Das Finale von Bruckners Neunter
Wieviel wissen wir vom fragmentarisch erhaltenen Finale der Neunten Bruckner?
Aus Gesprächen mit dem Herausgeber der Gesamtausgabe, Herbert Vogg, und dem "Vollender" einer Spielfassung des Finalsatzes, → Benjamin-Gunnar Cohrs.
Seine Neunte Symphonie wollte Anton Bruckner "dem lieben Gott" widmen. Und er meinte: Der Schopfer
musse ihm halt Zeit genug lassen, um das, was ihm ganz gehören sollte, zu Ende reifen zu lassen.
Es sollte nicht sein. Bruckners Neunte ist als Torso überliefert, gilt als die große "Unvollendete" nach Schubert. Wie im Falle dieses Vorbilds, ranken sich auch um die mögliche Fortsetzung von Bruckners Neunter Mythen und abenteuerliche Spekulationen.
Es mangelt auch nicht an Versuchen, aus dem Wust an überlieferten Skizzen und Aufzeichnungen eine Spielfassung des Finalsatzes herzustellen. Vor allem die italienischen Komponisten Giuseppe Mazzucca und
Nicola Samale hatten sich bis 1996 als "Vollender" hervorgetan und immer wieder neue Revisionen ihrer
Auffuhrungsversion präsentiert.
Das war, wissenschaftlich betrachtet, stets ein dubioses Unterfangen, zumal die von Alfred Orel schon 1934 herausgegebenen "Skizzen und Entwurfe" keinen wie immer gearteten konkreten Bauplan erkennen ließen, der eine auch nur schattenhafte Andeutung von Bruckners Willen ermoglicht hatte. Leopold Nowak, langjahriger
Herausgeber der Bruckner-Gesamtausgabe im Wiener Musikwissenschaftlichen Verlag, hatte zwar an einer kritischen Betrachtung zu Orels Publikation gearbeitet, diese aber nie veroffentlicht.
Eine penible Aufarbeitung aller Quellen wurde auch dadurch erschwert, daß Kuriositatensammler nach
Bruckners Tod Bogen aus dem Manuskript entwendet haben. Teile der wertvollen Handschrift sind bis heute
verschollen.
Dadurch erhielten Spekulationen über die tatsächliche Gestalt des Finalsatzes, mit dem Bruckner sein Lebenswerk krönen wollte, noch mehr Nahrung. Mit John A. Philipps trat vor einigen Jahren aber ein Musikologe auf den Plan, der aus den Kompositionsversuchen der italienischen Bruckner-Verehrer Mazzucca und Samale die Konsequenzen zog und sie wissenschaftliche Glaubwürdigkeit untersuchte.
Eine vollige Umwälzung des historischen Bildes war die Folge. Die vorhandenen Skizzen und Fragmente
Bruckners - immerhin liegen einige Teile des Schlußsatzes fertig instrumentiert vor! - wurden neu gesichtet,
geordnet und so gereiht und aussortiert, wie sie vermutlich zu jenem Zeitpunkt vorlagen, als Bruckner, geschwächt von seiner Arbeit an der Zweitfassung der Achten und von seiner Krankheit, zu komponieren aufgehort hat.
Diese Version schien Herbert Vogg, Nowaks Nachfolger, glaubwurdig genug, um ihn als Zusatzband in die Gesamtausgabe aufzunehmen. Dieser Band liegt seit einigen Monaten vor und konfrontiert Musikfreunde mit einem gewaltigen Satzbeginn, der kuhne - und von Bruckner tatsachlich als endgultig betrachtete - Musik enthalt, der aber auch vieles relativiert, was von den selbsternannten "Vollendern" zuletzt als "Spielfassung" angeboten wurde.
Vogg sieht in den Versuchen Samales und Mazzuccas immerhin die Initialzundung: "Ohne sie ware die jetzt vorliegende Partiturausgabe nicht zustande gekommen; wenngleich ich es auch abgelehnt habe, die nicht von Bruckner stammenden Passagen der Spielfassung abzudrucken. Was wir vorgelegt haben, ist auf Punkt und
Komma von Bruckner geschrieben."
Was folgt: Eine Faksimile-Ausgabe von effektiv allen Notenblättern, die erhalten sind, auf denen Bruckner Skizzen und Entwurfe zum Finale der Neunten notiert hat. Sie ist im Druck und soll noch im ersten Halbjahr 1996 in den Handel kommen. Dann liegt nicht nur der sauber edierte Final-Band der Gesamtausgabe vor, der den vermutlichen "Endstand" der kompositorischen Arbeit festhalt, sondern ein Nachschlagwerk für Interessenten, die alles einsehen mochten, was von Bruckners Hand je zu seinem letzten Symphoniesatz existierte - und nicht in den Sammlungen privater Souvenirjäger gelandet ist.
Fazit des Verlegers: Der Traum von der moglichen Herstellung einer
glaubwurdigen Spielfassung des Finalsatzes der Neunten Bruckner sei damit ausgetraumt. Fur penible Dirigenten ergibt sich immerhin die Moglichkeit, den Satz einmal soweit auszuprobieren, wie Bruckner ihn tatsachlich vollenden - oder zumindest halbwegs klar seinen Verlauf festlegen - konnte.
