Streichquartette

Felix Mendelssohn-Bartholdy

Felix Mendelssohn Bartholdys Streichquartette umspannen beinah sein gesamtes Schaffen.

Streichquartett Es-Dur (op. 12)

  • Adagio non troppo – Allegro non tardante
  • Canzonetta. Allegretto – Più mosso
  • Andante espressivo
  • Molto allegro e vivace

Das Es-Dur-Quartett wurde zwar als Opus 12 publiziert entstand aber nach dem in der Zählungen folgenden a-Moll-Quartett. Wie dieses Schwesterwerk spiegelt es Mendelssohns intensive Beschäftigung mit den damals (wie in Wahrheit auch heute noch) als avantgardistisch und unverständlich geltenden späten Streichquartetten Ludwig van Beethovens, die ja zur Entstehungszeit der ersten beiden Mendelssohn-Quartette erst wenige Jahre alt waren.

Mendelssohn hat wiederholt darauf hingewiesen, daß er sich bewußt auf Elemente in Werken wie Op. 130 oder Op. 132 bezogen hätte. Wobei sich das Es-Dur-Quartett eher an den lyrischen Momenten in Beethovens Spätwerk orientiert, während das a-Moll-Stück leidenschaftlich und expressiv geriet.

Wobei die Mittelsätze beider Quartette viel mit den Liedern ohne Worte des Klavierkomponisten Mendelssohn zu tun haben und einem dann von Robert Schumann weiter verfolgten Stil den Boden aufbereiten, der die Ästhetik der Charakterstücke in die große Kammermusik und die Symphonik herüberholt.

Freilich gibt es mit Sätzen wie der Danza tedesca oder sogar der Cavatina aus Op. 130 auch für diese Tendenz bei Beethoven Vorbilder. Die Ungleichheit der Längen der Sätze gehört dazu: Das Andante des Es-Dur-Quartetts ist ein veritables Lied ohne Worte von nur 65 Takten – so sind die beiden Ecksätze jeweils doppelt so lang wie die Mittelsätze zusammengenommen.

Streichquartett a-Moll (op. 13)

  • Adagio – Allegro vivace
  • Adagio non lento
  • Intermezzo. Allegretto con moto – Allegro di molto
  • Finale. Presto – Adagio non lento

Das a-Moll-Quartett ist so etwas wie Mendelssohns Hommage an Beethoven. Es entstand in Beethovens Todesjahr 1827 und stellt die Verbindung zum großen Vorbild mittels einiger Zitate und zitathafter Passagen her. Die Beschäftigung mit Beethoven war für den 18-jährigen Komponisten auch eine Art Protest gegen die im Hause Mendelssohn herrschenden ästhetischen Doktrinen. Ein paar Jahre später erinnert sich der Komponist, wie

meine musikalische Thätigkeit auf meinem eigenen Wege anfing, und als Vater fortwährend in der übelsten Laune war, auf Beethoven und alle Phantasten schalt und mich darum oft betrübte.

Vor der Uraufführung in Paris schon stellte Mendelssohn den Bezug zum Wiener Klassiker her, indem er schrieb:

Morgen wir mein A-Moll-Quartett öffentlich gespielt. Cherubini sagt von Beethoven’s neuer Musik: Ca me fait éternuer, und so glaube ich, das ganze Publikum wird morgen niesen.

Tatsächlich kam es, wenn man dem Bericht des Komponisten glauben schenkt, anläßlich der ersten Aufführung tatsächlich zu Verwechslungen: Ein Mann im Publikum soll Mendelssohns Stück für ein Werk Beethovens gehalten haben.

Hellhörige Musikfreunde verstehen die Zusammenhänge auch ohne Mendelssohns einschlägige analytische Hinweise in einem Brief an den Komponisten-Freund Adolf Lindblad: Die langsame Einleitung des Quartetts klingt wie ein Nachahll der Les Adieux-Sonate, das chromatisierte Fugenthema, das im Adagio des Quartetts auftaucht und – wie die Introduktion – im Finale noch einmal zitiert wird, erinnert tatsächlich frappant an eine Passage aus Beethovens Siebenter Symphonie. Formal diente dem a-Moll-Quartett wohl Beethovens op. 132 in derselben Tonart als Muster: Vom heftig bewegten Übergang von der Einleitung ins Eingangs-Allegro bis hin zum Rezitativ, das dem Finale wie in einer Opernszene vorangeht.

Rezitativisch-beredt ist nicht nur diese Passage in Mendelssohns Werk. Schon die Introduktion zum stürmisch bewegten ersten Satz zitiert Mendelssohns eigenes Lied Frage und kehrt im Finale beziehungsvoll wieder. Im Mittelteil des Adagios setzt ein Rezitativ der heftigen Steigerung der Fuge, die erregt ganz aus den Fugen zu geraten droht, ein jähes Ende und führt zu einer Wiederkehr des sanften Liedes ohne Worte mit dem der Satz begonnen hatte – es erklingt nun kunstvoll verwoben mit den »gezähmten« Elementen des chromatischen Fugenthemas.

