Symphonie Nr. 9 in e-Moll op. 95
Antonín Dvořáks letzte Symphonie verdankt ihren – übrigens vom Komponisten selbst verliehenen – Untertitel »Aus der Neuen Welt« dem Umstand, daß sie das erste Werk ist, das Dvořák während seines Amerika-Aufenthaltes komponiert hat. Die Symphonie entstand in der Zeit zwischen September 1892 und April 1893. Der Komponist war damals als Direktor des des National Conservatory of Music in New York tätig und leitete dort selbst eine Kompositionsklasse.
Der Titel der Symphonie wurde aber stets auch als Hinweis darauf verstanden, daß die Musik »amerikanische« Elemente enthalte.
In den Worten Dvořáks:
Die Amerikaner er warten große Dinge von mir, vor allem soll ich ihnen den Weg ins gelobte Land und in das Reich der neuen, selbständigen Kunst weisen, kurz, eine nationale Kunst schaffen!
Der Komponist, der sein Lebtag vesucht hatte, Volksmusik seiner böhmischen Heimat in die Kunstmusik zu integrieren, war sicher, daß es eine nationale amerikanische Musik nur geben könnte, wenn die Liede der Indigenen Bevölkerung wie jene der schwarzen Bevölkerung integriert wurde, die er in Sammlung der damals sogenannten »Negroe Spirituals« kennenlernen konnte.
Wo liegt die »Neue Welt«?
Die Musikfreunde und die Musikologen haben die Partitur der Neunten Symphonie denn auch wiederholt auf Spuren solcher »amerikanischen« Elemente untersucht und wurden auch fündig. Die Uraufführung des Werks am 16. Dezember 1893 in der New Yorker Carnegie Hall ging denn auch als »Stunde natioonaler Musik« in die Annalen ein, denn die Musik sei von Themen und Motiven geprägt, gefeiert, die »durchdrungen sind vom Geiste der Neger- und Indianermelodien«, wie es in einer ersten Rezension hieß.
Spätere Untersuchungen freilich ergeben, daß die Pentatonik der Hauptmelodien der Symphonie sehr ähnlich auch in böhmischen Volkslieder zu finden sei. Die Tatsache, daß es in Prag eine große Straße namen »Neue Welt« gibt, hat man gern zum Anlaß genommen, Dvořák eine ironische Doppelbödigkeit zu unterstellen: Die Spuren »Aus der Neuen Welt« könnten uns also durchaus auch in die tschechische Hauptstadt führen …
Vielleicht weist noch eine weitere Bemerkung Dvořáks in diese Richtung: Auf die von den durchaus rassistisch Gesinnten Weißen wiederholt vorgebrachte Kritik, es sei unpassend, in eine Symphonie »Plantagenlieder« einzubauen, konterte der Komponist:
Es scheint, ich habe ihnen den Verstand verdreht! Bei uns zu Hause wird man begreifen, was Ich meinte!
Das formale Meisterwerk
Tatsächlich steht die e-Moll-Symphonie in einer Reihe mit den beiden vorangegangenen Symphonien Dvořáks und bildet mit diesen sein symphonisches Hauptwerk der Reifeperiode.
Formal wendet sich Dvořák noch einmal der viersätzigen klassisch-romantischen Symphonie zu – ein letztes Mal, denn seine spätere Symphonik gehorcht dem poetischen einsätzigen Prinzip der »‘symphonischen Dichtung« Liszt‘scher Prägung. Bei allem Reichtum der Melodik und Originalität der harmonischen Wendungen sorgt Dvořák für eine äußerst konzentrierte tonale Organsiation des Gesamtwerks, die alle vier Sätze zu einem einheitlichen Ganzen bindet. Auch die Motivik der einzelnen Sätze beruht auf engen Verwandtschaften, die auf den ersten Blick kaum zu erkennen sind, in der Analyse aber das große Geschick das Komponisten verrät, knappen Tonfolgen in fantasievoller Variationstechnik immer neue, oft charakterlich völlig entgegengesetzte Formen abzugewinnen – eine von Liszt übernommene (letztlich auf Beethoven zurückgehende) Technik, die er in den späteren Tondichtungen zur absoluten Vollkommenheit führen will.
In dramaturgisch wichtigen Nahtstellen der Komposition werden die Beziehungen oft auch dem unvorbereiteten Hörer deutlich. So erklingt auf dem dramatischen Höhepunkt des lansamen Satzes das synkopische, Fanfarenthema des Kopfsatzes und verschmilzt mit dem Hauptthema des Largos. Dieses prägnante Dreiklangsthema des Kopfsatzes spielt unüberhörbar auch im Scherzo eine Rolle, wo es den Hauptteil mit dem Trio verbindet und zuletzt auch die Coda einleietet. Im Finale zitiert Dvořák schließlich in der stürmischen Durchführung die Hauptthemen aller drei vorangegangenen Sätze, um sie vor dem Schluß der Symphonie noch einmal in einem gewaltigen Augenblick der Konzentration übereinander zu türmen.
Amerikanische Erfahrungen
Vor der Reise nach New York hatte Dvořáks Verleger, Fritz Simrock, mit dem es bei der vorangegangenen Symphonie zu einer heftigen Verstimmung gekommen war, eindringlich gewarnt:
Sind Sie schon in Amerika? … gehen Sie denn nach Amerika? Nehmen Sie sich in acht lieber Freund! Es ist dort alles viermal so teuer wie bei Ihnen und die Ansprüche sind sehr groß, die man an Sie stellt; Sie können dort in New York nicht so einfach leben, wie in Prag und wenn Sie es tun, so sind Sie bald „unmöglich“ – Sehen Sie sich vor, ich rate Ihnen in Ihrem Interesse!‘
Fritz Simrock an Dvořák
Dvořák ließ sich nicht abhalten und buchte 1892 die Überfahrt. Man empfing ihn mit allen Ehren und Dvořák war beeindruckt von der Betriebsamkeit der Stadt New York, von den Wolkenkratzern, die man in Europa nicht kannte, aber auch von der neumodischen Technik, die sich anschickte, das Leben zu erobern.
Der euopäisch dominierte Musikbetrieb interessierte ihn viel weniger als die Musik der Einheimischen, vor allem die der Farbigen. Dvořák verfaßte sogar einen Artikel »Real Value of Negro Melodies«, der im New York Herold erschien.
Daß ihn manches von dieser Musik inspirierte, stritt Dvořák nicht ab. Doch meinte er kategorisch:
Ich habe von keiner dieser Melodien Gebrauch gemacht. Ich habe nur eigene Themen geschrieben, denen ich die Besonderheiten der Indianermusik lieh. Indem ich diese Themen zum Vorwurf nahm, habe ich sie mit allen Errungenschaften der modernen Rhythmik, Harmonik und Kontrapunktik sowie des Orchesterkolorits zur Entwicklung gebracht,
Der Artikel im New York Herold erschien am 12. Dezember 1893, vier Tage vor der von dem Wagner-Vertrauten Anton Seidl dirigierten Uraufführung der e-Moll-Symphonie in der Carnegie Hall.