DAS STREICHQUARTETT

Kleine Mythologie einer musikalischen Form

Ein Feuilleton aus dem Jahr 2015

Es ist gut ein Vierteljahrtausend her, daß Haydn das Streichquartett erfand. Seine Kreation wurde zur höchsten Ausprägung des klassischen Stils – und zum »Osterei« des Konzertbetriebs.

Vernünftige Menschen diskutieren – ein Fest!

Beinah hätten wir vergessen, dem Streichquartett zum Geburtstag zu gratulieren! Da bei ist die Kunstgattung 250 Jahre alt geworden. Ein Vierteljahrtausend Streichquartett! Präzis lässt der Geburtstag sich ja nicht terminisieren, also ist es nie zu spät für eine Würdigung. Heute passt es überdies deshalb, weil das Streichquartett in Wahrheit so etwas wie ein Osterei in der europäischen Kulturgeschichte darstellt. Jedenfalls ist unser lieb gewordenes klassisches Konzertwesen der Quartettkultur entschlüpft wie das Küken dem Ei. Aber der Reihe nach.

Anders als bei der Symphonie stimmt in diesem Fall die Mär, Joseph Haydn hätte die Gattung erfunden. Zwar gab es vor seiner Zeit schon Werke für zwei Violinen, Bratsche und Violoncello, also vier unabhängige Stimmen ohne den bis zum Ausklang des Barock unabdingbaren „Basso conti nuo“. Aber Haydn hat seit den späten Fünfzigerjahren des 18. Jahrhunderts geradezu fanatisch an der Ausbildung des neuen Genres gearbeitet: aus zeittypischen Divertimenti viersätzige Werke mit raschen Ecksätzen, die einen langsamen Satz und ein Menuett (als Restbestand der Divertimento- Gattung) umfasst haben.

Mit dieser formalen Entwicklung ging die Befreiung der Einzelstimmen einher, deren Voraussetzung die Emanzipation vom Generalbass war. Wie in seinen Symphonien entwickelte Haydn auch und besonders in den Quartetten die Abkehr von der barocken „Diskussion“ eines Themas, innerhalb derer die rhythmische Bewegung in der Regel homogen blieb. Das dialogische Prinzip, Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument wurden zu musikalischen Parametern.

Dieser „klassische Stil“ fand im Streichquartett, von dem Goethe meinte, es repräsentiere die Unterhaltung von „vier vernünftigen Leuten“, seine sublime Ausprägung. Wie sehr Mozart von den einschlägigen Werken Haydns beeindruckt war, ist oft erzählt worden. Auch, wie viel Mühe den Meister seine Haydn gewidmeten sechs Streichquartette von 1785 gekostet haben, die er ausdrücklich „Produkt einer langen und anstrengenden Arbeit“ genannt hat.

Wie Mozart Haydn forderte. Allein, diese Stücke führten das Genre auf eine Höhe, die sogar den Gründervater noch einmal kräftig forderte: Haydns späte, zum Teil nach Mozarts Tod entstandene Quartette weiten kompositorisches Raffinement und Ausdrucksmöglichkeit noch aus.

Beethoven trieb – wie auch als Symphoniker – die Form in ungeahnte Bereiche vor. Nur das Wunder Schubert konnte noch nachsetzen und vermochte, romantischen Subjektivismus mit klassischer Formgebung noch einmal in Balance zu bringen. Welchen Gipfel er erreichte, war nicht einmal ihm selbst bewusst: Quartette, meinte er, würden ihm „den Weg zur Symphonie bahnen“.
Späteren Generationen schien der Pfad zum Streichquartett weitaus dorniger. Wie respektvoll demonstriert Opernmeister Verdi auf dem Höhepunkt seines Schaffens im vierstimmigen Satz sein handwerkliches Können! Ähnlich verhält es sich mit den beiden großen französischen Impressionisten: Als Maurice Ravel dem älteren Claude Debussy sein Streichquartett vorlegt, rät dieser, nicht eine Note an der Partitur zu ändern: Gemeinsam mit seinem g-Moll- Quartett, das ebenfalls ein Solitär bleiben sollte, schien ihm dieses Werk geeignet, die Tauglichkeit der neuen, impressionistischen Tonsprache sozusagen in der Königsdisziplin unter Beweis zu stellen.

Zu beachtlicher Fülle wuchs das Quartettrepertoire im slawischen Raum: Dvorák gelang eine Reihe außerordentlicher, zuletzt auch formal neuartiger Beiträge. Smetana weitete nicht nur im viel gespielten „Aus meinem Leben“, sondern auch im späten, zerklüfteten, schon von drohender geistiger Umnachtung beschatteten d-Moll-Quartett das Vokabular ins Programmatische, was Leos Janácek dann in zwei tönenden „Leseprotokollen“ – über Tolstois „Kreutzersonate“ und eigene „Intime Briefe“ – leidenschaftlich zu subjektivieren verstand.