Wie ein Satyrspiel auf dieses Adagio nimmt sich das folgende Intermezzo aus: liedhaft über gezupfter Begleitung in den Außenteilen, wiederum fugiert im »Trio«.

Zerklüftet und hochexpressiv gibt sich das Finale, in dem die Gegensätze schroff gegeneinander ausgespielt werden. Selbst das vorwärtstreibende Marschthema, das den energischen Presto-Beginn ablöst, wird immer wieder durch kommentierende rhetorische Einschübe gehemmt. Das Wiederauftreten des Fugenthemas aus dem Adagio bringt das formale Gerüst vollkommen aus dem Gleichgewicht. Quasi una fantasia läuft die Bewegung in einem Violinsolo aus, dem wie ein andächtiger Schlußchor die Erinnerung an den Beginn des Werks folgt. Das Ende formuliert eher noch einmal die eingangs gestellte Frage als daß es eine Antwort geben könnte…

Hier diente wohl ebenfalls Beethoven mit seinem »Muß es sein«, das dem letzten seiner Streichquartette (op. 135) vorangestellt ist, als Vorbild – doch anders als dieses Vorbild, scheint Mendelssohn die Antwort letztendlich zu verweigern. Ein Beethoven’sches, affirmatives »Es muß sein!« bleibt er seinen Hörern schuldig.

Streichquartett D-Dur (op. 44/1)

  • Molto allegro vivace
  • Menuetto. Un poco allegretto
  • Andante espressivo ma con moto
  • Finale. Presto con brio

Wie bei den ersten beiden Quartetten täuscht auch im Falle der Dreierserie Opus 44 aus den jahren 1837/38 die gedruckte Reihenfolge über die Entstehung der Werke: Das D-Dur-Quartett war das letzte der drei Stücke. Es zieht quasi Bilanz und gehört zu den brillanteste, geschliffensten romantischen Versuchen im heiklen Genre – mit den virtuosen Passagen für den Primgeiger knüpft es an manche Haydn’sche »Geigenquartette« an, die man – wie dieses Mendelssohn-Werk als verkappte Violinkonzerte bezeichnet hat. Es wurde am 16. Februar 1839 in Leipzig uraufgeführt. Gewandhauskonzertmeister Ferdinand David musizierte mit drei Orchesterkollegen. Auf den »Konzertsatz« für Freund David läßt Mendelssohn ein gravitätisch-altmodisches Menuett folgen, das er wohl im Kopf hatte, wenn er diesem Werk ausdrücklich „Rococogeschmack“ zuschrieb. Das Andante, ist ein unverwechselbar mendelssohnisches Lied ohne Worte, dessen Melodie wieder ganz auf die Solovioline zugeschnitten ist, bei der Reprise aber in die Unterstimmen wandelt, um von tönenden Girlanden verbrämt zu werden. Damit stehen wie schon in den Quartetten op. 12 und op. 13 zwei Charakterstücke inmitten gewichtiger Ecksätze, wobei das Finale des D-Dur-Quartetts den »konzertant-virtuosen« Zug des ersten Satzes noch weiter zuspitzt zu einem veritablen akustischen Hochseilakt.

Streichquartett e-Moll (op. 44/2)

  • Allegro assai appassionato
  • Scherzo. Allegro di molto
  • Andante
  • Finale. Presto agitato

Gestern Abend wurde mein E-Moll-Quartett von David öffentlich gespielt, und machte großes Glück. Das Scherzo mußten sie da capo spielen, und das Adagio gefiel den Leuten am besten. Dies setzte mich in langes Erstaunen. In den nächsten Tagen will ich ein neues Quartett anfangen, das mir besser gefällt.

Selten war sich Felix Mendelssohn-Bartholdy über die Qualität eines Werks so im unklaren wie im Falle dieses chronologisch ersten, 1837 komponierten seiner »mittleren« Streichquartette. Die Tonart – und der Charakter des Hauptthemas des Kopfsatzes – nehmen zwar schon den großen Wurf des im Jahr darauf komponierten Violinkonzerts vorweg, doch die Struktur der Ecksätze des Quartett verrät doch den Kampf des Komponisten mit einer adäquaten Anverwandlung der klassischen Sonatenform, wobei die pulsierende Sechzehntelbewegung im Kopfsatz für mehr und mehr dramatische Energie sorgt und in keinem Moment den Eindruck von »Klassizismus« aufkommen läßt.

Publikum und Fachkritik waren sich im übrigen von der Uraufführung an einig: Die Sympathie gehört in diesem Fall uneingeschränkt den beiden Mittelsätzen, die – wie schon zuvor in den ersten beiden Streichquartetten Mendelssohns – zum Genre der romantischen Charakterstücke zu zählen sind.

Dem Scherzo in E-Dur, das für die Interpreten mit seinen Tremoli und brisanten Vorschlägen zu den heikelsten spieltechnischen Herausforderungen der romantischen Kammermusik gehört, folgt wieder ein typisches »Lied ohne Worte« mit einem von Arpeggien umflorten Gesangsthema.

