Die Brüder Wieniawski

Der Name Wieniawski hat in Geiger-Kreisen einen guten Klang. Tatsächlich gab es zwei polnische Meister dieses Namens, den Pianisten Jozef und den Violinvirtuosen Henryk Wieniawski. Die beiden waren zu Lebzeiten hoch angesehen.

Das Brüderpaar

Henryk

Henryk kam im Jahr 1835 in Lublin zur Welt, wurde zunächst in seiner Heimatstadt ausgebildet und kam dann als Meisterschüler zu Massart nach Paris.

Schon im Alter von acht Jahren studierte er am Pariser Konservatorium, debütierte 1848 – also mit 13 – in Paris. Im selben Jahr ging er auf Konzertreise und beeindruckte in St. Petersburg den hochgerühmten »Hofgeiger« Vieuxtemps. Das führte zu weiteren Engagements im Zarenreich: 1851 kam Henryk Wieniawski in Begleitung seines Bruders Jozef nach St. Petersburg. Die beiden Virtuosen gaben unzählige umjubelte Konzerte und wurden zu Lieblingen der aristokratischen Musikfreunde in Rußland.

Jozef

Jozef war zwei Jahre jünger, studierte wie sein Bruder zunächst in Lublin, um dann ebenso nach Paris zu gehen, wo unter anderem Alkan und Marmontel seine Lehrer wurden. In der Saison 1855/56 nahm sich dann Franz Liszt in Weimar des eminenten Talents an. Da blickte Jozef bereits auf viel Konzerterfahrung zurück. Er hatte im selben Jahr debütierte wie sein Geiger-Bruder, 1848, also noch früher, im Alter von elf Jahren.

Nach den ersten Erfolgen an der Seite seines Bruders wurde Jozef ebenfalls zum gefragten Solisten, bewährte sich als Interpret wie als Komponist. Er studierte von 1856 bis 1858 Kontrapunkt bei Adolph Bernhard Marx in Berlin, unterrichtete dann am neuen Moskauer Konservatorium und von 1878 bis zu seinem Tod, 1912, in Brüssel. In Polen wurde er zu einem der Gründerväter der Warschauer Musikgesellschaft und arbeitete als deren Kapellmeister und Musikdirektor.


Henryk Wieniawski

Die Karriere des Komponisten Henryk Wieniawski begann früh. Schon 1847 entstand die Grand Caprice fantastique, ein Jahr später folgte ein Allegro de sonate. Zum Gebrauch für die Tournee-Auftritte auch im deutschen Sprachraum mit Bruder Jozef entstand noch ein Dutzend weiterer Bravourstücke für Geige und Klavier.

Henryk Wieniawski musizierte in der Folge auch mit den bedeutenden Geiger-Kollegen Heinrich Wilhelm Ernst und Joseph Joachim sowie dem Cellisten A. Piatti bei der Beethoven Quartet Society in London. Ein Pariser Konzert mit dem Pianisten Anton Rubinstein führten zu einer dauerhaften Einladung nach Rußland: Wieniawski wurde Vieuxtemps‘ Nachfolger als »Hofgeiger« und unterrichtete am von Rubinstein gegründeten, St. Petersburger Konservatorium. Erst 1872 nahm Henryk Wieniawski seine internationale Virtuosenkarriere wieder auf, wobei eine Zeitlang wiederum Rubinstein sein Klavierpartner blieb. Ab 1875 lehrte Wieniawski in Brüssel – wiederum als Nachfolger von Vieuxtemps. Auf Konzertreisen starb Henryk Wieniawski im März 1880.

Wieniawskis Technik

Technisch war Wieniawski entscheidend an der Evolution des Geigenspiels beteiligt, hob den rechten Ellenbogen und sorgte für eine aktive Beteiligung des Oberarms, mit dem er etwa eine raffinierte Möglichkeit des Staccatospiels entwickelte. Wieniawskis Nachfolger am St. Petersburger Konservatorium, → Leopold Auer, kultivierte diese technischen Innovationen und sorgte dank seiner langen Wirkungszeit als prägender Geigenlehrer Europas für deren Dauerhaftigkeit.

Werke

Wieniawskis Musik läßt sich als Weiterentwicklung von Paganinis technischen Hexenmeistereien bezeichnen, die in einen hochromantischen musikalischen Kontext einfließen, der – im Gefolge Chopins – das nationalistisch-polnische Kolorit betont. Damit steht die Musik Wieniawskis ganz in der Zeit, in der in Böhmen, Ungarn und anderen europäischen Ländern das wachsende Nationalbewußtsein künstlerische Formen annahm.

Das populärste Werk Wieniawskis bis auf den heutigen Tag ist das zweite seiner beiden Violinkonzerte, d-Moll, von dem Kollege Tschaikowsky meinte:

Es zeugt von ernstem schöpferischem Talent.

Aufnahmen

Das d-Moll-Konzert ist von den meisten bedeutenden Geigern aufgenommen worden. Je nach Geschmack wird jeder Musikfreund seine Lieblings-Einspielung finden. Zwei Tipps vielleicht für Unschlüssige, die auf der Suche nach außergewöhnlichen Darstellungen jenseits des Star-Mainstreams sind:

Da ist die fabelhafte Wiedergabe durch die Geigerin Erica Morini (mit dem NBC Orchestra unter Eugene Ormandy), die den hexenmeisterischen technischen Anforderungen mühelos gewachsen ist und dem Werk scheinbar ebenso mühelos-musikantisch romantisch-leidenschaftliche, aber auch gefühlvolle Details entlockt, die den meisten prominenten Kollegen entgehen, die eher mit der glänzenden Fassade beschäftigt sind.

Und es gibt den früh verstorbenen Michael Rabin mit London Philharmonic, der keinen Zweifel daran läßt, daß das was er hier zu spiele hat, ziemlich anspruchsvoll ist, aber diesen Drahtseilakt unter beständiger Hochspannung mit bewundernswerter Bravour bewältigt. Das ist Virtuosentum auf höchstem Niveau.

Findige Musikfreunde könnten sich auf die – nicht ganz einfach zu bewältigende – Suche nach der Aufnahme des d-Moll-Konzerts durch den böhmischen Meistergeiger Josef Suk machen. (Zumindest der Mittelsatz findet sich halbwegs rasch auf einer Auskoppelung bei Supraphon!) Suk spielt das Stück, als wären all die raffinierten Virtuosen-Girlanden und -Effekte lediglich notwendige und ganz natürliche Verzierungen einer herzhaften, tief empfunden Melodik. Understatement auf vier Saiten. Das entspannte Gegenteil zu Rabin, wenn man so will, in Wahrheit angesiedelt auf ebenso schwindelerregendem Seiltänzer-Niveau . . .