MYTHEN IN DER OPER

Ein Feuilleton aus dem Jahre 2015

Ganz schön alt schauen sie aus, die griechischen Helden

Einst wimmelte es in der Oper nur so vor mythologischem Personal. Salzburg spielt die »Iphigenie«. Sonst schert man sich aber kaum um ihresgleichen.

Mythologische Gestalten gehören zu den bevorzugten Opernhelden. Nicht erst bei Richard Wagner. Der Bayreuther transferierte ja lediglich eine viel ältere Tradition in germanische Regionen. Seit jeher waren es Orpheus und Elektra, Oedipus oder Daphne, die singend die Theater bevölkerten. Ohne antikes Bühnenpersonal wäre die Oper – als wohl komplexeste abendländische Kunstform – nie entstanden.

Die Legende von der versuchten Wiederbelebung des griechischen Theaters steht am Beginn. Der Freundeskreis des Grafen Bardi in Florenz versucht sich an der Rekonstruktion dessen, was zu Sophokles‘ Zeiten Dramatik bedeutete.

Genau genommen war der Vater des großen Physikers Galilei, Vincenzo, zuerst dran. Der sang zu karger Begleitung Klagelieder des Jeremias und einen Gesang aus Dantes „Göttlicher Komödie“. Es ging ihm darum, dem Wort besonderen Ausdruck zu verleihen, ohne es durch allzu heftige musikalische Verdichtung unverständlich werden zu lassen. So lautete nämlich die Kritik an der jüngsten Entwicklung des kompositorischen Handwerks: Was die Madrigalisten da fünfstimmig zum Besten gaben, klang zwar herrlich, aber man konnte keine Silbe mehr von der Dichtung verstehen.

So weit fiel der Galilei-Apfel also nicht vom Stamm, daß er sich um eine Erneuerung des Weltbilds bemühte, während der Herr Papa an nostalgischen Rekonstruktionsversuchen von 1000 Jahre zurückliegenden Theaterbräuchen herumdilettierte. Natürlich war es ein Vorstoß in die damalige Moderne, wenn man – sich auf die Antike berufend – einen Text zwecks szenischer Darstellung singend deklamierte.

Die todschicke Antikenrevolte. Daß es bei Aischylos und Co. doch ganz anders geklungen haben dürfte, war vermutlich auch der geheimen Gesellschaft um Graf Bardi klar. Sie bestand ja aus Gelehrten, nicht aus Spinnern. Vor allem aber aus Sängern und Musikern.
Alsbald stand man als Apollo oder Orpheus auf den Brettern, die die neue Welt bedeuteten. Es war eine Revolution. Und todschick. Noch nicht einmal zwei Jahre waren vergangen, seit „Dafne“ zur ersten Opernheldin der Geschichte geworden war, als Florenz die Verlobung des Königs von Frankreich mit Maria de‘ Medici mit einem der neumodischen Spektakel feierte.

„L’Euridice“, komponiert von Jacopo Peri (und, wie man heute weiß, zum Teil auch von Giulio Caccini), ging über eine eigens errichtete Bühne im Palazzo Pitti. Die hohen Herrschaften waren so angetan, daß sie Peri, der – am Cembalo begleitet vom Grafen Corsi – selbst den Orpheus gesungen hatte, gleich einluden, nach Paris mitzukommen. Oper war also sofort ein Exportschlager.

Nur Freudentränen

Vor allem musste man nicht zu viel weinen bei dieser ersten musiktheatralischen Adaption des Orpheus- Mythos, denn Textdichter Ottavio Rinuccini hat vorsichtshalber die Geschichte ein bisschen umgeschrieben, missliebige Ecken und Kanten entschärft. Keine Rede mehr davon, daß der edle Sänger sich nicht umwenden darf, um seiner Geliebten noch vor Ankunft in der Oberwelt in die Augen zu blicken.
In „L’Euridice“ gibt es die finsteren Mächte in der Unterwelt und die sanftmütigen Erdbewohner. Der Klagegesang des stimmgewaltigen Orpheus geht dem Herrscher des Hades, Pluto, so zu Herzen, daß er die früh verstorbene Eurydike willig wieder entlässt. Der Rest sind fröhliche Gesänge – und viel ausgiebig im neuen Deklamationsstil zum Ausdruck gebrachtes Gefühl: Recitar cantando nannte man die fortschrittliche, ganz am Text orientierte Gesangsmethode.
In dieser Art sprachen dann über die Jahrzehnte bald auf den Bühnen in ganz Europa die antiken Helden und Götter miteinander, sowie auch etliche griechischen, römischen, skythischen oder persischen Potentaten – auch sie beliebte Opernfiguren aus heroischer Zeit.
In Deutschland versuchte man sich bald an dem neuen Theaterluxus. Poet Martin Opitz übersetzt das Libretto der ersten aller Opern, „Dafne“: „Daphne“, komponiert von Heinrich Schütz, galt die erste deutsche Opernpremiere. Wer weiß, was im Land mit der – heute – größten Dichte an Opernhäusern aus der Gattung hätte werden können, wäre der Dreißigjährige Krieg nicht dazwischengekommen. Schützens „Daphne“ ging jedenfalls verloren.

