Anton Bruckner

Ein Heiliger der Musik,
den man nicht in den Dom verbannen darf

»Geselchtes mit Kraut und Knödel« aßen die beiden Herren gern. Es war das einzige, wo sie sich einig waren, der Sonderling Anton Bruckner und der Weltbürger Johannes Brahms . . .

Vom einzigen Treffen der beiden Antipoden in Wien wird berichtet, daß die Wünsche von der Speisenkarte identisch waren. Für Brahms schien Bruckner im übrigen suspekt; ein Mystiker mit dem Hang zu aberwitzig ins Gigantische verwandelten chthonischen Ländlerklängen. Als wollte er musikalische Brücken bauen zwischen dem Unzulänglichen und dem Göttlichen.

Das Unberührbare

War nicht das Unberührbare, hier wie dort, Bruckners Thema?
Das ganz Gewöhnliche und das Jenseitige?

»Halb Genie, halb Trottel« . . .
so urteilte ein Zeitgenosse;
und das war weniger böswillig als es uns heute scheint, traf eher ins Schwarze der damaligen Anschauungen.
Die Frage ist nur, ob sich an der Ratlosigkeit gegenüber Bruckner bis heute Substantielles geändert hat.

Aufklärung für New York

Blick über die Grenzen: Angelsächsische Länder sehen es bis heute nicht gern, wenn ein mitteleuropäisches Orchester mit Bruckner-Symphonien im Gepäck auf Reisen geht.
Sibelius steht nach wie vor weit höher im Kurs.

Die Wiener Philharmoniker kamen noch Ende des vorigen Jahrhunderts mit Bauchweh in die New Yorker Carnegie Hall, wenn sich der Dirigent ein Werk wie Bruckners Fünfte ausgesucht hatte -- die Symphonie mit dem kompliziertesten Finale, das Bruckner vollendet hat. Auffürungen eines solchen Werks sind immer noch beinahe unter die Rubrik »Aufklärungsarbeit« zu reihen.
Mit der kühnen Architektur dieses Riesensatzes der B-Dur-Symphonie wurde man noch Jahrzehnte nach Bruckners Tod sogar in unseren Breiten gar nicht fertig. Hans Knappertsbusch, wiewohl ein Bruckner-Exeget von eminentem Rang, strich in seinen Aufführungen regelmäßig einen Teil dieses Finalkolosses weg!
Heute spielt man das Werk natürlich längst ganz.

Urfassungen, noch rätselhaft

Ob man es besser spielt, ist sehr die Frage. Philologischer Ehrgeiz geht nicht immer Hand in Hand mit tiefem Verständnis.
Hat man sich doch auch an die ungeglätteten Originalfassungen der Partituren gewöhnt, keineswegs aber an die Urfassungen!
Nur jene Versionen der Symphonien, die Bruckner nach heftiger Kritik seiner Zeitgenossen als Kompromißlösungen zwischen seinem Wollen und dem Geschmack seiner Ära angefertigt hat, genießen den Sanctus der Konzertveranstalter.

Als Roger Norrington beim Linzer Brucknerfest einmal die Erstfassung der Dritten vorstellte, herrschte angesichts der kühnen Volten, jähen Schnitte, krassen Gegensätze spürbar Ratlosigkeit im Auditorium.
Und das in Zeiten der in ihrem Verwandlungstempo durchaus verwandten Videoclips! Vielleicht hören die falschen Auditorien Bruckner, könnten die Kids, die auch »Ulysses« wie einen Comicstrip lesen, ihn spielender durchschauen?
Bruckners Musik ist auch für scheinbar längst Eingeweihte noch zu entdecken.

Gottesfurcht und Erotik

Wegweiser könnten etwa die verzehrenden »Tristan«-Harmonien der Neunten Symphonie sein, die zwar »dem lieben Gott« gewidmet ist, aber für jeden, der Ohren hat zu hören, auch menschlich-allzumenschliche Dimensionen wagemutig einschließt.
Wer Bruckner in den Dom verbannt, reduziert seine Kunst just auf jene einzige Qualität, der der Zeitgeist eine lange Nase drehen zu müssen glaubt.

So wären wir zwei Jahrhunderte nach seinem Geburtstag weiter von Bruckner entfernt denn je und leugneten die Dringlichkeit, mit der seine Musik von uns selber redet!
Bruckner, richtig gehört, könnte tatsächlich Brücken bauen. Von dem, was uns ganz nah scheint, zu dem, was weniger fern als verdrängt auf Wiedererweckung wartet.
Daß nur die Vereinigung von beidem wahre Harmonie ergibt, wäre die Lehre.

↑DA CAPO