2023 ist ein doppeltes Gedenkjahr für den letzten großen Romantiker unter den russischen Komponisten, der 1943 im amerikanischen Exil starb
Es entgeht uns allerhand, wenn wir Rachmaninow abkanzeln
Beginnen wir ruhig mit Adorno. Bei Rachmaninow? Ja! Wann immer dieser Vorkämpfer der Elfenbeinturm-Avantgarde es für nötig befunden hat, einen Komponisten besonders untergriffig zu attackieren, darf man nämlich sicher sein: An dessen Musik muß etwas dran sein.
Nun könnte man meinen, das Urteil über Sergej Rachmaninow sei längst von ganz anderer Seite gesprochen. Der russische Meister galt doch kritischen Zeitgenossen als liebster Lieferant der Hollywood-Soundtrack-Industrie. Da sich aber dennoch ein Adorno an den Verunglimpfungen beteiligte, dürfen wir annehmen: Irgendetwas an Rachmaninows Musik muss auch seine hochfliegenden Gedanken empfindlich gestört haben.
UNBEKANNTES ZU ENTDECKEN
Die Aufgabe, das zu hinterfragen, harrt der meisten Musikfreunde noch. Zum Doppel-Gedenktag sei hier empfohlen: Versuchen Sie’s. Es lohnt sich!
Wer zur Feier des 150. Geburtstags und 80. Todestags des Komponisten sich den Schaffenskatalog durchforstet, findet neben tatsächlich sattsam bekannten Ohrwürmern vom cis-Moll-Prélude bis zum Zweiten Klavierkonzert auch Musik, die andere, viel herbere Töne anschlägt, Musik, die romantisches Ausdrucksbedürfnis in eine neue Zeit herüberrettet, die manch scharfen, „modernen“ Farbton findet, nicht als exotische Würze melodisch-harmonischer Einfälle, sondern integraler Bestandteil der besonderen Klangwelt dieses Meisters.
FASZINIERENDES SPÄTWERK
Die Aufarbeitung jener Aspekte der jüngeren Musikgeschichte, in denen die Romantik sozusagen auf natürliche Weise, ohne Aufgabe der Dur- und Moll-Tonalität in eine zeitgemäße Sprache übergeführt wurde, steht ja großteils noch aus. Auch Rachmaninows Werk-Katalog birgt neben den genannten, viel gespielten Stücken Bedeutendes, das gehört werden soll.
Vielleicht kommen wir aus Anlass des Doppeljubiläums doch auch in den Genuss von Aufführungen seiner wenigen, aber durchwegs gehaltvollen späten, im amerikanischen Exil entstandenen Kompositionen.
Die Dritte Symphonie, die Paganini-Variationen, die Symphonischen Tänze – allesamt bedeutende Werke voll hintergründiger, oft: abgründiger, immer ausdrucksstarker Musik.
DER GROSSE PIANIST
Vielleicht erinnert man uns auch angelegentlich daran, dass dieser Künstler als einer der größten Pianisten seiner Ära auch Tondokumente hinterlassen hat, die uns über die Wahrheit des romantischen Klavierstils aufklären: Rachmaninow hat nicht zuletzt seine eigenen Konzerte weiter weg von Tasten-Hollywood gerückt als jeder andere Interpret. Er hat uns Chopin- und Schumann-Aufnahmen von analytischer Klarheit und Klangschönheit geschenkt. Die Beschäftigung mit diesem Künstler könnte uns also in vielerlei Hinsicht die Ohren öffnen.
Zum Start hilft uns die stets tiefschürfend recherchierende Kulturhistorikerin Elisabeth Heresch mit einer Reihe von Rachmaninow-Sendungen im Radio Klassik Stephansdom. Beginn ist heute, 28. März, 19 Uhr.