Der Sinkothekar

Mehr als 1000 Abende auf dem Stehplatz gehören unbedingt zum Rüstzeug des Kritikers. Erinnerungen an die Zeit ganz oben links mit Blick auf Karajan, Bernstein, Kleiber und Böhm.

Dr. Wilhelm Sinkovicz
auf seinem alten Stammplatz

Es gibt auch gut bezahlte Stehplätze, den besten davon hat der Dirigent. So lautete der Witz, den wir alle aber nie sonderlich lustig gefunden haben. Unsere Stehplätze waren gewiss billig, aber teuer erkauft, besser: erstanden. Oder sogar: ersessen. „Anglerbedarf“ stand über dem Geschäft, das mit uns ein, wie wir fanden, recht gutes Geschäft gemacht hat. Die kleinen Drahthocker waren unentbehrlich, wenn man sich in den Arkaden auf der Kärntner-Straßen-Seite der Staatsoper, dem heutigen Herbert-von-Karajan-Platz, anstellte.

Autogrammjagd

Die Stehplatzkasse und damit auch die Warteschlange wurden später auf die Operngassenseite verlegt. Wir standen noch auf der Seite des meistfrequentierten Bühnentürls, konnten also auch beobachten, welcher Sänger gerade ins Haus kam oder es nach der Probe verließ. Rasches Ausscheren aus der Schlange inklusive, um Autogramme ins Aufschreibeheft mit den abendlichen Besetzungen zu bekommen.


Kein Buch, kein Café. Nur wir. Im Übrigen war unter den Arkaden noch kein Buchladen, noch kein Kaffeehaus. Nur wir waren dort. Wir debattierten über die Nilsson und ihre Einzigartigkeit und überlegten, wen wir im kommenden Monat gern als Don Giovanni hören würden – der Spielplan war schon veröffentlicht, aber man hatte, abgesehen von illegal aus dem Betriebsbüro geschmuggelten, kopierten Listen, die man manchmal ergattern konnte, bis zur Affiche des nächsten Wochenplakats keine Ahnung, wer singen würde.

Der Kartenverkauf für die Sitzplätze begann damals, wenn ich mich recht erinnere, erst vier Tage vor der Vorstellung. Die Stehplätze wurden ohnehin erst am Abend ausgegeben. Und es waren viele Abende, an denen man die Vorstellung nicht versäumen wollte, denn wenn vielleicht hie und da „Don Giovanni“ zweimal innerhalb kürzerer Frist auf dem Spielplan stand, dann sangen sicher nicht zweimal derselbe Titelheld, dieselbe Donna Anna. Vielleicht war einmal Cesare Siepi, das nächste Mal Eberhard Waechter der Don Giovanni. Wann soll man da, bitte schön, zu Hause bleiben?

Karajan und schlechte Noten

Die Eltern hatten dem Teenager gestattet, so oft er mag die Staatsoper zu bevölkern – nur Fünfer durften keine im Zeugnis aufscheinen. Solange diese Regel eingehalten wurde, war der Spleen mit Kompositionsstudium und danach abendlichen Opern- oder Musikverein-Besuchen toleriert.

Das Arrangement funktionierte, nebenbei bemerkt, sogar während der Matura. Wer wird sich auf Latein vorbereiten, wenn am Abend zuvor Karajan Verdi dirigiert? In diesem Fall wäre es beinah schiefgegangen. Aber eben nur beinah. Der Vierer im Maturazeugnis tangierte mich jedenfalls weniger, als mich eine entgangene Karajan-Vorstellung geschmerzt hätte.

In zwei Reihen zugleich

Das Anstellen für die Stehplätze war übrigens gerade zu Zeiten der legendären Karajan-Stagione extrem ausgeartet. 1977 gab es in den Arkaden zwei Reihen, eine für den „Troubadour“ am 8., eine für „Figaro“ am 10. Mai. Wie wir es gemanagt haben, in beide Vorstellungen hineinzukommen, verrate ich hier allerdings nicht.

Fürs Repertoire mußte man nicht nächtelang stehen oder alle paar Stunden zum Abhaken auf der „Nummernliste“ wieder erscheinen. Aber es kam darauf an, welche Besetzung avisiert war. Wenn etwa die geliebte Birgit Nilsson auf dem Plakat aufschien, wußte man: früher kommen, länger anstellen. Sonst wäre man unter Umständen gar nicht ins Haus gekommen. Eine Nilsson-Brünnhilde, ein Ghiaurov-Boris, eine „Bohème“ oder eine „Traviata“ mit der Cotrubas und Giacomo Aragall ohne mich – das war undenkbar.

