Ende einer Ära
Daniel Barenboim zieht sich zurück. Zwar ist der Maestro zum Jahreswechsel 2022/23 noch einmal ans Pult seiner Berliner Staatskapelle in der Lindenoper zurückgekehrt, um Beethovens Neunte zu dirigieren – doch nun zieht sich der nach wie vor von seiner Krankheit gezeichnete Künstler als Musikdirektor des Orchesters zurück. Sein Gesundheitszustand erlaubt es ihm nicht, die verantwortungsvolle Position weiter zu bekleiden.
Schon die jüngste Berliner Neuinszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“ hat Barenboim nicht, wie vorgesehen, selbst dirigieren können. Die drei Aufführungsserien teilten sich Christian Thielemann (Zyklus I & III) und der frisch gebackene Frankfurter Generalmusikdirektor Thomas Guggeis. Ihn wollte Barenboim sukzessive als möglichen Nachfolger in Berlin aufbauen. Der demonstrative Erfolg, den Christian Thielemann anläßlich der Ring-Premiere errang, hat die Karten aber neu gemischt: Publikum, aber auch die Orchestermusiker feierten den Heimkehrer mit Ovationen. Thielemann, geborener Berliner und viele Jahre lang auch musikalischer Leiter der Konkurrenzbühne im West, der Deutschen Oper Berlin, wird von den Berliner Musikfreunden jetzt deutlich favorisiert – im Gegensatz zur Kulturpolitik der Stadt, der Thielemann als zu konservativ gilt. Ob die Vernunft über solch unkünstlerische Überlegungen siegen wird, werden die kommenden Tage und Wochen zeigen.
Was bedeutet das für Wien?
Sollte Thielemann auf den einstigen Posten Wilhelm Furtwänglers unter den Linden wechseln, bedeutet das für Wien nichts Gutes. Der deklarierte Favorit der Wiener Philharmoniker steht zwar am Neujahrstag 2024 am Pult im Musikverein und realisiert mit dem Orchester einen Brucknerzyklus, ist aber auch Fixstarter bei anderen philharmonischen Programmen nicht zuletzt bei den Salzburger Festspielen. Aber sein lang ersehntes Comeback an die Wiener Staatsoper – er soll kommende Spielzeit die Übernahme der Lohengrin-Produktion von den Osterfestspielen 2021 dirigieren – könnte gleich auch wieder auf Jahre hinaus seine letzte Verpflichtung im Haus am Ring .
Zwar wurde gerüchteweise über eine Produktion von Hans Pfitzners Palestrina, ein Lieblingswerk Thielemanns, gesprochen; auch Wiederaufnahme von Richard-Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ oder „Arabella“ standen zur Diskussion. Doch der Dirigent, der nicht eben viele Termine pro Saison wahrnimmt, ist 2024 und 2025 mit einem – ursprünglich für Wien geplanten – neuen „Ring des Nibelungen“ gebunden, den Ex-Direktor Dominique Meyer aus der Staatsoper an sein neues Haus, die Mailänder Scala „mitgenommen“ hat. Die Verpflichtungen in Dresden enden für Thielemann zwar bereits im kommenden Jahr, doch wenn Berlin ruft, wird für Wien mit Sicherheit weniger Zeit bleiben. Seit dem Abgang Meyers ist Thielemann an der Staatsoper bisher nicht mehr aufgetreten. Die einzige geplante Serie (Aufführung von Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“) hat die Covid-Pandemie vereitelt.