Sacre du printemps

Die säuberlich kalligraphierte Revolution

→ Die »Sacre«-Chronik

Die musikalische Atombombe

Es war die »Atombombe« der Musikgeschichte. Wiewohl der enorme Skandal, die Uraufführung des Ballets im Pariser Theatre des Champs-Elysees entfesselte, vor allem der anarchischen, alle Regeln der klassischen Tanzkunst auf den Kopf (oder besser auf Ferse und Fußsohlen) stelltenden Choreographie Vaslav Nijinskys geschuldet war.

Ein paar Wochen später war die konzertante Erstaufführung der Musik ein Sensationserfolg. Der ist der Partitur erhalten gebleiben. Sacre ist eines der mitreißendsten Werke der jüngeren Musikgeschichte und in ihrer chthonischen Wirkung dank der rhythmischen Entladungen unwiederholbar. Wobei die erste Gesamtaufnahme der Ballettmusik, die schon 1929 in Paris unter der Leitung des Uraufführungsdirigenten Pierre Monteux entstand, nachfühlen läßt, was die Zeitgenossen damals als aufregend und schockiernd empfunden haben mögen: Trotz schlechter Aufnahmequalität und ganz und gar nicht unfehlbarer Orchesterleistung spürt man die chthonische Gewalt, die diese Musik entfesseln konnte vielleicht unmittelbarer als in der wildsten späteren Stereo-Version.
Es gäbe keine »sackere Gasse«, ätzte ein späterer Kommentator.

Strawinsky selbst hatte es nicht nötig, zu versuchen sich selbst zu kopieren.
Er wechselte nach jedem größeren Werk seinen Stil . . .

Strawinsky und Beethoven

Die wilden Klänge des Sacre waren bereits unmittelbar nach der Uraufführung legendär. Die wenigsten Musikfreunde dachten dabei wohl an Beethovens Eroica. Doch spätestens mit dem Studium der Einführungstexte zur Faksimile-Publikation von Strawinskys Autograph erfuhr man, daß einige der grellsten Harmonien, die sich in den legendären Akkordrepetitionen der Augures printanieres finden, bereits im Jahr 1804 auf die Hörer eingedroschen haben.
Es stimmt schon, Beethoven war nicht zimperlich.

Nicht zimperlicher jedenfalls als Strawinsky - nur mehr als 100 Jahre früher dran. Dem aufscheuchenden Potenzial der 1913 uraufgeführten Ballettmusik tut das keinen Abbruch. Nur die Perspektiven des Hörers verschieben sich, wenn er den Vergleich kennt: Beethoven, erster Satz, Takt 280 und folgende, Strawinsky, Ziffer 13, der Gleichklang ist verblüffend.

Musik, die die Welt verändert

Wie das so ist mit wirklich guten Büchern, sie verändern unser Weltbild. Zumindest ein bißchen. Zumindest fassen sie irgendeine Sache anschaulich zusammen. Zum Beispiel den Wissensstand der Musik-und Theaterforschung in Sachen Sacre.
Im Jahr 2013 hat sich, rechtzeitig zum 100. Geburtstag des Aufregers, Verleger Boosey & Hawkes - unterstützt von der Sacher-Stiftung - ein Herz gefaßt und dem Werk, das dem Verlag in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur Ruhm und Ehre, sondern wohl auch einige Tantiemen eingebracht hat, ein Denkmal gesetzt.

Strawinskys Pracht-Handschrift

Anmerkungen zu einer 2013 erschienenen → Faksimile-Edition des Autographs

Da ist einmal der Sammelband mit Aufsätzen zu allen erdenklichen Aspekten des Werks - unter anderem zu den zitierten musikologischen Parallelziehungen. Dann sind da aber noch zwei großformatige, in schwarzen Stoff gebundene Bände, die nichts weniger enthalten als Faksimiledrucke von Strawinskys handschriftlicher Orchesterpartitur und des ebenfalls vom Komponisten verfassten vierhändigen Klavierauszugs.

Das ist zuvörderst eine Augenweide, denn die Handschrift dieses Komponisten übertrifft an kalligraphischer Schönheit und Sauberkeit beinah alles, was die Mitbewerber im Fach Schönschreiben an Preisverdächtigem geleistet haben. Gewiss, da war zur selben Zeit ein Paul Hindemith am Werk, der druckreif geschrieben hat - nur zweckmäßiger, nicht auch noch so ästhetisch.
Die notorisch sauberen Handschriften von Richard Strauss wirken ähnlich übersichtlich, geben sich im Schriftbild freilich genialischer, großzügiger, im Vergleich geradezu schlampig.

Die Sacre-Partitur hat etwas von graphischer Notation, wie sie einige von Strawinskys Erben später pflegten. Die rhythmisch-metrischen Drahtseilakte, die der Komponist seinem Choreographen Nijinsky aufgegeben hat, lassen sich ja tatsächlich in vielen Fällen auch für Leser nachvollziehen, die der Notenschrift unkundig sind - doch wird sich pittoresk der Sinn der Bilder erschließen, zumindest erahnen lassen.

Informatives Begleitbuch

Dann das Begleitbuch, Avatar of Modernity genannt, also recht frei übersetzt eine Schrift über die Ikone der Moderne, die das Frühlingsopfer ja tatsächlich darstellt. Es steht als Synonym für den Aufbruch in eine neue Zeit der Musikgeschichtsschreibung und war von Strawinsky wohl auch so gedacht.