Psychologie-Studium

Zu diesem Behufe waren die Anglerstockerln dann praktisch. Wenn man schon die eine oder andere Übung im Konservatorium schwänzen mußte, konnte man doch immerhin kauernd Kontrapunktaufgaben lösen. Solange die Umstehenden nicht eine Diskussion vom Zaun brachen, in die man unbedingt, weil natürlich allwissend, eingreifen mußte.

Gelernt hat man ja – zumindest im Hinblick auf manche Unterrichtsfächer – als Stehplatzbesucher mehr als im Vorlesungssaal. Ein kleines Psychologiestudium war inbegriffen.

Eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, als die Kassa geöffnet hatte und die Schlangen in eine Parterre- (15 Schilling) und eine Balkon/Galerie-Schlange (zehn Schilling) geteilt war, erwarb man seine Karte, die eine (täglich wechselnde, nach dem Zufallsprinzip generierte) grüne Nummer trug. Nach dieser Nummer wurde kontrolliert. Der Geschwindigkeit halber, denn sobald nach Freigabe durch die Behörden „Brangänes Wacheruf“ ertönte − „Einlass!“ −, gab es kein Halten mehr. Man stürmte in den vierten Stock, um den möglichst besten Platz zu ergattern und ihn an der Stange mit einem Schal oder Tuch zu markieren.

Dann war eine halbe Stunde Ruhe – bis beim ersten Läuten sich alle versammelten und, jetzt kam die Psychologie ins Spiel, die Unwissenden hinwegkomplimentiert werden mußten, die sich nichts ahnend an den markierten Plätzen aufgepflanzt hatten.

Praktisches Musik-Studium

Bei Vorstellungen, die optisch nicht viel versprachen, wählte der Kenner oft gleich einen Platz Galerie ganz Seite. Die erste Reihe hatte dort den Vorteil, daß man eine Zeit lang auch auf den Stufen sitzen konnte; vor allem aber gewährte sie freien Blick auf die jeweilige Orchesterhälfte und – ganz wichtig – auf den Dirigenten.

Das war der praktische Teil der Studien. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ein – leider sehr früh verstorbener – Studienkollege angesichts von Herbert von Karajans „Troubadour“-Dirigat zwischendurch beinah enttäuscht meinte: „Der schlägt einen ganz normalen Dreier.“


Unerhörtes mit „fast nichts“. Das scheinbar so simple Dirigierhandwerk ist ja letztlich für alle bindend – es kommt immer nur darauf an, wer den besagten Dreivierteltakt regelrecht schlägt. Und mit welcher Körpersprache er das tut. Charisma gehört bei jedem Großen dazu, der, zweite Stufe des Lehrgangs, groß ist, weil er auch spürt, wo die Dinge quasi von selbst laufen (müssen), wo oft wenig bis (fast) nichts zu „zeigen“ ist, damit sich Unerhörtes ereignet.

Der Beispiele dafür gab es viele – in einem ganz besonderen Jahr meiner Stehplatzzeit konnte man sogar Herbert von Karajan, Karl Böhm, Carlos Kleiber und Leonard Bernstein hintereinander erleben, jeder auf seine Weise einzigartig.

Am faszinierendsten war – Kleibers singulärer Gebärdenkunst zum Trotz – vielleicht doch Böhm, wenn er sich am Ende des zweiten Aufzugs der „Frau ohne Schatten“ von seinem Sessel erhob und damit einen Sturm entfesselte, wie man ihn nachher wirklich nie wieder erlebt hat.


Wann setzt der Applaus ein? Zum psychologischen Teil des Lehrgangs gehörte wiederum die Frage, wann Applaus einsetzen muss, um den Rest des Publikums nach einer Arie aus der Lethargie zu reißen und dem Sänger seinen gerechten Lohn schon während der Vorstellung zukommen zu lassen. Das ist in vielen Fällen ganz einfach, in manchen allerdings etwas vertrackt. Wenn Christa Ludwig die Ortrud sang, konnte man aber sogar Spitzendirigenten dazu zwingen, die Wagner’sche „unendliche Melodie“, die eigentlich keine Pausen verträgt, nach dem Fluch „Entweihte Götter“ zu unterbrechen, damit das Publikum kurzfristig das Sagen hatte.

