TSCHAIKOWSKY

Peter Iljitsch Tschaikowsky

(1840-1993)

Rußlands großer Romantiker.

Le petit Pouchkine«, den kleinen Puschkin nannte die französische Gouvernante ihren Sprößling, der mit vier Jahren schon Gedichte verfaßte. Der Vater, Erfolgreicher Bergbauingenieur, sah die musischen Anwandlungen seines Sohnes nicht gern, aber er ließ ihn gewähren: Pjotr Iljitsch durfte schon vor Eintritt in die Schule Klavier üben. Er selbst vertraute lieber den modernsten Errungenschaften der Technik: Aus St. Petersburg brachte Ilja Tschaikowsky ein mechanisches Klavier ins Haus der Familie in Wotkinsk. Man staunte nicht schlecht, als der kleine Pjotr nach wenigen Versuchen imstande war, eines der Stücke, die dieses Instrument zum besten geben konnte, selbst nachspielte.

Zwar mußte Pjotr Iljitsch die Juristenschule besuchen, um einem »ordentlichen« Brotberuf im Justizministerium nachgehen zu können, doch durfte er privat Klavierstunden nehmen. Der Lehrer, ein Deutscher, staunte weniger über die technischen Fertigkeiten seines Schülers, die lebenslang eher begrenzt blieben, als über die fantasievollen Improvisationen.

Das Können genügte, um Aufnahme ins St. Petersburger Konservatorium zu finden. Anton Rubinstein nahm den jungen Mann dort 1861 unter seine Fittiche. Die Familie war entsetzt, als Pjotr Iljitsch mitteilte, seinen Posten im Ministerium mit dem eines Musikstudenden zu vertauschen. Das sei »zu nichts nütze« befand der Familienrat, doch der Sohn ließ sich nicht täuschen: Er wollte Komponist werden.

Aus der Obhut Anton Rubinsteins, der das Talent nach kräften förderte, gelangte Tschaikowsky bald nach Moskau, wo Rubinsteins Bruder Nikolai den mittellosen, aber von seiner Kunst begeisterten Studenten beherbergte und ihm eine Dozentenstelle am dortigen Konservatorium verschaffte.

In Moskau zeigte sich der einflußreiche Mili Balakirew interessiert an dem jungen Mann und gab ihm mit der Idee, eine Tondichtung über Shakepeares Romeo und Julia zu schreiben, die Inspiration zu einem seiner frühesten großen Werke – Tschaikowsky hat die so entstandene und auf Balakirews Verlangen noch einmal kräftig überarbeitete Fantasie-Ouvertüre zwar mit keiner Opus-Zahl versehen, doch ist sie bis heute eines seiner erfolgreichsten Werke gelbieben.

Etwa gleichzeitig entstand die Symphonie Nr. 1, ein spontaner, doch formal höchst eindrucksvoll gelungener Versuch, die klassische viersätzige Form zu bewältigen.

Zu Balakirews Gruppe »der Fünf«, auch: »Das mächtige Häuflein« genannte, gehörte Tschaikowsky jedoch nicht. Anders als Cesar Cui, Modest Mussorgsky, Alexander Borodin oder Nikolai Rimskij-Korsakow wurde er bald zu den »westlich beeinflußten« Künstlern gezähle, eine Einschätzung, die von der Nachwelt zumindest in Rußland nicht geteilt wird, für die Tschaikowsky so »russisch« wie Mussorgsky.

Der Kampf mit den klassischen Formmustern blieb für den Komponisten lebenslang ein zu Zeiten ans Traumatische grenzende Herausforderung. Mit der Oper rang er nach einem Versuch mit Der Opritschnik, der als mißlungener Versuch einer russifizierten »Grand Opéra« abqualifiziert wurde, über Jahre hin.

Sicher war er sich hingegen im Falles des nachmals so populären Ersten Klavierkonzerts op. 23, das Nikolai Rubinstein, dem es gewidmet werden sollte,

armselig, unzusammenhängend, bruchstückhaft, wertlos und unspielbar

nannte. Der Komponist schickte die beinah unveränderte Partitur an Hans von Bülow, unter dessen Händen der Siegeszug begann: Das Werk wurde zu einem der meistgespielten Konzerte der Literatur. Zu dem Tschaikowsky-Konzert jedenfalls. Kaum ein Musikfreund weiß, daß Tschaikowsky mehr als dieses b-Moll-Konzert geschrieben hat . . .

