Tradition in der Oper

APERÇU

„Parsifal“ im Advent, „Tristan“ zur Karwoche.
Verkehrte Welt?

Nicht alles, das wie ein Traditionsbruch aussieht, ist wirklich einer. Anmerkungen zu seltsamen Erscheinungen im Wiener Opern-Alltag.

Wagnerianer haben es nicht leicht. Da spreche ich ausnahmsweise einmal nicht von Inszenierungen. Da sind die Verehrer des großen Bayreuthers ja Kummer gewohnt und haben wenig Aussicht auf Besserung. Aber, ganz gleich in welcher Produktion, sogar die gewohnten Aufführungstermine kommen offenbar durcheinander.

In der laufenden Wiener Saison gab man den österlichen „Parsifal“ mit seinem „Karfreitagszauber“ schon in der Adventzeit. Dafür erleben wir am traditionellen „Parsifal“-Termin, dem Gründonnerstag, einen neuen „Tristan“. Ein wenig nostalgisch denke ich zurück an eine kopfschüttelnde Stehplatz-Bekanntschaft. Die meinte irgendwann in den Siebzigerjahren mit Blick auf den Juni-Spielplan — man bekam ihn damals ja nicht schon ein Jahr im Voraus, sondern erst irgendwann im Mai zu Gesicht — „Festwochen ohne ,Meistersinger‘, wo gibt’s denn sowas.“

Hätte die Gute erleben müssen, dass die Wiener Staatsoper ihre geliebten „Meistersinger“ jahrelang überhaupt nicht aufführt, sie hätte die Opernwelt nicht mehr verstanden. Gegen die anhaltende „Meistersinger“-Ignoranz ist die liturgische Advent- und Osterverwirrsal ja geradezu noch eine Kleinigkeit. Und überdies, wenn wir schon bei der Überprüfung historischer Tatsachen sind: Der Karwochen-„Parsifal“ war über die Jahre und Jahrzehnte hin im Wiener Haus am Ring auch nicht so sicher gesetzt!

Zunächst war das Werk nach Wiedereröffung des renovierten Operngebäudes, 1955, gar nicht im Repertoire. Erst Herbert von Karajan brachte 1961 seine Neuinszenierung heraus. Und die fiel schon in der Karwoche 1965 wieder aus, stattdessen umrahmte man damals den spielfreien Karfreitag mit Verdis „Don Carlos“ und Richard Strauss‘ „Daphne“. Dafür gab es am Ostersonntag die „Meistersinger“, tags darauf für alle, die’s doch auch nach der Auferstehung gern besinnlich haben, Pfitzners „Palestrina“, den man gern zu Allerseelen programmierte, bevor er vollständig aus dem Blickfeld des wienerischen Opernbetriebsbüros verschwand.

Doch genug von Traditionsbrüchen. Wagner-Kenner grämen sich gar nicht über die Tatsache, dass der Meister dieser Tage mit dem „Tristan“ zu Wort kommt. Wissen sie doch, dass der Dichterkomponist einst erwogen hatte, im dritten Aufzug seiner „Handlung“ dem leidenden Tristan von einem Helden Trost zusprechen lassen wollte, der „durch Mitleid wissend“ werden sollte: Parsifal sollte auf Burg Kareol vorbeischauen. Also? Der Gralsritter ist im Geiste ohnehin auch heute bei uns . . .