Die »Nullte«
...entstanden nach der »Ersten«!Die von Bruckner selbst stammende »Zählung« ist irreführend. Die letzten Arbeiten an der Partitur dieser d-Moll-Symphonie schloß der Komponist ab, als die offizielle Erste Symphonie längst vollendet war. Dennoch wollte er sie nicht gelten lassen. Erst 1924 erklang das Werk zum ersten Mal. Und doch enthält es viel vom liebgewordenen Bruckner-Klang und Bruckner-Stil.
Manche Passagen verraten sogar, warum der Komponist davon absah, das Werk zu numerieren: So sind Teile der Coda des ersten Satzes in ihrer Struktur nahezu deckungsgleich in der entsprechenden Passage der Dritten (in der selben Tonart) zu finden - nur, daß das prägnante Hauptthema hier noch fehlt.
Auch der Dritte Satz wirkt wie eine Vorahnung späterer Scherzo-Sätze und ist jedenfalls nah verwandt mit dem gleichzeitig entstandenen Parallel-Satz der Ersten.
Im Finale vernimmt man - vor allem im Seitensatz - Töne, die Bruckners Herkunft von Schubert überdeutlich werden lassen.
Einige Bruckner-Gesamtaufnahmen enthalten auch diese nicht numerierte Symphonie; Georg Solti oder Daniel Barenboim haben sich der »Nullten« angenommen. Klanglich am schönsten und spürbar liebevoll gelang die Aufnahme durch → Bernard Haitink und das Concertgebouw Orchester.
Christian Thielemann erklärt
20. März 2021
Christian Thielemann wäre dieser Tage als künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele im Dauereinsatz gestanden. Die Veranstaltungen des Festivals wurden nun aus bekannten Gründen auf die Zeit um Allerheiligen verschoben. Da wird es ein Wiederhören mit Thielemanns Sächsischer Staatskapelle Dresden in Salzburg geben. Weil aber nun nicht nur er, sondern auch die Wiener Philharmoniker geplante Aktivitäten absagen mussten, ist Thielemann doch nach Österreich gereist. Bereits vor Kurzem gab es einen eingeschobenen Aufnahmetermin im gemeinsamen Bruckner-Zyklus. Nun geht es in der Karwoche noch einmal um dieses Großprojekt.
Erstmals nehmen ja die Philharmoniker mit ein und demselben Dirigenten alle Bruckner-Symphonien auf. „Und zwar wirklich alle“, sagt Thielemann. „Das heißt nicht neun, sondern elf!“ Die gewonnenen Termine nützt man nämlich, um auch die sogenannte Studiensymphonie in f-Moll und die Nullte in d-Moll einzuspielen. Das ist eine weitere Premiere für die Philharmoniker, die diese Werke nicht in ihrem Repertoire haben.
Schon anlässlich der Aufnahme der Ersten Symphonie vor einigen Wochen konnte Thielemann konstatieren, dass „dieses meisterlichste aller Bruckner-Orchester das Stück so gut wie gar nicht kannte. Man hat die Erste das eine oder andere Mal gespielt, aber zwischen diesen Aufführungen vergingen immer Jahrzehnte.“
Dissonanzen logisch klingen lassen
So kam es anlässlich der Einstudierung zu dem kuriosen Faktum, dass sich im Notenmaterial der Wiener Philharmoniker bei einer Bruckner-Symphonie zahlreiche Fehler fanden. Aber nicht alles, was seltsam klingt, ist einem Druckfehler anzulasten. „Es gab Stellen im Finale“, erzählt Thielemann, „da dachten die Bläser, irgendein Kollege spiele da falsch“, weil sich höchst ungewohnte Dissonanzen ergaben. Das hatte allerdings mit eigenwilligen harmonischen Vorstellungen Bruckners zu tun. „Das sind ganz komplizierte Akkordfolgen“, erläutert der Dirigent, „bei denen ein Vorhalt sozusagen in den anderen mündet.“
Solche Stellen aufzulichten und logisch klingen zu lassen, erfordere heikle Balancearbeit, die auch mit der Tempodramaturgie zu tun haben: „Man darf da nicht zu schnell sein, das haben wir dabei gelernt. Wir haben das Tempo ein wenig gedrosselt, dann klang es wunderbar!“ Der gemeinsame Lernprozess in Sachen Bruckner erreicht nun mit der Einstudierung der beiden Frühwerke einen neuen Höhepunkt.
