"Halb Genie, halb Trottel!"
Bruckner im Urteil der Mit- und Nachwelt
Ein Feuilleton vom September 1999
Den 175. Geburtstag ihres Meisters feierte die Bruckner-Stadt Linz mit einer Klangwolke über dem Linzer Donaupark. Die Dritte Symphonie erklang, dirigiert von Lorin Maazel. Harmoniert ein solches Freiluftspektakel mit dem Bild, das sich die Welt von Anton Bruckner, dem Musikanten Gottes, gemacht hat? Ist Bruckners Platz nicht eher der hehre Konzertsaal, oder besser noch das Kirchenschiff von St. Florian?
Die Anmutung würstelverschlingender Massen, denen die großen Steigerungswellen der Brucknerschen Symphonik als Hintergrundmalerei für ein abendliches Großpicknick dienen, steht quer zum Image.
Doch dürfte der Kenner entgegnen, Bruckner selbst sei derlei Volksbelustigungen nicht abhold gewesen. Wenn er wohl auch nie daran gedacht haben mag, daß seine Symphonik die tausendfach elektronisch verstärkte Nachfolge jener Tanzbodengeigerklänge antreten könnte, die er als Kind kennen gelernt und an denen er selbst am Beginn seiner Musikantenkarriere seinen Anteil hatte.
Mit Brahms beim "Geselchten"
Das Bodenständige, Deftige hat sich sogar beim legendären Treffen mit dem Antipoden, dem in allen bürgerlichen Salons des kaiserlich-königlichen Wien durchaus wohlgelittenen Johannes Brahms niedergeschlagen: Geselchtes mit Kraut und Knödel aßen die beiden Herren, der Sonderling und der Weltbürger, gemeinsam. Nur darin waren sie sich einig. Brahms schien er im übrigen suspekt, dieser Mystiker mit dem Hang zu aberwitzig ins Gigantische verwandelten chthonischen Ländlerklängen. Als wollte er musikalische Brücken bauen zwischen dem Unzulänglichen und dem Göttlichen.
War nicht das Unberührbare, hier wie dort, Bruckners Thema? Das ganz Gewöhnliche und das Jenseitige? Halb Genie, halb Trottel - so urteilte ein Zeitgenosse; und das war weniger böswillig als es uns heute scheint, traf eher ins Schwarze der damaligen Anschauungen.
In den USA steht Sibelius höher
Die Frage ist nur, ob sich an der Ratlosigkeit gegenüber Bruckner bis heute Substantielles geändert hat. Blick über die Grenzen: Angelsächsische Länder sehen es bis heute nicht gern, wenn ein mitteleuropäisches Orchester mit Bruckner-Symphonien im Gepäck auf Reisen geht. Sibelius steht nach wie vor weit höher im Kurs.
Kühne Architekturen
Daß die Wiener Philharmoniker demnächst in der New Yorker Carnegie Hall die Fünfte September musizieren, die Symphonie mit dem kompliziertesten Finale, das Bruckner vollendet hat, das ist beinahe noch immer unter die Rubrik Aufklärungsarbeit zu reihen.
Mit der kühnen Architektur dieses Riesensatzes der B-Dur-Symphonie wurde man noch Jahrzehnte nach Bruckners Tod auch in unseren Breiten nicht fertig. Hans Knappertsbusch, ein Bruckner-Exeget von Rang, strich in seinen Aufführungen regelmäßig einen Teil dieses Finalkolosses weg! Heute spielt man das Werk natürlich längst ganz. Ob man es besser spielt, ist sehr die Frage. Philologischer Ehrgeiz geht nicht immer Hand in Hand mit tiefem Verständnis. Hat man sich doch auch an die ungeglätteten Originalfassungen der Partituren gewöhnt, keineswegs aber an die Urfassungen!
Nur jene Versionen der Symphonien, die Bruckner nach heftiger Kritik seiner Zeitgenossen als Kompromißlösungen zwischen seinem Wollen und dem Geschmack seiner Ära angefertigt hat, genießen den Sanctus der Konzertveranstalter.
...wie ein Comicstrip
Als Roger Norrington beim Brucknerfest vor ein paar Jahren die Erstfassung der Dritten vorstellte, herrschte angesichts der kühnen Volten, jähen Schnitte, krassen Gegensätze spürbar Ratlosigkeit im Auditorium. Und das in Zeiten der in ihrem Verwandlungstempo durchaus verwandten Videoclips! Vielleicht hören die falschen Auditorien Bruckner, könnten die Kids, die auch "Ulysses" wie einen Comicstrip lesen, ihn spielender durchschauen?
Bruckners Musik ist auch für scheinbar längst Eingeweihte noch zu entdecken. Wegweiser könnten etwa die verzehrenden ,,Tristan"-Harmonien der Neunten Symphonie sein, die zwar "dem lieben Gott" gewidmet ist, aber für jeden, der Ohren hat zu hören, auch menschlich-allzumenschliche Dimensionen wagemutig einschließt.
Wer Bruckner in den Dom verbannt, reduziert seine Kunst just auf jene einzige Qualität, der der Zeitgeist eine lange Nase drehen zu müssen glaubt. So wären wir zu seinem 175. Geburtstag weiter von Bruckner entfernt denn je und leugneten die Dringlichkeit, mit der seine Musik von uns selber redet!
Bruckner, richtig gehört, könnte tatsächlich Brücken bauen. Von dem, was uns ganz nah scheint, zu dem, was weniger fern als verdrängt auf Wiedererweckung wartet. Daß nur die Vereinigung von beidem wahre Harmonie ergibt, wäre die Lehre.