Igor Strawinsky (1928)
Das Ballett, entstanden über Auftrag Ida Rubinsteins für die Choreographin Bronislava Nijinska, hat Igor Strawinsky, basierend auf einer Erzählung von Hans C. Andersen als Hommage an sein großes Vorbild Peter Iljitsch Tschaikowsky komponiert. Er griff dabei auf kurze, großteils wenig bekannte Stücke Tschaikowskys zurück, die er allerdings – im Gegensatz zu den barocken Vorlagen, die er für »Pulcinella« genutzt hatte – stark verfremdet hat. Vor allem hat er Tempi und musikalischen Charekter von Tschaikowskys Kompositionen verändert, oft in ihr Gegenteil verkehrt: So wurde aus einem »Scherzo humoresque« (op. 19/2) das langsame Lied, mit dem Szene III beginnt.
Bemerkenswert der Satz, den Strawinsky dieser Ballettmusik in seiner Autobiographie widmet:
Ich habe mich an einem neuen Kompositions- und Orchestrierungsstil versucht, der die Musik beim ersten Hören verständlich machen sollte.
Der Kuß der Fee
Szene I
Wiegenlied im Sturm
Eine Mutter kämpft sich durch einen wilden Sturm und versucht wiegen ihr Kind zu beruhigen, das sie schützend im Arm hält. Die dienstbaren Geister der Fee verfolgen das Paar, entreißen der Frau das Kind, das, von der Fee geküßt, allein bleibt. Bauern finden es und suchen nach der Mutter. Doch vergeblich. Sie nehmen das Findelkind mit sich.
Szene II
Bäuerliches Fest
Ein junger Mann und seine Braut tanzen. Als der Mann zuletzt allein bleibt, erscheint ihm dei Fee in Gestalt einer Zigeunerin, die ihm seine Zukunft weissagt. Tanzend zieht sie ihn immer mehr in ihre Gewalt und verheißt ihm großes Glück. Der junge Mann bittet sie, ihn wieder seiner Braut zuzuführen.
Szene III
In der Mühle
In der Mühle findet der Mann seine Braut, die mit ihren Freundinnen spielt. Nach einem gemeinsamen Tanz verschwindet das Mädchen, um ihr Hochzeitskleid anzulegen. Der junge Mann bleibt allein zurück.
Szene IV
In den Brautschleier gehüllt, erscheint jedoch die Fee. Der junge Mann ist fasziniert und nimmt sie leidenschaftlich in seine Arme. Erst als die Fee den Schleier abwirft, erkennt er seinen Irrtum. Doch hat er gegen die Zauberkräfte keine Macht: Die Fee entführt ihn in ein Land jenseits von Zeit und Raum. Während die Braut vergebens nach ihrem Geliebten sucht, küßt die Fee in den Gefilden der Seligen, umschwebt vom Reigen der Geister, kihr Opfer zu den Klängen eines Wiegenliedes noch einmal: Der junge Mann ist der Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky, die Fee seine mephistophelische Muse.
Balanchines Eigenmächtigkeit
Strawinsky verstand sein Ballett als Hommage an den verehrten Vorgänger – doch die Apotheose mit dem verhängnisvollen »Musenkuß« war nur anläßlich der Pariser Uraufführung am 27. November 1928 in der Choreographie der Nijinska zu sehen. Georges Balanchine hat sie mißfallen. Er strich für seine Version des Werks das Finale und ließ es mit einem Bauerntanz enden, eine Eigenmächtigkeit, die auch den harmonischen Plan von Strawinskys Partitur mißachtet. Das Ballett schließt demnach in der Praxis nicht in der Grundtonart des Werks …
1960 hat auch Kenneth MacMillan eine eigene Version des Werks für seine Londoner Compagnie erarbeitet.
Der »Kuß der Fee« gehört nicht unbedingt zu den Favoriten großer Dirigenten. In seiner Mailänder Zeit hat Riccardo Muti sich der Partitur angenommen und eine höchst wohlklingende Version mit dem Orchester der Scala eingepielt. Sie enthält die gesamte Ballettmusik.
Unverzichtbar ist die Erstaufnahme der »Divertimento« genannten Suite, die einen Großteil der Musik wiedergibt – nur einige wenige Szenen hat Strawinsky für den Konzertgebrauch gestrichen. Igor Markevich stand am Pult des Pariser Rundfunkorchesters – Seite 2 der Langspielplatte enthielt eine nicht minder fein durchgearbeitete, spritzige Version von »Puclinella« – in diesem Fall nicht die Suite, sondern die erste Gesamtaufnahme des Balletts. Eine exzellente Platte, auf diversen CD-Umschnitten und bei Streamingdiensten abrufbar.