Verstörende Tagebücher. In ähnlich verstörende Ausdruckswelten dringt Dmitri Schostakowitsch vor, der die Form des Streichquartetts wählte, um die grauenhafte Situation des Künstlers in Zeiten der Diktatur tagebuchartig zu dokumentieren – und diese Skizzen mit Versuchen klassischer Formfindung zu harmonisieren.

Daneben sind die sechs grandiosen, variantenreichen Streichquartette Béla Bartóks die einzige ausgreifende Werkfolge eines Komponisten, die für das Quartettrepertoire noch relevant wurde. Im Übrigen nutzten wichtige Exponenten der musikalischen Moderne das Quartett, um Wegmarken zu setzen. Dazu genügten jeweils ein oder zwei Kompositionen: Alban Bergs op. 3 und die „Lyrische Suite“ sind nebst den aphoristischen „Stücken“ und „Bagatellen“ Anton von Weberns ideale Demonstrationsobjekte der Ziele und Sehnsüchte der Wiener Schule.

Will man es als Zufall werten, daß deren Gründervater Arnold Schönberg ausgerechnet in einem Streichquartett den Rubikon überschritt? In seinem op. 10 wechselt er vom anfänglichen fis-Moll in die Freiheit der sogenannten Atonalität, wozu der Sopran singt: „ich fühle luft von anderem planeten“.
Orientierungspunkte, wohin avantgardistische Imagination führen kann, setzten auch Meister wie Witold Lutoslawski oder Roman Haubenstock- Ramati in Form von Streichquartetten. Der Nimbus der Gattung forderte die äußerste Anspannung aller Kräfte.

Er hatte schon um 1800 zur eingangs erwähnten Osterei-Funktion geführt: Ignaz Schuppanzigh, Primgeiger zunächst des Privatquartetts von Fürst Lichnowsky, später des Streichquartetts im Dienste von Fürst Lobkowitz, erfand kurz nach 1800, also zu einem Zeitpunkt, als es noch keine Konzertsäle und schon gar keine Symphonieorchester gab, das Konzertabonnement – und damit den bürgerlichen Konzertbetrieb, wie wir ihn bis heute kennen.

Haydn, Mozart, Beethoven! Von Anfang an stand das Repertoire fest. Man spielte Haydn, Mozart und Beethoven. So blieb das bis heute. Angereichert freilich durch Schubert, Schumann, Brahms und die genannten Meister sowie durch immer neue Versuche von Zeitgenossen, die sich bereit dafür fühlen, den Gipfel zu stürmen. Die Wiener Klassik aber steht im Zentrum de internationalen Kammermusiklebens, das in zahllosen Streichquartettzyklen in aller Welt sein Rückgrat gefunden hat. Durch Aufführungen und Aufnahmen der Beethoven-Quartette definieren sich seit jeher die weltreisenden Ensembles, seien sie nun Amadeus, seien sie LaSalle, Borodin oder Juilliard, Végh oder Alban Berg benannt. Eine ganze Riege junger Quartette versteht es, die technisch wie musikalisch eminenten Qualitätsvorgaben dieser Vorbilder oft sogar noch zu übertrumpfen: Das Streichquartett wird also voraussichtlich auch seinen 300. Geburtstag in voller Blüte feiern.

Pulsschläge und verrückte Flüstertöne

Das Ausdrucksrepertoire der Streichquartettliteratur ist enorm und reicht von der vollkommenen Verschmelzung von Esprit und Handwerk bis zu radikalen Wutausbrüchen.

Gewaltig viele Noten“, soll Kaiser Joseph dem Komponisten Mozart zugerufen haben. „Grad so viel als nötig“, hat Mozart angeblich darauf geantwortet. Vielleicht ist das die schönste Definition von „Klassik“, die je formuliert wurde. Jedenfalls ist es die kürzeste.
Wer nachhören will, wie das ist, wenn man ein Thema auf wahrhaft klassische Weise diskutiert, nicht zu viel und nicht zu wenig dazu sagt, sondern stets den Gesetzen harmonischer Architektur verpflichtet bleibt, sollte den Variationensatz aus dem sogenannten „Kaiserquartett“ von Joseph Haydn hören. Er könnte am Anfang einer Beschäftigung mit dem Genre Streichquartett stehen, denn die gebotene Schlichtheit ist hier in Wahrheit mit dem höchsten Raffinement gepaart.

