Wie mittlerweile gewohnt, konnte man in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker das erste der beiden traditionellen Salzburger Festspielprogramme des Orchesters vorab bereits miterleben. Fazit: Die Salzburger dürfen sich auf Sonntag Abend freuen!
Was man vorweg schon erzählen darf
Ein aufregendes Konzert mit Musik vom wenig beachteten „Jahresregenten“ Max Reger und Richard Strauss – Salzburger Festspielbesucher dürfen sich freuen: Via Digital Concert Hall konnte die Musikwelt bereits „vorhören“ und zuschauen, was die Berliner Philharmoniker unter der Leitung ihres Chefdirigenten Kirill Petrenko diesmal nach Salzburg mitbringen. Für Max Regers „Mozartvariationen“ war es eine Art Erweckung aus dem Dornröschenschlaf, für das „Heldenleben“ von Richard Strauss eine Befreiung von allzuvielen Schlampereien und Ungenauigkeiten, die das Klangbild in der Regel trüben, sobald das vielgespielte Werk nicht von einem Meister dirigiert wird.
Große Erinnerungen
Nun hatten die Berliner gerade das „Heldenleben“ unter der Leitung ihres langjährigen Chefs Herbert von Karajan immer wieder auf dem Programm, seit sie Jahr für Jahr gegen Ende der Festspiele dem Salzburger Spielplan finale Glanzlichter aufgesetzt haben. Sieht man von Christian Thielemanns legendärem Salzburger Konzert-Einstand mit diesem Werk (an der Spitze der Wiener Philharmoniker) ab, muss man wohl auch bis Karajan zurückgehen, um sich einer vergleichbar exzellent durchgestalteten Wiedergabe der viel gespielten, aber auch viel geschundenen Partitur zu erinnern.
STRAUSS‘ »HELDENLEBEN«, NEU BELEUCHTET
Was Petrenko an klanglicher und dynamischer Differenzierung aus seinem wirklich in sämtlichen Registern auf Hochglanz poliertem Orchester herausholt, ist im heutigen Klassik-Betrieb vermutlich singulär. Dermaßen durchhörbar gerät die bunte Erzählung von den „Heldentaten“ des Komponisten nur an Feiertagen; vor allem auch in jenen Momenten, in denen sonst die Schwelle vom Musizieren zur Lärmerregung oft überschritten wird: Sogar das Schlachtengemälde namens „Des Helden Walstatt“ ist bei Petrenko kleinteilig bis zum letzten Kanonier zu „durchschauen“.
EINE BUNTE MÄRCHENERZÄHLUNG
Und die Hauptdarsteller der Geschichte werden plastisch gezeichnet in allen Facetten. Die Konzertmeisterin der Berliner, Vineta Sareika-Völkner, absolviert das berüchtigte Violinsolo nicht nur virtuos, sondern nimmt sich Zeit, die vertrackten Figuren und Nuancen für die Charakterisierung von „des Helden Gefährtin“ beredt zu modellieren. Eigentlich, so konnte man anlässlich der Übertragung der Voraufführung in Berlin in der Digital Concert Hall staunen, ist der berühmte Dialog (zwischen dem Komponisten und seiner Pauline) im „Heldenleben“ offenbar zweiteilig angelegt – so, wie die Auseinandersetzung vor der herrlich strömenden Liebesszene diesmal gespielt wurde, war er noch nicht wirklich zu Ende! Man glaubte die Lösung des Rätsels im letzten Abschnitt der Tondichtung zu erkennen: „Des Helden Weltflucht“ wird zu zweit angetreten! Die Melodie, deren stimmige Formulierung der Violine unter der immer ungeduldiger werdenden „Aufsicht“ des restlichen Orchesters zunächst nicht gelingen will, ergibt sich zuletzt in trauter Zweisamkeit ganz selbstverständlich. Dazwischen ist viel passiert. Man ist ,,durch Not und Freude gegangen, Hand in Hand…“
Eine bedeutende Interpretation
Das ist wohl eine der herausragenden Eigenschaften einer wirklich bedeutenden Interpretation, dass sie ein Riesenwerk zu einem stimmigen ganzen zu binden und (neue) Bezüge über weite Strecken herzustellen vermag. So bekommt auch ein Strauss-Kenner auf ein altbekanntes Werk einen neuen Blick. Wenn er Kritiker ist, freut er sich überdies, dass sich auch „des Helden Widersacher“, also seine eigene Spezies, bei einer so hinreißend musizierten Aufführungen geradezu wohltönend ausnehmen: Dass es zur Strauss‘ Zeiten dermaßen viele Rezensenten gegeben haben könnte, die so hinreißend präzis, geistreich und wohl überlegt zu formulieren wussten wie die versammelten Berliner Holzbläser Anno 2023, nimmt er neidvoll zur Kenntnis.
