Oedipus Rex
1925 - 1927
Jean Cocteau schrieb den lateinischen Text zu diesem Hybridprodukt aus Oratorium und Oper.
30. Mai 1927, Théâtre Sarah Bernhardt, Paris: Jean Cocteau hat ein eigenwillig antikisierendes Libretto gedichtet und spricht selbst den Prolog, dann stürmt Igor Strawinskys Musik los: Stilisierte Stilübungen in unterschiedlichsten barocken, klassischen, romantischen Genres zu einem altertümelnden lateinischen Text, in dem ausdrücklich jedes C als K auszusprechen ist. Ein »Opernoratorium« hatten Cocteau und Strawinsky geschaffen. Statische, rituelle Darstellung der altbekannten Erzählung vom unschuldig schuldig gewordenen König erwünscht.Antikes Theater, für die Moderne neu gedeutet, zu musikalischen Nummern, die Anklänge an Belcanto-Arien ebenso vernehmen ließ wie an Händelsche Chorsätze oder die orthodoxe Liturgie.
Strawinskys Selbstfindung
Die Idee hatte Strawinsky geboren, der in jenen Jahren sich neu definieren mußte, weil an eine Rückkehr in die Heimat unter dem Sowjetstern nicht zu denken war.In seinen Erinnerungen nennt der Komponist ausdrücklich Oedipus Rex als eines jener Werke, die ihn sich selbst wieder finden ließen.
Der Verlust Rußlands und seiner Sprache, verbal wie musikalisch, hat jede Facette meines Lebens beeinflußt...daher war es schwierig, zu einem normalen Zustand zurückzukehren ... Erst nach einem Jahrzehnt des Suchens ... habe ich meinen Weg zu »Oedipus Rex« und zur »Psalmen-Symphonie« gefunden.In einem Brief vom Oktober 1925 erläuterte der Komponist Cocteau seine Idee von einer
lateinischen Oper zum Thema einer antiken Tragödie, deren Handlung allen bekannt sein sollte.Sophokles »Οἰδίπους Τύραννος« sollte als Vorlage dienen. Anleihen an die moderne Psychoanalyse, die gerade diesen Mythos vereinnahmt hatte, versagen sich die Autoren, nehmen jedoch eine bemerkenswerte Änderung im dramaturgischen Verlauf vor: Anders als im Original zieht sich der König, der sich angesichts seiner unrettbaren Verstrickung in tiefste Schuld selbst geblendet hat - Lux facta est sind seine letzte Worte (ein Zitat des biblischen »Und es ward Licht«) -, nicht freiwillig zurück, sondern wird aus der Stadt vertrieben, wenn auch schweren Herzens:
Leb wohl, Oedipus. Wie sehr hat man dich geliebt.sind die Letzten Worte von Cocteaus Sprecher - jener Rolle, die der Dichter bei der Uraufführung - und unter anderem auch bei der zweiten Wiener Einstudierung an der Staatsoper unter Herbert von Karajans Leitung - selbst übernommen hat. Diese Partie soll, anders als die vom Theologiestudenten und nachmaligen Kardinal Jean Daniélou ins Lateinische übersetzten Gesangstexte, jeweils in der Landessprache gesprochen werden - er sorgt für eine wiederholt mit der Ästhetik Bert Brechts verglichene theatralische Distanzierung.
Cocteau verlangt denn auch nach einem mehr oder weniger unbeteiligt agierenden, erläuternden Conférenciér, eine Anweisung, an die er sich selbst sogar in den gemeinsam mit Strawinsky realiserten Aufführungen (etwa für die Londoner Erstaufführung mit dem Orchester der BBC oder für den Westdeutschen Rundfunk in Köln) nicht immer sklavisch gehalten hat . . .
Strawinskys Musik wirkt in diesem Falle hingegen - und ungewöhnlich genug für diesen Komponisten - immer wieder höchst emotionsgeladen und engagiert. So weist er der Jokaste vor dem Selbstmord eine Bravourarie samt Cabaletta mit heftig bewegten Koloraturgängen zu.
Das Stück ist entsprechend schwer zu besetzen, benötigt Interpreten, die den technischen Ansprüchen ebenso genügen wie denen an ihre Ausdruckskraft.
Wirklich überzeugend finden Hélène Bouvier und Ernst Haefliger (Jokaste und Oedipus) diese Balance in der Aufnahme unter Ernest Ansermet, eine auch klanglich vorzügliche Platte (Decca).
Von den Aufnahmen, die unter Strawinskys Leitung entstanden, ist jene mit Jean Cocteau aus Paris, 1952 entstanden, vorzuziehen, weil hier Léopold Simoneau eine singuläre Interpretation der Titelpartie liefert, die von keinem Tenor danach je übertroffen wurde.
Höchst unterschiedliche Zensuren hat Leonard Bernstein für seine rhythmisch ungemein lebendige CBS-Aufnahme erhalten, nicht so sehr wegen des heldentenoralen René Kollo, sondern wegen des amerikanischen TV-Stars Michael Wager, der den Sprecher allzu larmoyant tönen läßt. Dafür singt Tatiana Troyanos die Jokasten-Szene mit echter Bravour und Mut zum Espressivo, ohne die bei Strawinsky wohl unabdingbare Scharfzeichnung der melodische Linie zu vernachlässigen.