Eine solche Auffuhrung könnte, so Herbert Voggs Vorschlag, einmal vor einer Darbietung der drei vollendeten Satze stattfinden. Zur Information der Hörer. Die Neunte klänge dann, wie gewohnt, mit dem herrlichen Adagio
aus, dem glaubwurdigsten Brucknerschen Schlüssel zu jenen Regionen, zu denen er vordringen wollte - seinem Widmungstrager entgegen.
Nikolaus Harnoncourt hat diesen Vorschlag des Verlegers wenig später realisiert, unter anderem mit den Wiener Symphonikern in Wien und mit den Philharmonikern in Salzburg.
Die Salzburger Aufführung wurde mitgeschnitten und liegt als Tondokument auf CD vor.
Gespräch mit dem "Vollender"
Eine ganz andere Sicht der Dinge vertritt natürlich Benjamin Gunnar Cohrs, der im Verein mit zwei italienischen Wissenschaftlern eine Spielfassung des Finales hergestellt hat, die vor allem von Sir Simon Rattle propagiert wurde.
Im Gespräch rechtfertigt sich Cohrs damit, daß von Mozarts Requiem, das kaum je als Fragment aufgeführt wird, beim Tod des Komponisten weniger vorlag als von diesem Bruckner-Satz. ↓
Es ist bekannt, dass am Todestag Anton Bruckners auf dem Schreibtisch in der Wohnung des Meisters ein Notenkonvolut lag, das weitaus umfangreicher war als jenes, das die Österreichische Nationalbibliothek heute als Nachlass aufbewahrt. Es ist evident, dass eine ganze Reihe von Partiturbögen von Reliquiensammlern entwendet wurde. Seither grübelt die Musikwelt über der Frage, wie viele Blätter das waren - und wie viel vom Fragment gebliebenen Finalsatz rekonstruierbar sein könnte, wenn man die geraubten Handschriften wiederfände.
Der Schubert- und Bruckner-Forscher Benjamin-Gunnar Cohrs meint, ziemlich viel. Er hat im Verein mit Nicola Samale bereits mehrere Spielfassungen eines "vollendeten" Finales publiziert. Basierend auf den Vorarbeiten zweier weiterer Musikologen gelang unter Auswertung sämtlicher Quellen und auf Basis eines genauen Studiums von Bruckners spätem Kompositionsstil ein für viele Kommentatoren glaubwürdig klingendes Resultat.
Wie viel ist dabei tatsächlich von Bruckner, wie viel von Samale, Phillips, Cohrs und Mazzuca? Cohrs im Gespräch mit der "Presse": "Das kann man nicht einfach mit einer eindeutigen Zahl von x Prozent beantworten. Die Exposition des Satzes war schon völlig fertig instrumentiert, der weitere Verlauf bricht erst kurz vor dem eigentlichen Satzschluss ab. Im horizontalen Verlauf waren etwa 15 Prozent zu ergänzen; die Vertikale wird aber immer dünner, sodass der Anteil der ergänzten Instrumentierung bis zum Schluss hin immer mehr zunimmt."
Wobei der Schluss des Werks, in dem Bruckner wie in den früheren Symphonien auch quasi eine Summe aus allem Vorangegangenen gezogen hätte, vollständig fehlt. Im Verlauf des Satzes waren überdies 96 Takte zu ergänzen, die beim Tod des Komponisten mit Sicherheit als Partiturskizze vorlagen. Irgendwo in der Welt könnten sich die entsprechenden Bögen erhalten haben.
Schon Nikolaus Harnoncourt, der sowohl mit den Wiener Symphonikern als auch mit den Philharmonikern zu Gehör brachte, was unzweifelhaft von Bruckners Hand erhalten war, meinte süffisant ins Publikum: "Schauen Sie bitte auf Ihren Dachböden nach . . ."Die Spur führt zu einem Privatsammler
Wobei es den begründeten Verdacht gibt, dass ein Wiener Privatsammler zumindest einige der unschätzbar wertvollen Blätter in seiner Sammlung hütet und nicht einmal für die wissenschaftliche Auswertung herauszugeben bereit ist. "Doch auch ohne Kenntnis dieses Materials hätte", so Cohrs, "unser Team hier insgesamt einen erheblich geringeren Anteil als Franz Xaver Süßmayr an der Komplettierung von Mozarts Requiem!"
Für den heikelsten Teil, die Komposition einer Coda, die, so Cohrs, "wirklich nach dem Bruckner der Neunten Symphonie klingen" sollte, hatten die vier "Vollender" eine 57 Takte lange Skizze des Komponisten zur Verfügung, von der sie, wie Peter Gülke einmal gemeint hat, "dem Material abhören mussten, wo es hinwill".
So bekomme das Publikum "zumindest eine Ahnung von dem Gesamtbild, das Bruckner vorgeschwebt haben mag". Und das, sagt Cohrs, sei völlig anders, als man nach Aufführungen des dreisätzigen Torsos mit nach Hause nehmen kann. Die 2012 publizierte Spielfassung, die Simon Rattle zur Wiener Erstaufführung führen wird, räumt jedenfalls mit der immer wieder tradierten Behauptung auf, der sanft verschwebende Schluss des Adagio-Satzes könnte ein adäquates Finale für die Neunte sein.