Igor STRAWINSKY
1882 - 1971
Jugendfreunde, die Söhne des Komponisten Niklolai Rimskij-Korsakow, führten den Jus-Studenten Igor Strawinsky auf die rechte Fährte: Ihr Vater gewährte dem offenkundig talentierten jungen Mann kostenlos Unterricht und machte den Schüler nach dem Tod von dessen strengen Vater Fjodor Strawinsky zu seinem Ziehsohn.
Der machte zwar nur gemächliche Fortschritte, hatte es aber später nie nötig, ein Konservatorium zu besuchen. Gleich sein erstes Orchesterwerk, komponiert anläßlich der Hochzeit der Tochter Rimskij-Korsakows, entpuppte sich als Geniestreich: Feux d’artifice geriet programmgemäß zu einem veritablen Feuerwerk. An Inspiration mangelte es Strawinsky nicht; und das Instrumentieren hatte er von Meister Rimskij gelernt.
Rimskij-Korsakows Schule
Der Lehrer starb wenige Tage nach der Hochzeit seiner Tochter und hat die Premiere von Feux d’artifice nicht mehr erlebt. Das Werk kam am selben Abend wie Strawinskys zweites Orchesterstück, das Scherzo fantastique im Jahr 1909 in St. Petersburg zur Uraufführung.
Serge Diaghilev
An diesem Abend war - man mag nicht an Zufälle glauben - der Tanz-Impresario Serge Diaghilev im Auditorium. Stets auf der Suche nach neuen Talenten, die passende Musik zu den bahnbrechenden Choreographien seiner Ballets russes komponieren könnten, griff Diaghilev zu. Das Potenzial Strawinskys richtig taxierend, gab er ihm den Auftrag, die Musik zum → Feuervogel zu schreiben.
Die Premiere im Pariser Palais Garnier, 1910, wurde ein triumphaler Erfolg. Strawinsky wurde neben längst anerkannten Zeitgenossen wie Ravel oder Richard Strauss zum primus inter pares unter Diaghilevs Komponisten und erlangte spätestens mit den beiden folgenden Ballettmusiken, Petruschka und → Le sacre du printemps Weltgeltung. Der Sacre brachte den Komponisten angesichts des legendären Uraufführungs-Skandals auch weltweit als führenden Meister der musikalischen Avantgarde in die Schlagzeilen.
Mit Ausbruch der Revolution, 1917, war für den polyglotten Strawinsky klar, daß er nach Rußland nicht zurückkehren würde. Von einem Kuraufenthalt in der Schweiz begab er sich nach Paris, wo er erneut für Diaghilev komponierte.
Neoklassizismus
Daß er sich von Werk zu Werk stilistisch wandelte, ohne seinen unverwechselbaren Strawinsky-Ton zu verlieren, war seit Beginn seiner Karriere klar. Doch mit Pulcinella betrat der Komponist völliges Neuland. Diesmal nahm er Maß an barocker Concerto- und Vokal-Literatur, bediente sich aus einer Sammlung von (wie sich später herausstellen sollte fälschlich) Giovanni Battista Pergolesi zugeschriebenen Piecen und überformte sie mit typischen Strawinsky-Gesten zu einem spritzigen Commedia dell’arte-Stücklein, das in Dekorationen von Pablo Picasso seine Uraufführung erlebte.
In jener französischen Phase seines Lebens entstanden Werke wie die Psalmen-Symphonie für das 50-Jahr-Jubiläum des Boston Symphony Orchestra, das Ballett Persephone oder, auf einen lateinischen Text von Jean Cocteau, der bei der Uraufführung selbst die Partie des Sprechers exekutierte, das Oratorium → Oedipus Rex.
Im übrigen verlief die Zeit in Paris für Strawinsky nicht mehr so glücklich wie die Ära, als Feuervogel oder Sacre du printemps hier zur Uraufführung gekommen waren. Zwar galt er nach wie vor als herausragende Künstler-Persönlichkeit. Aber 1936 verwehrt man ihm die Aufnahme in die Académie française mit der Begründung, er besitze erst seit 1933 die französische Staatsbürgerschaft.