In diesem Sinne ist es aufschlußreich, daß er (bewußt oder unbewußt) eine von Beethovens gröbsten Dissonanzen - die dieser freilich, wenn auch nur zögerlich "auflöst" - zitiert, aber unbehauen stehen lässt. Beziehungsweise in Bewegung bringt, durch fortwährende Repetition multipliziert, ohne dass die Harmonie nach Veränderung strebte - wenn man so will, als Avatar des revolutionierten Harmonieverständnisses.

Die Herausgeber, Hermann Danuser und Heidy Zimmermann, haben zusammengetrommelt, was an Forschern über Sacre nur geforscht hat: Entstehungsgeschichte, optische Umsetzung anlässlich der skandalumwitterten Uraufführung, Nachwirkungen in Tanz- und Kompositionsgeschichte.

Die Faksimileausgabe der Handschrift und die wissenschaftlichen Kommentare dazu bilden Sacre-Kompendium von eminenter Bedeutung. Kaum ein anderes Meisterwerk der Musikgeschichte, nicht einmal der Tristan, hat je einen solchen Spiegel vorgehalten bekommen.
Da schweift der Blick des Betrachters - um nur ein Beispiel herauszunehmen - in Richtung der damals aktuellen russischen Kunstgeschichte und erkennt, wie bedeutsam für den Komponisten die Begegnung mit der Ästhetik Nicholas Roerichs gewesen ist.

Wer das choreographische Szenarium kennt, das Mikhail Fokine 1910 für die Uraufführung des Feuervogels entworfen hat, des ersten von Strawinskys Balletten für die Ballets Russes von Serge Diaghilev, der weiß, wie stark der Komponist beim Komponieren von bildhaften Vorstellungen ausging. Sogar der Moment, an dem die goldenen Äpfel der Prinzessinnen von den Bäumen fallen, ist dort akustisch genau markiert.
Wie viel prägender müssen die von Strawinsky selbst als bildhafte Visionen beschriebenen Genieblitze, die zum Sacre geführt haben, gewesen sein. Roerich, der die Uraufführung ausgestattet hat, malte bereits 1897 einen "Weisen", wie er in einem entscheidenden Moment des Balletts erscheint...

Noch wichtiger scheint an der Publikation aber das ausführliche Kapitel über die Auswirkungen, die der Sacre gehabt hat. Immerhin fanden sich einige hochmögende Kommentatoren, die das zeugende Potenzial dieser Partitur rundweg abstritten.
Arnold Schönberg soll formuliert haben, es gäbe "keine sackere Gasse" als diese. Theodor Adorno stieß, versteht sich, ins gleiche Horn.

Nun weisen die Autoren des Begleitbuchs zum Sacre-Faksimile nach, wo sich überall Spuren der Beschäftigung mit dem Jahrhundert-Coup Strawinskys ausmachen lassen. Schon das lohnt die Lektüre des 2013 erschienen Bandes.

Der Bildteil illustriert zuletzt die Stadien der Entstehung der Komposition von Skizzenblättern bis zur ausgearbeiteten Partitur, Sacre-Choreographien von 1913 bis heute, Zeugen der Uraufführung in Form von Bleistiftskizzen. Überdies vermittelt er Impressionen der von Strawinsky gegen einen Betrag von 6000 Dollar (etwa 85.000 Euro heutiger Kaufkraft) sanktionierten Verwendung seiner Musik als Soundtrack in der Dinosaurierszene von Walt Disneys Fantasia.

Die Ausbeute für Kenner und Liebhaber ist also gewaltig - falls uns Le sacre du printemps tatsächlich in eine Sackgasse verführt haben sollte, ist deren totes Ende noch nicht einmal in weitester Ferne zu erahnen.

BIBLIOGRAPHIE
  

Aufnahme der Klavierfassung

Daß die Musik am Klavier entstand hört man - so grandios und farbenprächtig sie auch orchestriert sein mag - am besten, wenn sie am Klavierdargeboten wird. Sacre ist zwar eine der virtuosesten Orchesterpartituren, die je instrumentiert wurden, und doch: Schon sein Lehrer Rimskij-Korsakow hatte Igor Strawinsky darin bestärkt, am Klavier zu komponieren, wenn er das für nötig befände.

Ein Arrangement der wilden Ballettpartitur für zwei Klaviere ist also so etwas wie ein Rückgriff auf den »Originalklang«. Tatsächlich hat Strawinsky ein solches Arrangement schon vor der Orchesterfassung geschrieben. → Marc-André Hamelin und Leif Ove Andsnes haben es auf CD eingespielt - und das Concerto von 1935 sowie Petitessen wie den Tango und die Zirkuspolka dazu. Da tönt die wilde Frische des edelsten aller »Schlaginstrumente« (© Paul Hindemith).

Aufnahmen

Das Werk zählt zu den quasi verpflichtenden Stücken für jeden Dirigenten, gilt es doch auch 100 Jahre nach der Uraufführung noch als schlagtechnisch höchst schwierig zu bewältigen. Für den Hörer, der sich mit dem Werk erstmals beschäftigt, bietet sich der Livemitschnitt der Aufführung beim Edinburgh Festival 1962 durch das London Symphony Orchestra unter Igor Markevitch an, die bis heute als Wegmarke in der
Interpretationsgeschichte gelten darf: Wilder ungezügelter, gleichzeitig klanglich - und vor allem: rhythmisch! - kontrollierter ist das Stück auch später kaum je gespielt - und sicher nie mehr aufgenommen worden.