisgabe des motivisch-thematischen Zusammenhangs zwischen den vier Sätzen.
Kompromisse
Bruckner war scheinbar unendlich kompromißbereit, wenn es darum, ging, seinen Werken Aufführungsmöglichkeiten zu erschließen. Manche seiner Schöpfungen hat er nie hören können - die Fünfte zum Beispiel kam zu seinen Lebzeiten nur im Klavierauszug zur Aufführung, von der sechsten erklangen nur die Mittelsätze. Und die Siebente war die einzige, die 1884 in Leipzig unter Arthur Nikisch ohne große Korrekturen in ihrer Urgestalt zur Aufführung kam und sogleich ein umjubelter Erfolg wurde.
Die Probleme der Bruckner-Rezeption lagen weniger am ignoranten Publikum, das mit den kühnen Visionen des Komponisten wenig anfangen konnte, sondern an den Interpreten, die den formal extrem geweiteten Prozessen dieser Werke hilflos gegenüberstanden und auf "Klärungen" drängten.
Zwei Versionen der Achten
So mußte die Partitur der Achten Symphonie nach Ablehnung der Partitur durch den Dirigenten Hermann Levi kräftig revidiert werden, bevor man sich zur Uraufführung entschloß.
Diese Premiere am 18. Dezember 1892 unter Hans Richter im Wiener Musikverein wurde zwar Bruckners größter Triumph, doch unter Preisgabe einiger entscheidender struktureller Eigenschaften der Urfassung.
"Todesverkündigung"
Vor allem schloß der erste Satz ursprünglich mit einer exuberanten C-Dur-Coda in strahlendem Fortissimo. Diesen affirmativen Schluß, der die Conclusio des Finales vorwegzunehmen schien, strich der Komponist für die Uraufführungs-Version, sodaß der erste Satz der Achten nun nach der überwältigenden „Todesverkündigung“, bei der nur noch der Rhythmus des Hauptthemas von den Blechbläsern mit höchster Gewalt über Paukenwirbeln skandiert wird, mit der berühmten „Totenuhr“ leise verdämmert.
Diese bildlichen Assoziatonen stammen übrigens von Bruckner selbst, der oft erstaunlich naiv anmutende → programmatische Anmerkungen zu seinen Werken gemacht hat. Auch im langen Adagio, das an dritter Stelle steht, nahm Bruckner Veränderungen vor; vor allem strich er vier der ursprünglich sechs Beckenschläge am ekstatischen Höhepunkt der Symphonie.
Die Urfassung dieser Stelle gehört zu den wildesten Bruckner-„Szenen“ und rückt die Symphonie in ihrer Aussage eher in die Nähe opernhafter („tristanesker“) Liebesszenen als in die diesem Komponisten stets zugebilligte religiöse Sphäre.
Ringen um die Neunte
Bemerkenswert ist diesbezüglich die folgende Neunte Symphonie, die vom gläubigen Katholiken Bruckner tatsächlich „dem lieben Gott“ gewidmet wurde (die Achte war dem Kaiser Franz Joseph zugeeignet). Und trotz dieser „himmlischen“ Assoziationen umkreist die Neunte die Atmosphäre von Wagners „Tristan“, scheint wie magisch fixiert vom „Tristan-Akkord“, der im ersten Satz umschrieben, im zweiten dann wie in einem Satyrspiel grotesk-beängstigend beschworen wird. Das Adagio der Neunten hebt dann mit einer tonal inis äußerste Extrem geweiteten Paraphrase des Tristan-Beginns an. Das Seitenthema steht in der Tonart des „Tristan“-Duetts, As-Dur, während die drei Wellen des Hauptthemas ihre Grundtonart (E-Dur) überhaupt nicht finden, sich vielmehr immer weiter vom harmonischen Zentrum entferne und in eine ausweglose Situation zu geraten scheinen: Am Höhepunkt bricht die Musik in einer grellen Dissonanz jäh ab. Ein „Durchbruch“ zu neuen Bewußtseinsregionen? In der Folge bereitet eine milde Kadenz die zarte Vision des E-Dur-Dreiklangs vor, mit der dieser gewaltige Satz nach einem Zitat des Hauptthemas der Siebenten Symphonie in den Hörnern ausklingt.
Dieser Verklärung sollte ein dramatisches Finale folgen, an dessen Schluß Bruckner nach eigener Aussage die
Themen aller Sätze übereinanderschichten wollte. Er konnte die Symphonie nicht
vollenden.