Genau darum geht es bei der viel zitierten „Unterhaltung von vier vernünftigen Menschen“. In diesem Sinn bietet sich Mozarts G-Dur- Quartett aus der Reihe der Haydn gewidmeten Streichquartette von 1785 (KV 387) als Einstiegsdroge an: Die Balance zwischen geistreicher Diskussion und gefühlsmäßigem Tiefgang bleibt hier auf mirakulöse Weise gewahrt, auch dort, wo im Andante cantabile die herrliche Gesangsmelodie ausdrucksvolle harmonische Abenteuer erlebt, und wo im Finale sich barocke Fugenkunst und Rokoko-Eleganz in tänzerischer Beschwingtheit finden. Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren demonstriert auch Beethoven in seinem für Hörer, Spieler und Analytiker bis heute schwer zu ergründenden Spätwerk, das fast ausschließlich der Gattung Streichquartett gewidmet ist.

Herzrhythmusstörungen. Hier prallen etwa im B-Dur-Werk op. 130 die Extreme aufeinander: eine von schwindel erregenden dynamischen Spielereien angeheizte „Danza tedesca“ und eine überirdische „Cavatina“, in der die zu Herzen gehende Melodie einmal von einem veritablen kardiologischen Phänomen gestört wird, das der Komponist in der Partitur ausdrücklich mit „beklemmt“ überschreibt. Herzrhythmusstörungen im Dreivierteltakt, in der „letzten“ Tonart des Quintenzirkels, Ces-Dur – die Kunst der subjektiven Aussage inmitten eines klassischen Formverlaufs ist auch später nie kühner geübt worden.

Von den romantischen Quartetten empfehlen sich neben den expressiven Schubert-Stücken in a-Moll, d-Moll („Der Tod und das Mädchen“) und G-Dur die Quartette von Brahms, Dvoráks leichtfüßig-raffiniertes F-Dur-Quartett, das Schwesterstück zur Symphonie „Aus der Neuen Welt“, und dann eines der beiden Spätwerke dieses Komponisten, op. 105 und 106, die Freunden breit angelegter romantischer Erzählungen von reichem Erlebnischarakter ausgiebiges Hörvergnügen bieten.

Die Abenteuer der Moderne. Die Abenteuer der Moderne beginnen mit den verzaubernden Klängen des langsamen Satzes aus Debussys g-Moll-Quartett und gehen über die atemberaubenden Flüstertöne in den „Scherzo“-Sätzen von Alban Bergs „Lyrischer Suite“ bis zu heftig dissonierenden Erschütterungen, die uns (und den Musikern) Bartók im Finale seines Vierten Quartetts zumutet – das klingt, als wäre eine Rockband plötzlich außer Rand und Band geraten, und das schon 1928!

Wer auf den Geschmack gekommen ist und sich die reiche Ernte der Quartettliteratur nicht entgehen lassen möchte, sollte Abonnent werden. Je nach Vorlieben ergeben sich die unterschiedlichsten Möglichkeiten, sei es bei einem durch die Arbeit mit Nikolaus Harnoncourt geschulten Originalklangensemble wie dem Quatuor Mosaïques (Klassik und Romantik), sei es bei einem philharmonischen Traditionsquartett wie dem Küchlquartett, sei es bei den fabelhaften beiden jungen Gruppen, die sich im Konzerthaus heute den ehemaligen Zyklus des Alban-Berg-Quartetts teilen.

Bei Artemis & Belcea, beide übrigens – apropos Emanzipation der Stimmen – von Damen geführt, reicht das Repertoire 2015/16 im Mozartsaal wieder von Haydn und Beethoven über Schubert und Grieg bis Bartók und Janácek, eine Uraufführung von Thomas Larcher inbegriffen.

Qualität garantiert: Sowohl das Artemis-Quartett als auch die „Belceas“ demonstrieren die höchste Stufe interpretatorischer Kultur, die im Gefolge der Aufbauarbeit des legendären Alban-Berg- Quartetts erreicht wurde.

HISTORIE
Um 1760:
Joseph Haydn arbeitet an vierstimmigen „Divertimenti“. 1781: Sechs Streichquartette op. 33 von Haydn publiziert. 1785: Mozart „kontert“ mit sechs Haydn gewidmeten Quartetten. 1798-1827: Beethoven komponiert 16 Streichquartette.
1804: Ignaz Schuppanzigh legt das erste Konzertabonnement auf: Quartettabende im Hotel „Zum Römischen Kaiser“.
1824: Einzige Aufführung eines Streichquartetts von Franz Schubert zu Lebzeiten des Komponisten.
1893: Claude Debussy schreibt sein Streichquartett.

1908: Skandalumwitterte Uraufführung des Zweiten Streichquartetts von Arnold Schönberg.
1996: Ein für die Salzburger Festspiele konzipiertes Quartett von Karlheinz Stockhausen, in dem die vier Spieler in Helikoptern musizieren, wird in Amsterdam uraufgeführt.