Das Problem der "Fassungen"

Der Zugang zu Anton Bruckners Musik hat sich schon einmal dramatisch verändert: Um die Mitte des 20. Jahrhunderts mit Herausgabe neuer, von fremden Zusätzen bereinigter Druckausgaben setzte ein Umdenken ein. Man verwarf die am Richard-Wagner'schen Klangbild orientierten Spielfassungen, die Freunde des Komponisten – oft freilich unter dessen Aufsicht – herausgebracht hatten.

Kürzungen, vor allem aber harmonische Korrekturen und heftige Eingriffe in die Orchestrierung statteten manche Symphonie-Finalsätze mit Effekten aus, die man sonst vielleicht aus dem „Walkürenritt“ kennt.

Skrupel wegen eines Beckenschlags

Wenig glaubwürdig bei Musik eines Meisters, dem ein einziger Beckenschlag im Adagio seiner Siebenten Symphonie solche Skrupel verursachte, dass die Musikwelt bis heute nicht weiß, ob dieser Beckenschlag nun erklingen oder unterbleiben soll.
Er steht zwar in der handschriftlichen Partitur, doch daneben schrieb Bruckner mit zittriger Schrift: „gilt nicht“.

Wenn auch solche Ungereimtheiten nie wieder zu beseitigen sind, rückte man mit Leopold Nowaks in Wien edierten Neuausgaben dem Willen des Komponisten doch ein wenig näher, zumindest, was seine Klang- und Formvorstellungen betrifft.
Kürzungen und Uminstrumentierungen wurden eliminiert. Die Nowak-Fassungen, wiewohl nach Ansicht kompetenter Brucknerforscher noch lange nicht der Weisheit letzter Schluß, prägten das Brucknerbild zweier Hörergenerationen.
Doch kaum ein Dirigent wagte sich über die seit damals ebenfalls zugänglichen Partituren der Erstfassungen der Symphonien.
War es doch einzig und allein die Siebente, die ohne Korrekturen und Umarbeitungen in jener Version das Konzertleben erblickte, in der der Komponist sie zu Papier brachte.

Der Fall Levi

Angestachelt vom Erfolg gerade dieses Werks, übersandte der Komponist die Partitur seiner Achten dem Dirigenten Hermann Levi – und bekam sie postwendend zurück. Zu lang, zu verworren, zu kompliziert.
Dem niederschmetternden Urteil folgte eine lange Umarbeitungsphase, deren Ergebnis die Zweitfassung der Achten ist. Deren Premiere besiegelte zwar den endgültigen Durchbruch Bruckners, aber auch die Gewohnheit, die Urfassungen sämtlicher Bruckner-Symphonien konsequent zu ignorieren.

Zweit- und Drittversionen

Wie die Achte wurden auch die Symphonien 2, 3 und 4 in gereinigten Zweit- oder gar Drittfassungen zu Erfolgen.
Im Falle der Dritten ist bei diversen Revisionsprozessen gut ein Viertel der Musik dem Rotstift zum Opfer gefallen und viele beziehungsreiche Details blieben weg. Dass Bruckner im Adagio dieser d-Moll-Symphonie seiner Mutter gedenkt und ihr mit dem Zitat des Hochzeitszuges aus Wagners „Lohengrin“ ein klingendes Geleit ins Paradies komponierte, würde die Welt nur erfahren, wenn endlich die ursprüngliche Gestalt der Symphonie Einzug in die Konzertsäle hielte.

Bruckners "Sinnlichkeit"

Wie überhaupt die weltlich-sinnliche, die allzu menschliche Komponente von Bruckners Musik in den gängigen Letztfassungen meist komplett „wegrationalisiert“ scheint. Aufführungen der Achten in der von Levi zurückgewiesenen ersten Fassung lassen hören, wie eminent die Differenzen zum gewohnten Klangbild dieser Komposition sind: Ein strahlender C-Dur-Schluss des sonst mit der unbarmherzig ablaufenden „Totenuhr“ verdämmernden ersten Satzes sticht hervor.
Auch ein anderes Trio im Scherzo-Satz.

Später Einfall: Das "Jagdscherzo"

Das erinnert an die Umarbeitung der Vierten, die als „Romantische“ mit einem pittoresk-munteren „Jagd-Scherzo“ populär wurde, an dessen Stelle ursprünglich ein wild-verzerrtes Stück stand, das bestenfalls eine „Wilde Jagd“ darstellt; ein Halali auf das berühmte Horn-Thema, mit dem die Symphonie anhebt und schließt. Bruckner bricht diesen wichtigen Zwischenschritt in der über vier Sätze angelegten Metamorphose des Symphoniebegins in der endgültigen Fassung seines Werks einfach heraus; des „leichteren“ Hörgenusses wegen...

Sechs Beckenschläge

Nicht ganz entfernt, aber kräftig reduziert hat er auch die Beckenschläge am Kulminationspunkt der Achten – gegen Ende des gewaltigen Adagio-Satzes. Dort münden die (in der Erstfassung noch viel intensiveren) Steigerungswellen in eine Entladung, die in zweimal drei Beckenschlägen gipfeln. Die Assoziationen, die sich hier einstellen können, sind keineswegs nur metaphysischer Natur.

Die Neunte und der "Tristan"

Wer Bruckner so, also ungeschminkt hört, ahnt, warum das Scherzo der Neunten – wiewohl sie „dem lieben Gott“ gewidmet ist – ein Satyrspiel auf den unablässig festgehaltenen „Tristan“-Akkord ist, auf den Inbegriff der Vereinigung irdischer Lust und der Sehnsucht nach Transzendenz. 
Ein Satyrspiel von allerdings zyklopischen Ausmaßen: Im Scherzo tanzt das berüchtigte Tonkonglomerat unaufgelöst, unerlöst, insistierend, ausweglos. Im Adagio, dem letzten von Bruckner vollendeten Symphoniesatz, stehen dann die beiden zentralen „Tristan“-Tonarten gegeneinander, das As-Dur der Liebesnacht und das in einem gewaltigen harmonischen Ringen über 20 Minuten lang verzweifelt gesuchte E-Dur: Diese von Anbeginn vorgezeichnete Grundtonart des Satzes leuchtet in der klanglichen Realität erst am Ende mild auf, nachdem die musikalische Entwicklung mit einem fürchterlichen Riss, auf der grellsten bis zu diesem Zeitpunkt je aufgeschichteten Dissonanz zum Stillstand gekommen ist. Bruckner, der radikale Neuerer, hat keine Gelegenheit mehr gehabt, in diesem Fall auf gutes Zureden wohlmeinender Exegeten seine Kühnheiten zu revidieren und zu nivellieren. Zumindest im Fragment der Neunten gibt es keine Missverständnisse: Der schöpferische Wille tritt uns ungeschminkt entgegen . . .


↑DA CAPO