Die finnische Komponistin Kaija Saariaho starb im Juni 2023 70-jährig in Paris. Mit Musik und Malerei hat sie seit ihrer Kindheit experimentiert. Die Entdeckungen, die sie dabei machte, führten sie zu den Salzburger Festspielen und an die Met.
Sie ist musikalisch. Sie sollte ein Instrument lernen“, beschied der Lehrer den Eltern der Sechsjährigen. „So begann ich, Geige zu spielen“, erzählte Kaija Saariaho gern, wenn sie über ihre Kindheit sprach, die von Erfahrungen mit Farben und Linien erfüllt war, von Bildern, in deren Welt sie von ihrer Familie eingeführt worden war, seit sie denken konnte. Und fühlen. Für die Schülerin kamen nun noch die Klänge hinzu, deren Eigenheiten sie sich ebenso spielerisch improvisatorisch erschloss wie die optischen Ereignisse, die sich mit Bleistift und Malfarben auf Papier realisieren ließen.
Kaija Saariaho sollte als eine der fantasievollsten akustischen Experimentatoren der Ära der Postmoderne, in der alles möglich war und deren Reichtum so vielen Zeitgenossen unheimlich war, in die Geschichte eingehen: Während die schöpferischen Kräfte beinah so verzweifelt um Orientierung rangen wie das meist ratlose Publikum, lebte die finnische Komponistin ihr neugieriges Forscherleben, als wäre die staunende Kindheit nie zu Ende. Saariaho lauschte den Tönen, den Klängen, den Geräuschen nach, je feiner, je leiser sie waren, desto lieber. Auf ihrer akustischen Palette mischte sie die Erfahrungen zu immer neuen koloristischen Effekten, deren Konfrontation ihren Werken die Struktur gab.
Auf der Suche nach den Klängen
Von Melodien – und mochten sie noch so kühn abstrahiert sein – wollte Saariaho nichts wissen. Die lineare Entwicklung, die Zeitdimension, entwickelte sich in ihrer Musik, die ganz wie ein abstraktes Gemälde organisiert war, aus den Reaktionen der verschiedenen Klangereignisse aufeinander. So experimentell wie diese Versuche abliefen, war vielfach auch die Gewinnung des klingenden Materials: Auf einem Cello kann man nicht nur musizieren, indem man die Saiten streicht oder zupft, auch die vielfältigen Möglichkeiten, mit den Haaren oder dem Holz des Bogens verschiedene Bereiche des Instruments zu traktieren, bringen Inspirierendes zutage.
»Nervöse, gelbe Musik«
»Nervöse, gelbe Musik« wollte sie machen, bekannte die Künstlerin bereits als Kind. So viel Fantasie im Gepäck, war Kaija Saariaho die ideale Studentin für Pierre Boulez‚ IRCAM-Institut, wo Klangforschung auftragsgemäß betrieben werden sollte. Der Weg aus Helsinki nach Paris war also vorgezeichnet. Er führte Saariaho, hungrig nach neuen Erfahrungen jener Komponistengeneration, die im Gefolge der 68er-Bewegung auch musikalisch alle Dämme niederreißen wollte, über die Darmstädter Ferienkurse. Auf den unwegsamen Pfaden ins unbegrenzte Reich musikalischer Imagination wurde Brian Ferneyhough ihr Führer, einer der kühnsten Vorkämpfer einer echten musikalischen Avantgarde.
Doch die Kunst der vollständigen Verrätselung schien Saariaho bald fremd: Sie träumte von neuen Formen und Strukturen, die sich den Hörern wie ein offenes Buch erschließen sollten, die so spielerisch erfahrbar sein sollten, wie sie sich in ihren Klangfantasien und in zahllosen technischen Experimenten mit Computern und Tonbändern offenbarten. Nicht logistische Konzepte, sondern die in enger Zusammenarbeit mit den Musikern erarbeiteten Erfahrungswerte wiesen den Weg. Er führte zum Erfolg. Saariaho war bald nicht nur ein Name für Spezialisten-Festivals, sondern ein Garant, dass auch das Publikum der Salzburger Festspiele sich bereit fand, einer abendfüllenden Oper wie »L’amour de loin« zu lauschen und sich in den Klängen zu verlieren wie in den Fernen mittelalterlicher Troubadour-Kunst, von der gesungen, geraunt und gesummt wurde. Saariaho gelang es, Werke wie dieses nicht nur zur Uraufführung an prominentem Ort zu bringen, sondern sie auch im Bewusstsein der Musikwelt zu halten: »L’amour de loin« wurde unter anderem sogar von der New Yorker Met nachgespielt.
Die Orchester- und Kammermusik Saariahos findet prominente Interpreten, deren Engagement wiederum Neugier im Publikum schürt. Viel mehr kann eine Komponistin kaum erreichen. Große Musiktheater-Kompositionen kamen in Paris (»Adriana Mater«, 2006) und Lyon (»Émilie«, 2010) heraus – Librettist war jeweils der libanesisch-französische Schriftsteller Amin Maalouf.
Ein Goldener Löwe in Venedig
In Wien kam 2006 Saariahos Oratorium über Simone Weil heraus, »La passion de Simone«. Nahezu lückenlos ist Saariahos kammermusikalisches Schaffen dokumentiert, dank vieler CD-Einspielungen, die auch via Streamingdienste greifbar sind und für Hörabenteuer zur Verfügung stehen. Musikfreunde können so auf demselben improvisatorischen Weg in die Welt einer Komponistin finden, auf dem diese sich jene Welt erobert hat. Anlässlich der Biennale Venedig ehrte man die Künstlerin mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk. Am vergangenen Wochenende ist Kaija Saariaho 70-jährig in ihrer Wahlheimatstadt Paris gestorben.
Erinnerungen: Rezension der Uraufführung von »L’amour de loin« bei den Salzburger Festspielen des Jahres 2000
Rezension der Uraufführung von »Emilie« in Lyon, 1. März 2010