Wie ein Maestro Partituren liest
Im Gespräch. Sir Simon Rattle über die neue Wiener Urtext-Ausgabe der Symphonien Anton Bruckners und wie diese das Verständnis scheinbar bekannter Musik weiter fördert.
Die Presse, 4. Jänner 2023
Sir Simon Rattle war jüngst wieder einmal in Wien, um — unter anderem — eine Symphonie von Anton Bruckner zu dirigieren. Wie schon in den letzten Jahren seiner Chefdirigentenposition bei den Berliner Philharmonikern verwendete er auch diesmal für die Konzerte mit dem London Symphony Orchestra eine Neuausgabe der Partitur der Siebenten Symphonie, die bei der Wiener Verlagsgruppe Hermann erschienen ist. Alexander Hermann ließ es sich nicht nehmen, dem Dirigenten bei dieser Gelegenheit auch ein druckfrisches Exemplar der eben erschienenen Ausgabe der Vierten Symphonie zu überreichen.
Bei dieser Gelegenheit sprach Rattle mit der „Presse“ ausführlich über die Bedeutung einer solchen wissenschaftlich erstellten Urtext-Ausgabe. „So etwas würde ich mir für viele Komponisten wünschen“, meint er, „im Fall von Bruckner ist eine solche grundlegende Dokumentation dessen, was der Komponist niedergeschrieben hat, vielleicht ähnlich kompliziert zu erstellen, wie es im Fall von, sagen wir, Leoš Janáček wäre. Ich glaube, bei keinem anderen Komponisten ist die Überlieferung der Partituren — und damit die Problemstellung für einen Interpreten, erraten zu müssen, was die Komponisten eigentlich wirklich wollten — so komplex wie bei diesen beiden.“
Im Fall Bruckners ist der Musikologe Benjamin Gunnar Cohrs angetreten, Licht ins Dunkel zu bringen. Er erforscht seit vielen Jahren fanatisch die erhaltenen Quellen, hat die bisher verwendeten Druckausgaben ebenso studiert wie das bei den frühen Aufführungen verwendete Notenmaterial. Und natürlich alles, was an eigenhändigen Niederschriften Anton Bruckners erhalten geblieben ist — inklusive der handschriftlichen Einträge des Komponisten in Abschriften fremder Personen und in Druckfahnen.
Wobei Freunde der Musik Bruckners seit Langem wissen, dass die Sachlage bei diesem Meister besonders unübersichtlich ist. Zumindest die Tatsache, dass sich von den meisten der Bruckner’schen Symphonien mehr als eine Fassung erhalten hat, hat sich bis zum Konzertpublikum herumgesprochen, das im Übrigen kaum an wissenschaftlichen Detailfragen interessiert ist.
Jagd nach dem Jagd-Scherzo
Gerade bei der Vierten, der von Bruckner selbst so genannten „Romantischen“, kann man aber Überraschungen erleben, wenn man ins Konzert geht, um wohlbekannte, schöne Musik zu hören. Sollte sich der Dirigent nämlich dazu entschließen, die kaum bekannte Urfassung der Symphonie aufzuführen, dann wird der Bruckner-Kenner nicht nur einen Finalsatz hören, der nur von Ferne an das bekannte Stück anklingt. Er wird auch staunend bemerken, dass an der Stelle des berühmtesten Satzes der „Romantischen“, des „Jagd“-Scherzos, vollkommen andere Musik erklingt!
Simon Rattle plaudert aus der Schule: „Es geht nun weniger darum, ob ich diese frühe Fassung der Vierten aufführe oder die bekannte späte Version. Die neue Urtext-Ausgabe bietet mir dank eines neuen editorischen Verfahrens die Möglichkeit, dank einer übersichtlichen Farbnotation einen Überblick über alle Kompositionsstadien dieses Werks zu erhalten. Und das, ohne dass ich zwei oder drei dicke Notenbände gleichzeitig konsultieren muss.“
In der Neuausgabe liegen die Arbeitsschichten Bruckners vom Stadium der Uraufführungsfassung an quasi wie durchsichtige Folien übereinander. Ein ausgeklügeltes System an Farbzuweisungen und Symbolen zur Quellenbestimmung lässt erkennen, welchem Stadium eine Vortragsbezeichnung oder eine Instrumentationsretusche angehören. Der Notentext bleibt trotz alledem ungestört lesbar. Im Fall der digitalen Leseversion sogar mit der Möglichkeit, alle Anmerkungen aus- oder einzublenden.
Der Interpret kann sich ein Bild machen, welche Eintragung Bruckner in den Bearbeitungsstadien von 1878, 1881 und 1882 gemacht hat. Was die vielen „Verbesserer“ unter den Ratgebern des Meisters in die gedruckten Ausgaben geschmuggelt haben, bleibt dank Cohrs‘ penibler Forschungen hingegen ausgeblendet.
Simon Rattle berichtet von seinen ersten Einstudierungen dieserart „gereinigter“ Bruckner-Partituren: „Es geht ja auch darum, an den Veränderungen, die der Komponist vornahm, abzulesen, wie sich das Werk in seiner Vorstellung entwickelt hat.“ Besonderheiten von Bruckners Stil lassen sich auf diese Weise sozusagen rückwirkend aufschlüsseln. Das Erstaunlichste an den ersten Proben, bei denen gedruckte Stimmen der Neuausgabe verwendet wurden, war für Rattle, „dass das Orchester beim Spielen aus dem neuen Material sofort anders geklungen hat“. Ein Phänomen, das sich wohl nicht wird erklären lassen, das aber auch für den Dirigenten zu einem „frischen“ Bruckner-Erlebnis geführt hat.