Dieses Stück darf durchaus nicht schleppend gespielt werden

schreibt Mendelssohn als Vortragsanweisung in die Partitur: Der ununterbrochene Fluß der Melodie, erst spät von punktierten Rhythmen unterbrochen, verleitet zum Verweilen.

Am Finale fesseln vor allem die rhythmischen Verwirrspiele, die Mendelssohn im sonst geradezu volkstümlichen Ambiente treibt.

Streichquartett Es-Dur (op. 44/3)

  • Introduzione. Andante con moto – Allegro vivace
  • Andante con moto quasi Allegretto
  • Menuetto. Grazioso – Trio
  • Allegro molto

In diesem – auch in scheinbar unbeschwerten Momenten durchwegs melancholisch umflorten Werk, das Mendelssohn für das beste seiner mittleren Quartette hielt, das aber am seltensten in den Konzertsälen erklingt, verbeugt sich der Komponist vor zwei seiner großen Vorbilder: Der langsame Satz, seltsam unentschlossen, tastend wirkend, beginnt mit einem Mozart-Zitat und endet mit einer Hommage an Franz Schuberts B-Dur-Klaviertrio

Nicht einmal das Scherzo hat hier unbeschwerten Charakter, sondern trägt geisterhafte Züge. Die Ecksätze hingegen sind ungeheuer energetisch – wobei das Eingangs-Allegro von der einleitenden Sechzehntelbewegung regelrecht beherrscht wird: einmal vorantreibende Begleitfigur, dann wieder melodisches Element, und in der Durchführung insistierende Kraftquelle einer seltsam sinistren Reise über unsicherem Grund.

Streichquartett f-Moll (op. 80)

  • Allegro vivace assai – Presto
  • Allegro assai
  • Adagio
  • Finale. Allegro molto

Dies ist ein Bekenntniswerk, eines der persönlichsten, subjektivsten Dokumente, die je komponiert worden sind. Mendelssohn reagiert mit seinem letzten großen Werk auf den unerwarteten Tod seiner Schwester Fanny Hensel im Mai 1847. Fanny, hochbegabt wie ihr berühmter Bruder, starb unter tragischen Umständen mit 41 Jahren während sie eine Probe zu einer Aufführung der Ersten Walpurgisnacht ihres Bruders leitete. Jäh traf sie ein Schlaganfall, dem sie kurz daraf erlag. Felix Mendelssohn-Bartholdy hat diesen Verlust nie überwunden. Am 4. November desselben Jahres folgte er seiner Schwester ins Grab. Als Epitaph für seine Schwester komponierte er sein f-Moll-Streichquartett, Protokoll seines zerrütteten Seelenzustands.

Befreiung suchte Felix Mendelssohn bei einem Urlaub in den Schweizer Bergen.

Bis jetzt kann ich an Arbeit, ja an Musik überhaupt nicht denken, ohne die größte Leere und Wüste im Kopf und im Herzen zu fühlen.

Er malte zauberisch-schöne Idyllen und komponierte gleichzeitig ein fahles, hochdramatisch-aufwühlendes Streichquartett in f-Moll, das in verzweifelter Aufwallung alle klassischen Formmodelle über Bord zu werfen scheint: Wilde Tremoli und jagende Rhythmen beherrschen den Kopfsatz, ein böser Spuk lastet über dem Scherzo, das statt notorisch schwirrender Mendelssohn’scher Elfenklänge eher eine schwarze Messse zu beschreiben scheint: Eine inmitten kurz aufblitzende Walzerepisode droht in den Wellen negativer Energie zu ertrinken. Das Adagio singt zunächst in versöhnlich weichem As-Dur, schließt aber einen edlen Trauergesang ein. Konkreter hat Mendelssohn, der angebliche »Klassizist« nie auf persönliche Befindlichkeiten musikalisch reagiert. Auch das Finale findet keine Ruhe – der Meister der Stimmungs-Miniatur läßt die tänzerische Bewegung mehr und mehr von den wilden, zerfahrenen Ausdrucksgesten des ersten Satzes einholen und dehnt damit sein erschütterndes Psychogramm auf alle vier Sätze der klassischen Quartett-Form aus. Der radikale Gegenentwurf zur Tradition blieb in der Musikgeschichte folgenlos bis zur Heraufkunft der Moderne.

Mendelssohn starb nur wenige Wochen nach Vollendung dieses Werks nach mehreren Schlaganfällen.

Aufnahmen

Das Es-Dur-Quartett fand mit dem Wiener Originalklang-Ensemble Quatuor Mosaïques einen ideale Anwalt. Gespielt wird mit der nötigen Leichtigkeit, doch niemals »leichtgewichtig«, vor allem mit einem untrüglichen Sinn für beredte, differenzierte Phrasierung. (Naïve/Auvidis, 1998)

Das a-Moll-Quartett spielt das Artemis Quartett mit dem nötigen dramatischen Atem und kostet alle Kontrastwirkungen effektvoll aus – schon der leidenschaftliche Kopfsatz beginnt geradezu explosionsartig nach der schwebend-unwirklichen Atmosphäre der dynamisch feinst schattierten Introduktion. (Erato, 2014)