Völlig unverständlich aus Sicht der Nachgeborenen ist die Tatsache, daß auch die Ballettmusik zum Schwanensee, die zunächst allerdings in einer stark simplifizierten Form zur Premiere kam, durchfiel. Auch hier blieb der Komponist fest in seiner Meinung: Und er sollte recht behalten. Die Neueinstudierung durch Marius Petipa, Lev Ivanov und Riccardo Drigo machte Schwanensee zum Welterfolg – zu dem klassischen Ballett schlechthin. Das hat Tschaikowsky aber nicht mehr erlebt. Die Premiere fand zwei Jahre nach seinem Tod statt.

Daß Tschaikowsky »verwestlicht« war, wie ihm die Vorkämpfer einer russischen Musik vorhielten, läßt sich kaum aufrecht erhalten. Ein Besuch der ersten Bayreuther Festspiele nahm ihn sehr gegen Wagners Ästhetik ein. Selbst Beethoven bezeichnete Tschaikowsky nicht als sein Vorbild.

Ich leugne bestimmt nicht im geringsten seine große historische Bedeutung, aber die vorbehaltlose und selbstverständliche Bewunderung, die jedes einzelne seiner Werke genießt, halte ich für unangemessen.

Nur Mozart ließ er Zeitlebens gelten und ehrte ihn auch mit einer eigenen, seiner vierten Orchestersuite, Mozartiana.

Die Jahre nach Eröffnung der Bayreuther Festspiele stürzten Tschaikowsky in eine Lebenskrise. 1877 begann seine Brieffreundschaft mit Najeschda von Meck, der wir unschätzbare Informationen über Leben und Schaffen des Komponisten verdanken. Doch erreichte ihn auch ein schicksalhaftes Schreiben einer Verehrerin, die mit Selbstmord drohte, falls er sich nicht mit ihr verloben würde. Tatsächlich ließ sich Tschaikowsky in eine Ehe drängen, die in einem Desaster (freilich ohne offizielle Scheidung) endete.
Der verehrten Frau von Meck hingegen, mit der ihn eine Seelenverwandschaft verband, durfte er nicht nahekommen. Sie brach den Briefwechsel auch eines Tages ab. Tschaikowsky blieb allein mit seinen Emotionen, bis dahin wohl vor allem sublimiert in schriftlichen Äußerungen und musikalischen Werken.

Auf dieserart fortwährend schwankendem seelischen Grund entstanden in der Folge Tschaikowskys Meisterwerke, die letzten drei Symphonien, die Ballettmusiken zu Dornröschen und Nußknacker, die Opern Eugen Onegin, Pique Dame und Jolanthe, das Violinkonzert, die Streicherserenade und kammermusikalische Juwelen wie das Streichsextett Souvenir de Florence.

Doch mußte sich Tschaikowsky langsam freikämpfen. Die Nachwelt verfuhr gnädig mit der Vierten Symhonie, (1877) und dem Violinkonzert (1878), ebenso mit Eugen Onegin (1879), blieb aber skeptisch bei groß angelegten Stücken wie dem Zweiten Klavierkonzert (1880), der Manfred Symhonie (1886) oder den Opern Die Jungfrau von Orléans (1881) und Mazeppa (1884)

Erst die späten Achtzigerjahre sehen nacheinander Welterfolge heranreifen, wenn auch Tschaikowskys Urteil oft zu dem seines Pubikum quer stand.

Die Spätwerke

Die Symphonien Nr. 5 und Nr 6 (»Pathétique«), die Oper Pique Dame und die Ballette Dornröschen und Der Nußknacker mehrten Tschaikowskys Ruhm und befestigten seine Stellung als einer der führenden Meister der musikalischen Romantik, dem es gelang, bei gediegener Formbeherrschung höchsten Ausdruck in seine Musik zu legen. Daß einem Stück wie der h-Moll-Symphonie ein geheimes Programm zugrundelag, wäre für die Hörer auch offenkundig gewesen, wenn das Werk nicht ausdrücklich ursprünglich »Programmsymphonie« hätte heißen sollen. Erst Tschaikowskys jüngerer Bruder Modest, der zu einigen seiner Opern die Texte gedichtet hatte war auf den »Pathétique«-Titel gekommen.