WIE EINST BEI KLEIBER
Was die fanatische Durchgestaltung jedes kleinsten Details betrifft erinnerte Petrenkos Deutung in ihrer Agilität übrigens weniger an Karajan als an den legendären Versuch Carlos Kleibers in Wien – dessen Mitschnitt bis heute unter Verschluss liegt.
Die pure Schönheit, zu der sich das Stimmengeflecht hie und da verdichtete, machte an diesem Abend zuvor bereits die Aufführung von Max Regers Mozartvariationen zum Ereignis: ein Meilenstein in der Interpretationsgeschichte, denn anders als im Falle der Strauss-Tondichtung, ist das einst viel gespielte Werk längst fast völlig von den Spielplänen verschwunden.
Eine Lanze für Max Reger
Einst gehörte Regers unbestritten wichtigste Orchester-Komposition zum Standardrepertoire. Doch gibt es nur zwei historische Aufnahmen, an denen sich Bedeutung dieser Partitur studieren lässt: eine von Karl Böhm (übrigens mit den Berlinern, aber noch in Mono), eine von Joseph Keilberth aus Hamburg – beide wunderbar, und doch: Petrenko und die Berliner haben mit dieser Wiederaufführung Licht in die verborgensten Winkel von Regers gefährlich vielschichtiger Konstruktion gebracht. Die Mozartvariationen sind ja eine vergleichsweise launige Folge von Charakterstücken auf das berühmte Thema aus der A-Dur-Klaviersonate – aber dieser Komponist neigte notorisch zur Überfrachtung seines Orchestersatzes. Noch die einfachste Melodie wird von kolorierenden oder kontrapunktisch umschlingenden Gegenstimmen begleitet. Das führt in der Praxis – mehr noch als in den vergleichbar dicht gesetzten Stücken des jungen Richard Strauss – zu dicken, kaum durchdringlichen Klangbildern.
Nicht so bei Petrenko, der sogar die gewaltige Schlussfuge der Variationenkette – nach einer traumverloren schönen Adagio-Variation – zu einem hintergründigen Spiel vieler, auch sichtbar gut gelaunt absolvierten, unabhängigen Einzelstimmen macht. Das darf man getrost unerhört nennen, denn selbst geeichte Regerianer werden sich kaum einer solch im wahrsten Sinne des Wortes erhellenden Darstellung dieser Komposition erinnern. Schöner hätte man Max Regers 150. Geburtstag nicht feiern können!
Am Sonntag Abend wird dieses Programm im Großen Salzburger Festspielhaus wiederholt. Am Montag wagen sich die Berliner und Petrenko an besonders heikle Kost: Arnold Schönbergs erstes großes Zwölfton-Werk, die Variationen für Orchester op. 31. Der Bezug zur Berliner Geschichte ist eminent: Die Philharmoniker unter der Leitung ihres damaligen Chefdirigenten, Wilhelm Furtwängler, haben die Komposition einst zur Uraufführung gebracht.