Die Apokalypse und wie sie uns heute unter die Haut geht
Im Wiener Konzerthaus vereinigten sich Singverein und Singakademie, um mit den Symphonikern Franz Schmidts Oratorium »Das Buch mit sieben Siegeln« aufzuführen. Eine etwas zu spät gekommene aber eindrucksvolle Ehrung zum 150. Geburtstag des Komponisten.
Zum runden Geburtstag des Komponisten, man muß es leider noch einmal sagen, ist in Wien so gut wie nichts passiert. Im selben Jahr wie Arnold Schönberg, 1874, wurde Franz Schmidt geboren, zu Lebzeiten hoch geachtet, sollten seine vier Symphonien und manches kammermusikalische Werk im Repertoire stehen als meisterhafte Beweise für eine Kunst, die sonst nur noch Richard Strauss auf solchem handwerklichen Niveau beherrscht hat: Die artifiziellen Funde der Avantgarde nach 1900 lassen sich durchaus mit dem großen Erbe der »klassischen« Musik vermählen.
In seinem Oratorium reflektiert Franz Schmidt die abendländische Musikgeschichte vom Gregorianischen Choral bis zur Zwölftonmethode.
Sein Oratorium »Das Buch mit sieben Siegeln« – das kompositionstechnisch alles vom Gregorianischen Choral bis zur Zwölftonmethode reflektiert – blieb als einziges Zeugnis davon in den Wiener Spielplänen erhalten, nicht zuletzt, weil der Uraufführungschor, der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde, seit Jahr und Tag seine Leistungsfähigkeit anhand dieser ungemein schwierigen Aufgabe unter Beweis stellt. Er hat auch im Vorjahr die einzige Schmidt-Aufführung im Musikverein durchsetzen können und vereinte sich diesmal mit der Wiener Singakademie und den Symphonikern unter deren Ex-Chefdirigent Fabio Luisi, unter den hierzulande berühmten Vertretern seiner Zunft der einzige, der auch schon sämtliche Symphonien für CD eingespielt hat.
Wien tut so, als gäbe es nur dieses Werk von Schmidt
Luisi wäre vielleicht der rechte Mann, um auch in Wien einmal einen Schmidt-Zyklus auszurichten, denn das komplexe Oratorium organisierte er vergangenen Samstag mit einer bemerkenswerten Mischung aus souveräner architektonischer Übersicht und zwei ununterbrochene Stunden nie nachlassender Spannkraft.
Die Symphoniker folgten ihm mit spürbarer Hingabe, zwar nicht in jedem Moment vollkommen, aber engagiert, vorwärtstreibend, detailverliebt in den illustrativen Passagen. Und vielleicht dynamisch etwas zu fordernd für die Gesangsolisten.
Doch konnte Maximilian Schmitt, nicht der von Schmidt geforderte »Heldentenor«, sondern Exponent der »lyrischen« Aufführungstradition in der zentralen Erzählung von den apokalyptischen Ereignissen nach dem großen »Schweigen im Himmel« punkten. Und der schöne, runde Bass David Steffens blieb als Stimme des Herrn von orchestralen Attacken ohnehin unbehelligt.
Das Solisten-Quartett überzeugte in den theatralischen Augenblicken
Aber das Solisten-Quartett blieb im „himmlischen Gottedienst“ des Prologs recht blass. Es musste auf die Öffnung der Siegel warten, bis das makabre Wiegenlied vom Hunger (Giulia Semenzato, Catriona Morison) ebenso bewegte wie die schauerliche Begegnung der Überlebenden auf dem Schlachtfeld (Patrick Grahl, Alexander Grassauer) – geht einem das heutzutage wieder besonders unter die Haut? Schmidt sprengt hier die Grenzen zur Atonalität und der Chor demonstriert daraufhin die fundamentale Kraft, die ein Dur-Dreiklang auch im Pianissimo entfalten kann. Solch stille Momente gehen in friedlichen Zeiten vielleicht unter. Singakademie und -verein in atemberaubend sicherten sich jedenfalls damit die Basis, um für die apokalyptischen Stürme gerüstet zu sein, die sie dann mit atemberaubender Bravour durchmaßen.
Schmidt Chorfugen – ein »kontrapunktische Spiel vom Ende der Zeiten«
In der gefürchteten „Wasserfuge“, diesem kontrapunktischen „Spiel vom Ende der Zeiten“, aber auch beim Ansturm von den Höllenqualen der Sieben Posaunen vor die Tore des Himmlischen Jerusalem ging es beeindruckender Weise nicht nur ums nackte Überleben – im neutestamentarischen wie im musikalischen Sinn. Da blieben sogar noch Raum und Nerven für charakterisierende Modulationen von der Angst vor Gottes Zorn bis zur Freude über seinen endgültigen Sieg. Chapeau!
Robert Kovács führte vor, wie ein virtuoser Organist derlei Fugen-Kunststücke ganz allein mit zwei Händen und zwei Füßen zum Leben erwecken kann – aber weder die strahlenden Emanationen des krönenden „Hallelujah“-Chors noch der rauschende Applaus werden unsere Veranstalter wohl neugierig gemacht haben, ob dieser Komponist nicht noch andere bedeutende Musik geschaffen haben könnte…