Die letzten Lebenwochen Tschaikowskys waren von privater Tragik überschattet. Eine »Ehrengericht« aus Absolventen seiner Schule hatte ihn verurteilt, weil es zu Gerüchten um eine erotische Beziehung des Komponisten mit seinem Neffen gekommen war. Daß Tschaikowsky nach der Urauführung seiner Pathétique ein Glas unabkochten Wassers getrunken haben soll, obwohl die Cholera wütete, wird denn auch als Exekution des anbefohlenen Selbstmords gedeutet.

Klarheit wird man darüber nicht mehr erlangen.

Unvollendet liegen blieben Skizzen zu einer vor der Sechsten begonnenen Symphonie in Es-Dur, deren Programm mit dem Titel Das Leben durchaus auf die Sechste Symphonie übertragbar wäre. Der erste Satz der skizzierten Es-Dur-Symphonie wurde jedenfalls zu einem Einzelsatz für Klavier und Orchester umgearbeitet und ging als Drittes Klavierkonzert in die Geschichte ein. Sergei Tanejew hat auch weitere Skizzen zur Symphonie verwendet, um diesen Allegro-Satz durch ein Andante und Finale, die gesondert als op. 79 publiziert wurden, zu einem dreisätzigen Konzert zu erweitern. Semjon Bogatyrjew hat diese Arbeiten mit einer Scherzo-Fantasie op. 72 zusammengeführt und als Symphonie Nr. 7 ediert, die 1957 erstmals aufgeführt wurde.


Was man gehört haben muß

Die Symphonien 4-6 unter Jewgenij Mrawinsky, ein Aufnahmeklassiker, der höchste orchestrale Perfektion mit einem Maximum an Emotion unter einen Hut bringt – schon deshalb eine absolute Rarität und dank der Qalität der Leningrader Philharmoniker von begeisterndem Zuschnitt.

Der große Swjatoslaw Richter hat das Tschaikowsky-Konzert des öfteren aufgenommen, unter anderem auch unter Herbert von Karajans Leitung – es wurde eine der meistverkauften Schallplatten der Geschichte. Doch ist vielleicht die packendste Einspielung unter der Leitung des tschechischen Maestro Karel Ancerl gelungen.

Immer wieder wird behauptet, Dirigenten würden Tschaikowskys Musik zu bloßer Effekthascherei nutzen. Wenn schon, dann so wie Leopold Stokowski bei seiner Aufnahme für das kurzlebige Phase-4-Projekt der Decca-Technik: Mit London Symphony gelang diesem Garanten für höchst artifizielle Orchesterkultur eine der brillantesten Aufnahmen aller Zeiten. Die atemberaubende Wirkung läßt alle denkbaren Geschmacks- und Stilfragen kleinlich erscheinen.

Das wirkungsvollste Kammermusik-Werk des Komponisten ist sein Streichsextett Souvenir de Florence, das Mstislav Rostropowitsch mit dem Borodin Quartett und dem Bratschisten Heinrich Talajan auf unvergleichliche Weise aufgenommen hat: mit Schwung, Sensibilität und Sentiment.

Einen schönen Querschnitt durch Tschaikowskys Schaffen in exquisiter Qualität bietet der Mitschnitt von sechs Tschaikowsky-Konzerten des Moskauer Rundfunkorchesters unter Wladimir Fedosejews Leitung – sämtliche Symphonien, die großen Konzerte, Opern-Fragmente und Werke wie die Streicher-Serenade und die Ouvertüre 1812 erklingen hier mit Solisten wie Viktor Tretjakov und Mikhail Pletnev – von Fedosejew mit einer unvergleichlichen Mischung aus kultivierter Klangsinnlichkeit und technischer Perfektion realisiert. Für Einsteiger ideal, für Kenner ein Muss – nach Mrawinsky hat kein Dirigent mehr diesen Komponisten so stimmig aus der russischen Spieltradition heraus verstanden.

DIE KAMMERMUSIK