Zwischenrufe

Weniger erfreulich waren immer schon die Zwischenrufer, die sich nach dem Muster der Mailänder Loggionisti, unseren italienischen Verwandten, hie und da auch in Wien wichtigzumachen versuchten. Da klafft doch ein gewaltiger Kulturgraben zwischen der Scala und der Staatsoper, gebricht es den deutschsprachigen Habitués doch meist an der entsprechenden Schlagfertigkeit und am nötigen Witz. Und ein simples „Povero Verdi“ hört sich in Wien, auch wenn es noch so gerechtfertigt erscheinen mag, doch immer an wie während des Transports schal gewordene Importware.

Manche Kollegen verdächtigten übrigens mich wegen meines in den Arkaden beim Anstellen geschärften Mundwerks das eine oder andere Mal des vorlauten Beckmessertums. Entschieden zurückweisen muss ich die Anmutung, ich hätte jenem Besucher, der einmal in die Generalpause nach dem großen C-Dur-Crescendo im dritten Akt der „Jenufa“ hineinapplaudierte, ein entschiedenes „Trottel“ entgegengerufen. Wenn die Anmerkung des kühnen Streiters für Janáčeks musikalische Hochspannung in der Sache auch nicht ganz unrichtig gewesen sein mochte . . .

Spitzentöne, Spitzentanz

Weil so viel von Dirigenten die Rede war: Viele Abende besuchte man ausschließlich wegen der Sänger. Und da wußte man als neugieriger Stehplatzler natürlich vor allen andern, was geschehen würde, wenn einmal die Aufmerksamkeit von Kritikern und Premierenpublikum auf die Zerbinetta einer Edita Gruberova gelenkt würde.

Das Koloraturwunder aus der Slowakei bejubelten wir schon lang vor der legendären „Ariadne“-Premiere als Königin der Nacht oder als Rosina, die im „Barbier von Sevilla“ mit ihrem hohen F von der Wendeltreppe des Bartolo-Hauses bis zum Souffleurkasten nach vorn spazierte.

Unvergesslich wegen der puren Schönheit des Vokalklangs die Duette von Gundula Janowitz und Lucia Popp im „Figaro“, in der „Arabella“. Zur Janowitz pilgerten selbst Ballettmuffel, wenn sie mit den Philharmonikern unter Heinrich Hollreiser zu Rudi van Dantzigs „Vier letzte Lieder“ den luxuriösen Richard-Strauss-Klangteppich wob.

Und wer Ballett liebte, wie ich, bevölkerte den Stehplatz natürlich auch, wenn Rudolf Nurejew auftrat, oder bei den (ich glaube nur zwei) Abenden, die uns Mikhail Baryshnikov schenkte. Dann hieß es natürlich, rechtzeitig in der Schlange stehen, denn für den Tanz taugte der Stammplatz Galerie ganz Seite so wenig wie für Inszenierungen, in denen viel zu sehen war.


Fachsimpeln mit Wittgensteins Neffen. Heute wäre ich oft froh, bei neuen Produktionen wenig bis gar nichts sehen zu müssen und mich nur auf die Musik konzentrieren zu dürfen. Oder mich hie und da in der Pause zu „vertratschen“ und einfach den zweiten Akt zu schwänzen – wie es mir das eine oder andere Mal mit meinem Stehplatz-Bekannten Paul Wittgenstein ergangen ist, von dem ich viele Sätze noch im Ohr habe, die Thomas Bernhard später in Romanen oder Theaterstücken verwendet hat.

Ausführlichst wußte Wittgenstein aus seinem Buch „Gott ist gleich 13“ zu zitieren, von dem er immer wieder gesprochen und schon gewußt hat, wie viele Seiten das Werk haben würde. Ich glaube, er hat keine Zeile davon je zu Papier gebracht, sondern bis ins hohe Alter lieber Wagner und Strauss gehört: „Licht überm See“, sang er gern die Anfangsworte der Amme aus der „Frau ohne Schatten“, die er am Traunsee auf dem väterlichen Grundstück aufführen lassen wollte: „Das wird sich dort gut machen. Mit den Philharmonikern habe ich schon gesprochen.“

Nur auf der Galerie! Der Stehplatz, ein Ort der kuriosesten Begegnungen, übrigens natürlich nur auf der Galerie, nicht allein der fabelhaften Akustik wegen, sondern getreu dem alten Stehplatzler-Sprichwort: Der Stall ist immer unten, oben ist der Heuboden . . .

Gespräch im März 2013 im Wiener Hotel Imperial

Angelika Kirchschlager dreht den Spieß um:

SÄNGERIN INTERVIEWT KRITIKER