Währenddessen sang man in Italien allenthalben. In Claudio Monteverdi erwuchs dem Genre der erste Großmeister, von dem man bis heute Stücke immer wieder hervorholt: Orpheus und Odysseus ließ er auftreten; sowie – zwar nicht mythisch, aber doch immerhin antik – die schöne Poppea, das erste Beispiel einer höchst liederlichen Person, die auf offener Szene der Gattin ihren Mann ausspannt.

Die Klage der verlassenen und verstoßenen Octavia inmitten, ein laszives Liebesduett, in dem die ehebrecherische Beziehung unverhohlen gefeiert wird am Ende – an diesem Formmuster sollten sich Generationen von Opernkomponisten orientieren.

Und es störte niemanden, daß in diesem Fall doch wirklich nur noch von der „Unmoral von der Geschicht'“ die Rede sein konnte. Die Betrachter – um die Mitte des 17. Jahrhunderts waren das längst nicht mehr nur Eingeweihte und erlauchteste Kreise, sondern ein verhältnismäßig breites Publikum – werden sich schon das Richtige dabei gedacht haben.

Vielleicht hätte man die Empörten, die 200 Jahre später gegen die melodramatische Darstellung der Liebesaffäre eines jungen Mannes aus gutem Hause mit einer Dame der Halbwelt opponierten, wie sie Verdis „Traviata“ zum Thema hat, an Monteverdis Stück erinnern sollen; sie hatten freilich keine Ahnung davon. Aber Verdis mutiger Entschluss, Dumas‘ „Kameliendame“ auf die Opernbühne zu bringen, entpuppte sich als historische Großtat, zu vergleichen nur mit Mozarts viel früher gewagtem „Figaro“.

Der war als Theaterstück wegen seines revolutionären Inhalts verboten, durfte dank der Großzügigkeit von Kaiser Joseph II. aber gesungen die Burgtheater-Zensur passieren.
Da sangen sie, die Zeitgenossen des Ancien Régime, und zwangen einen Grafen in die Knie; die bürgerlichen Salondamen- und – Herren, und schauten einer „vom Wege abgekommenen“ beim Leben und Sterben zu . . .

Wo blieben die antiken Helden, Götter und Kaiser? Noch Mozart hatte in seinen Anfängen ja den Mithridates, den Sulla, den Idomeneus auftreten lassen, hatte ganz zuletzt sogar die „Milde des Kaisers Titus“ besungen. Freilich: Das Libretto zu dieser „Clemenza di Tito“ aus der Feder des einstigen Hofpoeten Pietro Metastasio, x- fach vertont als Huldigung an mehrheitlich habsburgische Würdenträger, hatte der Komponist umdichten lassen „zu einer echten Oper“.

Was er unter „echt“ verstand, hatte er spätestens im „Figaro“ demonstriert. Richard Strauss und Clemens Krauss haben wohl daran gedacht, als sie in ihrem „Konversationsstück“ über das Musiktheater, „Capriccio“ (1942), den Theaterdirektor über das Publikum philosophieren ließen: „Es will auf der Bühne leibhaftige Menschen von Fleisch und Blut, und nicht Phantome.“ Gemünzt auf die Zeit Mozarts und Glucks, stehen diese Zeilen für die Operngeschichte insgesamt: Es war die Überzeugung eines Giuseppe Verdi wie die eines Richard Strauss, daß leibhaftige Menschen nur von den Schicksalen ebenso leibhaftiger Menschen berührt werden können.

Dazu durften, um noch einmal „Capriccio“ zu zitieren, die Dichter nicht „in fernste Druidenvergangenheit tauchen“, nicht „zu Türken und Persern“. Genau das war in den ersten 200 Jahren der Operngeschichte aber geschehen. Und die Zuschauer hatten, scheint’s, keinerlei Mühe, sich in allegorischen Figuren wiederzuerkennen.

