Wiens Operntraum lebt wieder auf
Kommentar im Gefolge der ersten Wochen der neuen Staatsopern-Ära, die nach dem Wunsch des neuen Direktors Eberhard Waechter mit einer Spielzeit ohne Premieren begann und vor allem der Pflege des Repertoires gewidmet war.
21. September 1991
Die jüngste „Salome“-Aufführung in der Wiener Staatsoper rief mir eine der berühmtesten Anekdoten der legendären Ära Gustav Mahlers in Erinnerung, die ein offenbar allzeit virulentes Problem zum Thema hat: Der Oberspielleiter, sehr auf szenischen Hochglanz der täglichen Vorstellungen bedacht, urgierte bei Direktor Mahler die Finanzierung einer neuen Linde für Wagners „Siegfried“. Die alte sei, so der Oberspielleiter, schon schäbig und dem Publikum daher nicht mehr zumutbar.“ Solange unter der Linde ein hervorragend singender Siegfried steht, ist sie immer noch schön genug,“ lautete Mahlers Replik.
Wie recht er hatte, erwies sich anläßlich besagter „Salome“ am vergangenen Montag. Die Inszenierung ist zu Beginn der siebziger Jahre entstanden und daher nicht zwanzig Jahre alt, sondern einfach nicht mehr vorhanden. Das Bühnenbild glitzert lange nicht mehr so jugendstilig vielfarbig wie einst.
Aber auf der Bühne stand die vielleicht aufregendste Salome, die sich heute denken läßt: Mara Zampieri. Sie spielte und sang so intensiv wie die Callas, hätte sie diese Partie je gewagt. Umgeben war sie von einer mit Bedachtsamkeit ausgewählten Besetzung, getragen von einem Orchester, dem endlich nicht nur für Raritäten, sondern auch für Richard Strauss die nötige Probenzeit gegönnt wird. Das Ergebnis war nicht irgendeine oder gar keine „Inszenierung“, sondern das Stück, so packend und mitreißend wie man sich’s erträumt.
Was das bedeutet? Die Staatsoper hatte solche stimmige, einfach „richtige“ Abende seit einigen Jahren so gut wie nie anzubieten, allenfalls dann, wenn eine Premiere angesagt war. Daß bei entsprechend liebevoller und sachkundiger Planung von Seiten der Direktion auch der Repertoirebetrieb zum Fest werden kann, ist seit Jahren in Vergessenheit geraten.
Jetzt haben sich Eberhard Waechter und Joan Holender die Repertoirepflege zum Ziel gesetzt und zum Zeichen dessen auf jede „echte“ Premiere in ihrer ersten Spielzeit verzichtet.
Daß gleich in den ersten paar Wochen ihrer Amtszeit nicht nur ein Glücksfall wie „Salome“, sondern eine Menge anderer Vorstellungen von bedeutenden, zuletzt nachlässig, wenn nicht fahrlässig behandelten Werken der Musikgeschichte auf so deutlich gehobenem Niveau über die Bühne gehen würden, das haben sich vielleicht nicht einmal die beiden träumen lassen.
Das Schöne daran: Die Opernfreunde dürfen aufatmen. Selbst wenn, was zu erwarten ist, kein Wunder geschieht und daher in den kommenden Wochen auch weniger gute Vorstellungen, auch manche Enttäuschung zu registrieren sein werden, ist der Beweis für die Möglichkeit erbracht, Oper in Wien auch heute noch im täglichen Betrieb auf allerhöchstem, wie im Fall der „Salome“ sogar weltweit konkurrenzlosem Niveau zu spielen.
Bei alledem sind auch manche junge Sänger zu entdecken, die eine große Karriere vor sich haben könnten. Und dem Orchester wird dank einer deutlich reduzierten Fluktuation an Dirigenten und einer den realen Anforderungen der gespielten Werke entsprechenden Probenplanung Gelegenheit gegeben, seine Qualitäten wieder ungehindert zu entfalten.
Früher einmal hätte man solche Bedingungen in einem Haus wie dem unseren als Selbstverständlichkeiten bezeichnet. Heute scheint es – nach einer langen Durststrecke – kaum zu glauben, daß es in der Staatsoper plötzlich wieder so spannend zugeht, daß der Musikfreund Lust verspürt, gleich mehrmals in der Woche Verdi, Wagner, Strauss oder Mozart zu erleben.
Noch ist es zu früh, eine Prognose zu wagen. Die vergangenen Wochen geben immerhin Anlaß zur Hoffnung, Waechter und Holender würden die Wiener wieder zur Oper verführen. Gelänge ihnen das, ginge nicht nur ihr Traum in Erfüllung.