Die Presse, 30.9.1991
Die Außergewöhnlichen
Die Konzertsaison begann mit Fedosejew und seinem Orchester
Man fragt sich, was da noch nachkommen soll: Wladimir Fedosejew und sein Moskauer Rundfunkorchester gaben, weil gerade auf Tournee, den Startschuß zur Konzertsaison in Graz, Salzburg und im Wiener Musikverein. Vier verschiedene Programme, und jedes einzelne vollendet und mit Hingabe dargebracht: Die Latte für alles Folgende liegt hoch. Für die meisten sogar, das darf schon behauptet werden, in unerreichbaren Regionen.
Daß Fedosejew und seine Musiker bei russischer Musik heute konkurrenzlos sind, hat sich längst herumgesprochen. Darbietungen wie die Achte Schostakowitsch im Großen Salzburger Festspielhaus oder das Erste Violinkonzert desselben Komponisten in Wien lassen dem Auditorium mehr als einmal den Atem stocken angesichts der Intensität und beredten Ausdruckraft, mit der da die Leidensbotschaften der Musik zum Klingen gebracht werden.
Diesmal gingen die Gäste aber aufs Ganze. In Graz und Salzburg musizierten sie zum Auftakt Mozart. Die „Parisersinfonie“, ganz duftig, in allen Stimmen weich und anschmiegsam ausgeformt, inszeniert also als hunderprozentiger Alptraum für alle Harnoncourtverehrer. Dem Freund des romantischen, verloren geglaubten Mozartstils schlug das Herz indes höher.
Vollends bei Beethovens Erster Symphonie im Wiener Musikverein: kraftvoll, spritzig und energiegeladen, dabei fein strukturiert und von atemberaubenden Übergängen zusammengehalten; eine Stilübung, die einen Großteil der „westlichen“ Beethoveninterpreten vor Neid erblassen lassen müßte.
Dann das Schostakowitsch-Konzert mit Viktor Tretjakow, dessen Spiel in Salzburg bereits bei Glasunow gefunkelt und geglänzt hatte: Hier verschwisterte sich sein gradliniger, klarer Ton auf ideale Weise mit dem vielgestaltigen Orchesterteppich, der sein Spiel trug – dunkel dräuende Leidensbotschaften, dann aber ein überschwenglicher Kehraus voll von irisierenden Farben. Selten, ich glaube zuletzt bei Herbert von Karajans Aufführung der Neunten Mahler, habe ich das Publikum im Goldenen Saal so mucksmäuschenstill erlebt wie diesmal in der dramatischen Kadenz.
Daß Stücke wie Tschaikowskys Rokoko-Variationen (in Graz und Salzburg mit dem fabelhaften jungen Kirill Rodin) zu Demonstrationen delikatesten, feinsinnigsten Orchesterspiels werden würden, daß de Fallas „Dreispitz“-Tänze (in Graz und Wien) zündenden Finaleffekt machen würden, verstand sich von selbst. Fedosejew ist, das weiß man spätestens jetzt, nach den „Nagelproben“ mit den Wiener Klassikern, auch in Österreich, einer der bedeutendsten Dirigenten unserer Tage, sein Orchester eines der besten der Welt.
Bleibt nur zu hoffen, daß die Musikergemeinschaft, die nicht an irgendeine Stadt gebunden, sondern ausdrücklich eine „sowjetische“ ist, alle Auflösungserscheinungen des Riesenreiches überlebt. Und bald wiederkommt.