Ein Buch über die ungeheurliche Leichigkeit der Tragödie: Deutschland Anno 1943.
Oliver Hilmes: Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe. Siedler Verlag. 304 S., € 24.70
Schonungslos geht dieses Buch mit seinen Lesern um. Schonungslos, wie es die Fakten aneinanderreiht. Oliver Hilmes hat sich jedes Kommentars enthalten. Er hat Dokumente gesammelt und sie so genau studiert, daß er uns das Gefühl gibt, selbst die alltäglichen Dialoge in seinem Text müßten auf Tonbandprotokollen basieren. Erfunden hat er nichts. „Schattenzeit“ wurde zur Dokumentation der ungeheuerlichen Gleichzeitigkeit von Banalität und Tragödie.
Ein Jahr in scheinbar lose aneinander gereihten Kalenderblättern. Deutschland 1943. Stalingrad, der „Totale Krieg“, Städte werden mit alliierten Bombardements überzogen. Derweilen schalten Jazzbands in den Berliner Nachtlokalen nur dann von amerikanischen Hits auf deutsche Schlager um, wenn unangemeldet Polizeikontrollen auftauchen. Man simuliert Normalität, die Propaganda verkündet nahende Triumphe – der Krieg ist verloren. Das weiß auch der junge Pianist Karlrobert Kreiten. Er gehört zu den Hoffnungsträgern des deutschen Musikernachwuchses, musiziert mit den wichtigsten Dirigenten seiner Zeit und darf auch schon Auslandsgastspiele absolvieren.
DENUNZIATION
Eine Freundin der Familie denunziert den 27jährigen Künstler: Er hat während eines geselligen Zusammenseins den Führer beschimpft und das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft heraufbeschworen. Der jugendliche Überschwang kostet ihn das Leben: Verhaftung, Verurteilung wegen »Wehrkraftzersetzung« durch den berüchtigten Roland Freisler. Am 7. September 1943 wird Kreiten als einer von 250 Delinquenten in einem Hinterhof des Gefängnisses Berlin-Plötzensee hingerichtet. Nach einem Luftangriff steht nicht einmal die Guillotine mehr zur Verfügung …
Wie ein roter Faden zieht sich diese grausame Geschichte durch Hilmes‘ Text, der aus unzähligen Detail-Aufnahmen des Zeitgeschehens gefügt ist. Jedes dieser Bilder zeigt die ungeschminkte Realität.
TAGEBÜCHER, PROTOKOLLE
Zeitungsmeldungen und Erlebnisberichte, Thomas Manns Taxierung der »haarsträubenden Botschaften«, die ihn im Exil erreichten, Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnungen mit ihren erschütternden, aus nächster Nähe protokollierten Beobachtungen kleiner und kleinster Details der menschlichen Verrohung, Joseph Goebbels‘ tägliche Reflexionen, Gestapo-Dokumente, Abhörprotokolle und Erich Kästners »Blaues Buch«.
NAZI-KARRIEREN IN DER BRD
Alle, die »nichts voneinander wußten« ahnten wohl, daß es auch einen Hans Rosenthal geben konnte, den eine mutige Frau vor der Verfolgung rettete – und der durch Zufall den NS-Schergen entging. Auch dessen Schicksal wird in knappen Szenen eingeblendet; in der BRD war Rosenthal dann ein Fernsehstar, ganz wie Werner Höfer, der über Jahrzehnte eine ARD-Sendung moderierte, als Talkshows noch „Frühschoppen“ hießen. Bis hin zu Willy Brandt machten ihm alle ihre Aufwartung.
Derselbe Werner Höfer hatte Anno 1943 im 12-Uhr-Blatt über die Hinrichtung des jungen Pianisten Karlrobert Kreiten geschrieben:
Es dürfte heute niemand Verständnis dafür haben, wenn einem Künstler, der fehlte, eher verziehen würde als dem letzten gestrauchelten Volksgenossen.
Werner Höfer, 1943
Bemerkenswert der Nachsatz: »Denn gerade Prominenz verpflichtet.« Wozu verpflichtet sie? Der Autor der eben zitierten Zeilen wurde erst Jahrzehnte später mit seiner Rolle in der NS-Zeit konfrontiert. Seine Karriere endete abrupt.
KREITEN HÖREN
Auch das, auch was aus den Protagonisten seiner gesammelten Notizzettel aus dem Jahr 1943 später wurde, berichtet Hilmes. Quasi im Nachspann seines Buches. Alle, die überlebt hatten, spielten ihre Rollen. Karlrobert Kreitens Eltern, die nichts ahnend noch am Tag nach der Hinrichtung ihres Sohnes ein Gnadengesuch einreichen wollten – und dann die Rechnung für Prozeß und Urteilsvollstreckung zu bezahlen hatten: Sie führten ihr Haus als großen Kultursalon und empfingen Gäste.
Die wenigen Tonaufnahmen, die von der Kunst ihres ermordeten Sohnes erhalten geblieben sind, kann man längst auf CD nachhören: „In Memoriam“ enthält auf Track 7 nicht nur Musik, sondern auch eine kurze Moderation, die Kreiten selbst sprach: „Ich spielte Nocturne cis-Moll von Chopin. Karlrobert Kreiten, Düsseldorf, Oktober 1934.“ Der Rest ist nicht unbedingt Schweigen, wer mag klickt auf Track 5. Da spielt Karlrbert Kreiten den „Donauwalzer“ …