Ein Franc für den Feuervogel
In einem kuriosen Gerichtsverfahren begehrte Strawinsky überdies eine Entschädigung von 300.000 Franc von der amerikanischen Filmgesellschaft Warner-Bros. Er fand, der Film Firebird (William Dieterle, 1934) dessen Handlung gar nichts mit seinem Ballett zu tun hätte, schädige seinen künstlerischen Ruf. Doch das Pariser Gericht beschied in dritter Instanz, der Streifen sei korrekt als Verfilmung von Lajos Zilahy Theaterstück „Tűzmadár“ ausgewiesen, hätte also mit Strawinskys Ballett nur den Titel gemein. Überdies hätte der Komponist ja der Filmgesellschaft die Rechte an seiner Musik verkauft - also entstünde ihm zwar vielleicht ein moralischer, aber jedenfalls kein finanzieller Schaden. Man zog von seiner Forderung 299.999 Francs zugunsten von Warner-Bros. ab und sprach Strawinsky einen (!) Franc Entschädigung zu.Strawinsky und Deutschland
In den späten Dreißigerjahren kam es zu persönlichen Katastrophen. Strawinskys Frau und die Tochter starben, der Komponist selbst erkrankte schwer an Tuberkulose. Der Entschluß, nach Amerika zu gehen, hatte wenig mit den politischen Umständen in Europa zu tun. Strawinsky war keineswegs ein deklarierter Gegener des Faschismus, hatte sich den italienischen wie den deutschen Machthabern anzunähern versucht. In Deutschland nahmen ihn die Ausstellungsmacher zwar als unerwünschte Person in die Ausstellung Entartete Musik (Düsseldorf, 1938) auf. Doch wurde seine Musik in Hitlers »Drittem Reich« gespielt. Noch unmittelbar vor Ausstellungs-Eröffnung hatte Leipzig den Feuervogel herausgebracht, 1937 hatte Karl Böhm in der Dresdner Semperoper die Erstaufführung des Balletts Jeu de cartes (»Das Kartenspiel«) dirigiert.Das »angeschlossene« Wien zeigte noch 1941 im Opernhaus am Ring Petruschka als Gastspiel des Balletts der römischen Oper (übrigens in einer Choreographie von Aurel von Milloss, der später zweimal Direktor des Wiener Staatsopern-Balletts werden sollte).
Emigration in die USA
Doch zog es Strawinsky vor, 1939 in die USA zu gehen, wo man ihn zu Vorlesungen über Musikalische Poetik an der Harvard Unisversity eingeladen hatte.Gipfel- und Schlußpunkt seiner »neoklassizistischen« Phase wurde die um 1950 komponierte Oper → The Rake’s Progress nach einem von Stichen Hogarths inspirierten Libretto von Wystan H. Auden.
Die Premiere dieses Werks in Venedig, 1951, mit Elisabeth Schwarzkopf in der Rolle der Anne Trulove markiert gleichzeitig den Beginn der Spätphase.
Im Banne Weberns
1951 war Arnold Schönberg gestorben - der Antipode Strawinskys auch in den Augen der Vorkämpfer der radikalen musikalischen Moderne, geführt von dem deutschen Philosophen Theodor W. Adorno.Nun wandte sich Strawinsky zum Erstaunen aller Schönbergs Zwöftonmethode zu; allerdings unter dem Einfluß von Schönbergs Schüler Anton von Webern und dessen radikaler, auf äußerste Konzentration zielender Ästhetik. Strawinskys Adlatus Robert Craft hatte das Interesse an Weberns Musik geschürt.
Noch einmal schuf Strawinsky eine Ballettmusik, nun in der kargen Stilistik seines Spätwerks: Agon markiert den Schlußpunkt hinter ein ungemein reichhaltiges und stilistisch vielgestaltiges Bühnenwerk. Strawinskys letztes größeres Werk galt, wie schon des öfteren in seinem Schaffen, einem geistlichen Sujet: Requiem canticles entstanden 1966. In diesem Jahr übersiedelte Strawinsky von Hollywood nach New York, wo er 1971 starb. Sein Leichnam wurde nach Venedig überführt, wo er auf San Michele beigesetzt wurde; übrigens ganz in der Nähe von Serge Diaghilev . . .