Fabio Luisi gelang mit dem Kopenhagener Orchester eine bemerkenswerte Gesamtaufnahme der Symphonien des dänischen Nationalkomponisten.
Aus der Perspektive von Wiener Musikfreunden kommt diese Box mit drei CDs gerade recht. Jüngst haben die Wiener Philharmoniker unter der Leitung des Doyens der internationalen Dirigenten, Herbert Blomstedt, ihr Repertoire erweitert und erstmals die 1922 vollendete Fünfte Symphonie des dänischen Nationalkomponisten Carl Nielsen aufgeführt. Das Publikum war hingerissen von der expressiven Kraft dieser Musik, einer Art westlicher Variante der subjektivistischen Symphonik eines Dmitri Schostakowitsch.
Nun erschien eine Gesamtaufnahme des symphonischen Werks von Nielsen, gespielt von einem Orchester, das diese Musik zum genetischen Code zählt: Das Dänische Nationalorchester ist unter der Leitung seines Chefdirigenten Fabio Luisi für die Deutsche Grammophon ins Studio gegangen. Ein Wagnis. Denn es sind bis dato wenige erstklassige Interpretationen aller sechs Werke greifbar, aber just dieses Kopenhagener Orchester unter Blomstedt hat in den Siebzigerjahren eine bisher als Referenz-Interpretationen gefeierte CD-Sammlung vorgelegt.
Tragödien und Satyrspiele
Dem kontert Luisi nun mit glasklar strukturierten, dennoch dramatischen Wiedergaben; ein Balanceakt, der bei dieser Musik unabdingbar ist, denn Nielsen erzählt in all seinen Werken Geschichten, auch solche, die sich theatralischer Ausdrucksmittel bedienen. Man hört Tragödien (wie im Fall der Fünften) oder (wie in der abschließenden Sechsten) auch ein Satyrspiel, das keine Mittel auslässt, die symphonische (und die Kultur-)Geschichte zu hinterfragen. Diese Musik kann auch mit drastischen Klängen Zweifel säen, sie kann karikieren, sie kann den Hörer sogar brüskieren, indem sie ihn mit einer, sagen wir, unziemlichen Geste „entlässt“: Nielsens Symphonien-Zyklus schließt tatsächlich mit einer zynischen – kulturkritischen? – Pointe.
Luisi zeichnet das gesamte breite Spektrum dieser unterschiedlichen Werke scharf und konturiert, die Karikaturen und Zerrbilder ebenso wie die vielen expressiven, leidenschaftlich aufrauschenden, heftig attackierenden Klanggemälde, die sich vor allem in den früheren Werken finden. Aber er überzeichnet nie. Die Stärke seiner Interpretation liegt in ihrer souveränen Beherrschung, die den Hörer merken lässt, dass hier ein Komponist zwar die Grenzen musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten auslotet, doch durchwegs im Revier der überlieferten Formgebung und – vor allem – der Dur-Moll-Tonalität bleibt.
Dabei werden freilich die Grenzen so weit als möglich in Richtung moderner Stilmittel ausdehnt. Das war Nielsens Position in der frühen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Spät- oder Spätestromantiker war er nicht. Er wusste seine eigenwillige Moderne zu definieren, ohne nur einen Moment lang deren Wurzeln zu vergessen.
Der Balanceakt gelang. Eine überzeugendere Gesamtdarstellung dieses symphonischen Kosmos gibt es wohl nicht. Einzelne Symphonien sind freilich in der Vergangenheit im Plattenstudio spektakulärer, dringlicher, suggestiver gespielt worden. Allen voran die Vierte durch die Berliner Philharmoniker unter Karajan (ebenfalls DG), der einzige Versuch dieses Dirigenten mit einem Werk dieses Komponisten; dafür von ungeheurer Dichte in seiner Aussage: Karajan erfasst Nielsens Programm des „Unauslöschlichen“ so radikal wie kaum ein Zweiter: Eine Flamme der Zuversicht lodert in dieser Aufnahme noch im Moment der äußersten Bedrängnis; nicht einmal das apokalyptische Duell zweier Paukengruppen – einer der singulären Momente moderner Symphonik! – kann sie auslöschen.
Bernstein gegen Karajan
Ähnlich unausweichlich gelang Leonard Bernstein die Fünfte mit den New Yorker Philharmonikern (Sony). Hier ist es die gesamte Schlagzeugbatterie, die mit ihren Attacken jeden Ordnungsversuch des übrigen Orchesters auf geradezu beängstigende Weise stört. Manch positive, lebensbejahende Momente in Nielsens Symphonik erweckt auch die neue Aufnahme der Dänen hinreißend kraftvoll zum Leben, den Überschwang des in jäher rhythmischer Beschleunigung hereinbrechenden Walzer-Beginns der Dritten („Sinfonia espansiva“), aber auch die pittoresken Charakterbilder der „Vier Temperamente“ in den einzelnen Sätzen der Zweiten.
Für neugierige, aufgeschlossene Musikfreunde könnte die Edition ein Erweckungserlebnis sein.