The Rake's Progress
Eine Oper über die Oper
1947 besuchte Igor Strawinsky, der seit acht Jahren im amerikanischen Exil lebte, eine Ausstellung englischer Kunst im Art Institute von Chicago. Dort entdeckte er Hogarths Zyklus von Stichen A Rake's Progress und war sofort überzeugt, daraus ließe sich eine Oper formen. Wenig später kam es über Anregung von Aldous Huxley zu einem Treffen mit Wystan Hugh Auden, der sich bereit erklärte, das Libretto zu schreiben.
In stetem Dialog mit dem Komponisten wuchs das Szenarium hean. Im folgenden Februar lag Audens vollständiger Entwurf vor. Strawinsky war Feuer und Flamme: Es sei
das schönste Opernlibretto seit Da Ponte.
Wie bei allen späteren Gelegenheiten arbeitete Auden zusammen mit seinem Lebenspartner Chester Kallman, der sich für die Theorie des Musiktheaters begeistern konnte und vor allem bei der Formgebung hilfreich war.
Anne Truloves Arie im ersten Akt, Kein Wort von Tom, Tom Rakewells Vary the song und der erste Auftritt der Türken-Baba stammen komplett aus Kallmans Feder.
Strawinsky ging nach der Vollendung seiner Messe im Mai 1948 ans Werk. Seine Prognose, er würde für jeden Akt ein Jahr benötigen, sollte sich bewahrheiten.
Uraufführung in Venedig
Die Oper kam im September 1951 im Teatro La Fenice in Venedig zur Uraufführung, doch nicht ausgeführt von Mitgliedern des dortigen Ensembles, sondern mit Orchester und Chor der Mailänder Scala. In Mailand hatten die Proben stattgefunden. Vom Teatro La Fenice als intimem Uraufführungsort träumte Strawinsky und trieb die Verhandlungen voran, ohne seinen Verleger zu informieren, der die Novität gleichzeitig anderen Häusern anbot. Daß er selbst bei der Premiere am Dirigentenpult stand, war in seinen Plänen nicht vorgesehen, doch änderte er seinen Sinn, als man ihm für die Vorstellung eine Gage in der Höhe von 20.000 Dollar anbot. Ferdinand Leitner dirigierte die Reprisen - der vom Komponisten favorisierte lgor Markevitch war von der Scala-Intendanz abgelehnt worden . . .
Carl Ebert inszenierte die Uraufführung. Die Sängerbesetzung war auserlesen, aber erst relativ kurzfristig engagiert worden: Robert Rounseville, der zugestimmt hatte, den Tom zu singen, kämpfte wie alle anderen auch mit fehlerhaftem Notenmaterial. Der über Raubpressungen kursierende Livemitschnitt der Premiere läßt denn auch etliche Unsauberkeiten und Fehler hören.
Bemerkenswerterweise fand bei der Uraufführung ein Klavier als Continuo-Instrument Verwendung, weil Strawinsky fürchtete, das vorgesehene Cembalo könnte im Fenice unhörbar bleiben. (Auch bei der amerikanischen Erstaufführung wude das noch auf diese Weise gehandhabt.)
Bei den Proben fungierte Textdichter Auden als Sprach-Tutor für die italienischen Choristen.
Trumpfkarte der Uraufführungsbesetzung war die junge Elisabeth Schwarzkopf, die eine vortreffliche Anne ganz sang. Obwohl sie die Partie perfekt einstudiert hatte, kam sie nach den Reprisen in der Mailänder Scala nie wieder auf die Rolle zurück. Den Nick Shadow gab mit mächtiger Stimme Otakar Kraus, Jennie Tourel war die allseits gepriesene Türkenbaba, an der Strawinsky die vollkommene Absenz von Lächerlichkeit würdigte:
Sie hätte auf einem Elefanten einreiten können und niemand hätte gekichert.