Wobei die Nomenklatur irritierend wirken kann, denn sie spiegelt keineswegs die historische Realität wider. Thielemann: „Man sollte sich da etwas überlegen bei der Nummerierung dieser Symphonien: Die sogenannte Nullte ist nämlich in Wahrheit nach der Ersten entstanden. Bruckner fand sie dann aber nicht geeignet, um in den Kanon seiner offiziellen Werke aufgenommen zu werden. Dennoch ist er aber daran gegangen, eine vollgültige Symphonie zu schreiben. Das sollte man nie vergessen.“
Das gelte auch für die „sogenannte Studiensymphonie, die Bruckner dann auch nicht mehr wollte, die aber doch ein sehr gutes Scherzo hat und insgesamt ungebremst dahinstürmt“. Musikfreunde könnten da ihre Assoziationsgabe testen: „Das ist Musik, die hie und da nach Mendelssohn klingt, hie und da auch nach Beethoven, dann wieder irgendwo zwischen Marschners ,Hans Heiling' und Wagners ,Fliegendem Holländer' angesiedelt ist. Auch Cherubini kann man vielleicht entdecken, ein bisschen ,Medea'. Sogar Verdi kommt vor! Bruckner hat ja viele Opern zumindest aus den Klavierauszügen gekannt.“
Freilich: „Im langsamen Satz gibt es schon Partien, wo man sagt: Das klingt aber jetzt nach Bruckner. Das würde man auch sagen, wenn man nicht wüsste, dass die Musik tatsächlich von Bruckner ist.“
Salzburg profitiert
Bei der „Nullten“ kann es dann kaum noch Zweifel geben. „Da atmet schon die Dritte vor“, sagt Thielemann, „also die Nummerierung der Symphonien müsste eigentlich wie folgt sein: (Eins) für die f-Moll, Eins, (Zwei) für die d-Moll, bei der von Null keine Rede sein kann, und dann Zwei, Drei und so weiter.“ Bei dieser Zählung sind allerdings die verschiedenen Fassungen der nummerierten Symphonien noch nicht berücksichtigt, die sich ja zum Teil drastisch unterscheiden.
In der Vierten fehlt etwain der Urfassung noch das berühmte „Jagdscherzo“, das die Symphonie so populär gemacht hat. „Wer weiß“, sagt Thielemann, „wenn wir mit den elf Aufnahmen durch sind, nehmen wir vielleicht noch die eine oder andere Alternative auf.“ Einstweilen sind die Philharmoniker und er aber noch mit der Vervollständigung der geplanten Aufnahmen beschäftigt. Davon profitieren auch die Hörer bei den Salzburger Festspielen, wo heuer die Siebente und im kommenden Jahr die Neunte auf dem Programm stehen sollen. „Die Sechste spielen wir kommende Saison im Abonnement“, verrät der Dirigent und hofft dabei, wie alle Musikfreunde, auf eine rechtzeitige Normalisierung des Kulturlebens.
Wobei er der derzeitigen Situation durchaus positive Aspekte abgewinnen kann: „Wir haben jetzt viel mehr Zeit zum Probieren“, sagt er, „was vor allem bei Stücken wichtig ist, die das Orchester so gut wie gar nicht kennt. Überall bei Bruckner finden sich ja äußerst heikle Passagen, wie die geschilderten harmonischen Abenteuer in der Ersten, aber auch vertrackte Geigenstellen.“
Ohne Pandemie wäre wohl auch nicht die nötige Zeit zur Einstudierung der beiden nie gespielten Frühwerke Bruckners vorhanden gewesen: „Da heißt es schnell studieren, „Turbo-lernen“, sozusagen. Man muss das ja auch noch verdauen, ehe man ans Werk geht!“