Vermutlich hat es etwas mit dem Bildungsstand des Publikums zu tun, ob es – wie etwa auch in einer Gemäldegalerie – eine Beziehung zu antiken (oder biblischen) Personen herzustellen vermag, ob es die Anspielungen versteht. In Zeiten, in denen Latein kaum und Griechisch eigentlich gar nicht mehr unterrichtet wird, in denen sich – kommen wir zu Persönlichkeiten zurück, die uns ganz am Anfang begegnet sind – die Waage von Vincenzo jedenfalls sehr in Richtung Galileo Galileis geneigt hat, wird der nötige Brückenschlag vermutlich kaum mehr gelingen.

Noch ein Hugo von Hofmannsthal konnte von seinem Compagnon Strauss fordern: „Machen wir mythologische Opern. Es ist die wahrste aller Formen“. Er hatte zu diesem Zeitpunkt längst gezeigt, wie man antike Vorbilder zu modernen Zwecken nutzen kann: Wer nachliest, was bei Sophokles auf der Bühne passiert und wovon dessen Figuren bei Hofmannsthal dann sprechen, der wird erkennen, daß Elektra und Klytämnestra rein gar nichts mehr mit den antiken Frauengestalten zu tun haben, daß aus ihnen Zeitgenossinnen von Sigmund Freud geworden waren – nur deshalb war es für Strauss ja auch möglich, Musik zu deren Dialog zu komponieren, die zum Kühnsten gehört, was unsere Musikgeschichte hervorgebracht hat. Auch „Ariadne auf Naxos“ ist ein Beispiel für die radikale Anverwandlung eines antiken Stoffes im Zeitalter der Psychoanalyse. Und der Komponist hat die Lektion bei seinem Dichter gelernt: Hofmannsthals Nachfolger, Josef Gregor, musste sich heftige Kritik vonseiten Strauss gefallen lassen, der ihn schulmeisternd daran erinnerte, dass, wenn er eine „Daphne“ komponieren sollte, diese modernen Theatergrundsätzen zu gehorchen hätte.

Bei Sophokles erzählen Boten von spektakulären Vorfällen oder Gräueltaten, anno 1938 hatten diese gefälligst auf offener Szene zu passieren: Mord und Totschlag; und vor allem Daphnes Verwandlung. Und zwar selbstverständlich auf Geheiß des abgewiesenen Liebhabers, nach Einbekenntnis seiner Schuld. Die originale Daphne wird ja noch von Papa Peneios in einen Lorbeerbaum verwandelt, um sie vor den Nachstellungen des Apollo zu bewahren. Wen sollte das im 20. Jahrhundert noch kitzeln?

In diesem Sinne eignen sich Opernkomponisten bis heute Antikes zur zukunftsträchtigen Verwertung an. Ob bei Strawinsky. Orff oder Enescu, Henze, Reimann oder Rihm: Oedipus, Antigone, die Bassariden, Dionysos und Medea singen noch immer jeweils nach der neuesten musikalischen Mode.

Lieber Carmen als Aphrodite. Allein, die Spielpläne bevölkern sie nicht mehr. Gefragt ist Spannung wie im TV- Hauptabendprogramm: Die internationalen Aufführungsstatistiken werden angeführt von gar nicht mythologischen Damen wie Tosca und Violetta, Carmen und Mimi, Madame Butterfly, Rosina oder Gilda. Man muss auf die Listen aus deutschsprachigen Ländern schauen, um Ariadne und Elektra überhaupt unter den ersten 50 aufzuspüren. Dort findet man auf hinteren Rängen, knapp vor Daphne, sogar Glucks Alceste und die beiden Iphigenien. Die Salzburger Festspiele geben heuer „Iphigénie en Tauride“ und dazu auch Purcells „Dido und Aeneas“. Wie man sieht: keine Selbstverständlichkeit.

» . . . andern Kunstwerken fehlt, mit den griechischen verglichen, die Zuverlässigkeit . . . «

HÖLDERLIN
Im Kommentar zur Übersetzung von Sophokles‘ „Oedipus, Tyrann“

»Machen wir mythologische Opern. Es ist die wahrste aller Formen.«

H. V. HOFMANNSTHAL
„Fiktives Gespräch“ des Dichters mit Richard Strauss als Vorarbeit zur „Ägyptischen Helena“.

»Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten Funktionen nur von Unendlich- keiten – die Mythe log.«

GOTTFRIED BENN
Aus:“Verlorenes Ich“


»Es will auf der Bühne leibhaftige Menschen von Fleisch und Blut, und nicht Phantome.«

STRAUSS/ KRAUSS
Zitat aus „Capriccio“ (1942). Theaterdirektor La Roche über das Publikum.