Ein Kabinettstück für sich gelang Hugues Cuenod, der mit dem Seliem seine Leib- und Magenrolle gefunden hatte. Er sollte sie überall singen, bis hoch in seine Achtziger.
Die Musik
Die Partitur zu The Rake's Progress ist, sagen wir's bildhaft, eine »Schattenpartitur«, ein Stück über ein Stück, oder besser: eine Oper über alle Opern. Der nihilistische Text des Weltmeisters im Amalgamieren von Spruchweisheiten, Wystan H. Auden, erzählt vom unaufhaltsamen Abstieg eines Taugenichts, der zu faul ist, seinen - bleiben wir bei Sprichworten - inneren Schweinehund zu überwinden, und der daraufhin insgesamt zu einem solchen wird.
Musik über Musik
Der Zynismus der Vorlage verwandelt sich unter Strawinskys Händen kongenial in musikalische (Un-)Werte. Der Komponist bedient sich barocker, klassischer und romantischer Schemata, schreibt Musik für ein Mozartorchester samt Cembalo für die Rezitative, entzieht aber allen harmonischen Schablonen, die er bunt durcheinanderwürfelt, ihren funktionalen Boden.
Es ist, als ob Repräsentationsmusik von Händel, eine Cabaletta von Bellini oder ein Quartett aus Cosi fan tutte Schatten würfen. Die lassen die Umrisse ihrer Urheber ahnen, bleiben aber vage und bar jeder Körperlichkeit.
Strawinskys Aufnahmen
Abgesehen vom dokumentarischen Wert des Livemitschnitts der Uraufführung, es gibt zwei Aufnahmen, die Igor Strawinsky selbst im Studio dirigierte. Wobei die erste zwei Wochen nach der New Yorker Premiere an der Metropolitan Opera entstand, mit dem dort von Fritz Reiner einstudierten Ensemble aber mit einem kleienren Orchester als Reiner es in der Met verwendete. Für die Schallplattenproduktion tauschte Strawinsky nun erstmals das Klavier mit dem Cembalo, das seinen Klangvorstellungen mehr entsprach. Dank Reiners Einstudierungsarbeit ist das Ergebnis nahezu perfekt. Und die Interpretation der Anne durch Hilde Gueden ist eine Charakterstudie von feiner Differenziertheit - manchmal etwas unsicher in der Intonation, doch das hohe C am Ende der großen Arie »sitzt« perfekt und strahlend.
Wie Reiners Version klang, läßt sich mittlerweile dank eines aufgetauchten Live-Mitschnitts studieren. Schon die Akkuratesse der einleitenden Bläser-Fanfaren demonstriert anschaulich den »kleinen Unterschied« . . .
Große Interpreten
Die Gueden war nach der Schwarzkopf die zweite Diva, die diese Partie einstudierte. Ihr folgten noch so illustre Interpretinnen wie Erika Köth, Erna Berger, Jane Micheau oder Rafel Kubeliks Ehefrau Elsie Morison - meist in den Landessprachen der jeweiligen Produktion. Als Tom Rakewell alternierten Tenöre vom Format eines Rudolf Schock, Richard Lewis, Leopold Simoneau oder Richard Holm.
Als Nick Shadow glänzt in der New Yorker Produktion der profunde Mack Harrell.
Elf Jahre später ging Strawinskys in London noch einmal ins Studio, um The Rake's Progressaufzunehmen. Diesmal arbeitete er weitgehend mit der Besetzung der Produktion der Sadler's Wells Opera, doch wurden die von der Kritik allgemein gelobte Elsie Morison mit Blick auf den amerikanischen Käufermarkt durch Judith Raskin ersetzt; und Raimund Herincx (Nick) durch John Reardon - die beiden hatten ihre Partien zuvor in Santa Fe und in einer neuen Produktion in New York gesungen.
Herausragend in dieser Zweitaufnahme ist der Tom von Alexander Young, den Strawinsky bei dieser Gelegenheit entdeckte, um in der Folge wiederholt mit ihm zu arbeiten.