Die Sorgen der alten Herrschaften gehen uns noch etwas an

Eine Auswahl der furiosesten Momente aus antiken Tragödien, die sich auf CD nachhören lassen: von der Callas bis zur Rysanek.

Die Probe aufs Exempel machte Elisabeth Kulman in ihrem Liederabend bei den Salzburger Festspielen: Begleitet von Eduard Kutrowatz sang sie als Zugabe das „Ach, ich habe sie verloren“ aus Glucks „Orpheus“. An dieser Arie schieden sich von Anfang an die Geister. Eine C-Dur-Melodie, die sich strahlend schön und entspannt vortragen lässt – wie soll die zu dem schmerzvollen Text passen?

Es kommt immer darauf an, wer eine Melodie singt, und wie. Der Kulman gelang es, durch Stimmfarbe, Artikulation und Phrasierung „ein gar traurig Lied“ aus dem Stück zu machen. So muss es wohl gemeint gewesen sein.

Gluck also kann man Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man sein Bestreben ernst nimmt, stets getreulich dem Text zu folgen. Der Wahrhaftigkeit galt sein Bestreben – und er wollte ihr gegen die wuchernde barocke Musiziertradition zum Durchbruch verhelfen, aber doch den antiken Stoffen treu bleiben, die schon die Altvordern als ideale Librettogrundlagen bewertet hatten.

Suchen wir nach Sendboten, die uns Glucks Musik und antike Schicksale ins Heute katapultieren, dann werden wir bei Maria Callas fündig, die „Divinité du Styx“ („Alceste“) wie keine andere zur aufgeputschten dramatischen Szene gemacht hat. Die diversen Aufnahmen sind immer wieder aufgelegt worden und auch im Internet leicht zu finden.

So viel aufwühlende Emotionalität hat in antiker Sache nur noch Mozart freigesetzt; freilich hat er das mutige, wilde Stück noch vor der Uraufführung gestrichen. Gottlob ist es erhalten geblieben, und jede Elektra singt es heute gern, wenigen aber gelingt es so wie Alexandrina Pendachanska (bei René Jacobs/harmonia mundi), die Bedrohlichkeit des hereinbrechenden Irrsinns so beklemmend in vokalen Ausdruck zu verwandeln.

Musikhistorisch etwas näher liegt uns schon Luigi Cherubinis „Medea“, deren große Finalszene Leonie Rysanek einstens unvergesslich intensiv zu gestalten wusste. Davon dürfte legal zwar keine Aufnahme zu bekommen sein; doch werden Suchende sicher leicht fündig . . .

Von den „modernen“ Antiken-Vertonungen sind die von Richard Strauss natürlich Favoriten in den Spielplänen und CD- Katalogen. Die ganze Albtraumwelt der Psychologie des Fin de siècle vermählt sich da mit der lapidaren Wucht der antiken Tragödie: Wie Birgit Nilsson und Regina Resnik anlässlich der Wiener Premiere unter Karl Böhms Leitung (1965) als Elektra und Klytämnestra aneinandergeraten sind, muss man gehört haben (Orfeo).

Böhm dirigierte auch die Fest-Aufführung der „Daphne“ zum 100. Strauss-Geburtstag im Theater an der Wien mit Hilde Güden, James King und Fritz Wunderlich – ein Aufnahmeklassiker voll Livespannung.

Vom Strauss-Apostel unserer Tage, Christian Thielemann, kommt hoffentlich irgendwann legal ein Mitschnitt der „Ägyptischen Helena“ mit Deborah Voigt aus London in den Handel: In seiner eruptiven Energetik und Leuchtkraft wäre er die schönste Ehrenrettung für ein vielfach als unspielbar, weil gedankenverwirrt geltendes Kleinod!

Eine rare Chance bietet sich kommendes Jahr in Salzburg: Richard Strauss‘ letzte Antikenoper, „Die Liebe der Danae“, kommt (am Uraufführungsort als Koproduktion mit Wien) unter Franz Welser- Möst wieder einmal szenisch heraus – vielleicht entsteht dabei endlich ein Mitschnitt, der diesem Werk, das Strauss für besonders gelungen hielt, zu größerer Aufmerksamkeit verhilft.