Bestandsaufnahme der Musik der Wiener Ära nach 1900
Das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich spannte im Musikverein unter Fabien Gabel einen schillernden Bogen von Richard Wagner bis Joseph Marx – samt »modernen« Spätromantikern wie Zemlinsky und Alban Berg.
Die Tonkünstler-Konzerte im Musikverein sind bei Wiener Musikfreunden nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil sie oft höchst spannend programmiert und vor allem seit Jahr und Tag eine Plattform für exzellente Solisten bieten. Man erinnert sich vielleicht: Die Tonkünstler waren das erste Wiener Orchester, das Grigory Sokolov am Vorabend seines Ruhms eingeladen hat.
Derzeit horchen die Abonnenten und Zaungäste auf, wenn junge Stimmen ertönen. Unlängst die von Aigul Akhmetshina, die ihren prächtigen Alt gleich in zwei hochromantische Liederzyklen verströmte. Zuletzt Kate Lindsey und Nikola Hillebrand, diesmal nicht als Hänsel und Gretel, sondern jede für sich mit wiederum wohlig-schönen Klangstudien der spätesten Romantik, an der Schwelle zur Moderne: Alexander von Zemlinskys Maeterlinck-Gesänge op. 13, eine Vorstudie zu den sinnlichen Eruptionen der „Lyrischen Symphonie“, und die Sieben frühen Lieder Alban Bergs.
Samt, Seide und Geheimnis
Dass Letztere just am 100. Jahrestag der Uraufführung des „Wozzeck“ erklangen, den man in Berlin mit einer Wiederaufnahme dieses Marksteins der Avantgarde unter Christian Thielemann am Premieren-Haus in Berlin unter den Linden begann, darf als wienerische Spezialität gelten. So, als charmanten Zeitgenossen von Richard Strauss, haben wir unseren Vorzeige-Komponisten der Wiener Schule ja doch am liebsten.
Attraktive Solistinnen: Nikola Hillebrand und Kate Lindsey
Jedenfalls kann Nikola Hillebrand ihren Sopran, attraktiv umhüllt von nur sanft ausschweifenden Dur- und Moll-Harmonien des Orchesters, ungehindert verströmen und aufblühen lassen. Die silberhelle Stimme gewinnt zusehends an Farbe und Wärme, ohne an Beweglichkeit einzubüßen. Kate Lindseys mild-schöner Mezzo entfaltet sich bei Zemlinsky zu den dunkel-mysteriösen Texten des belgischen Symbolisten nicht minder verführerisch und vor allem stilistisch ganz in Maeterlincks, nach außen hin kühl distanziert, aber nach innen spürbar glühendem Ausdruck.
DIE MANIE: ZU KLEIN BESETZTE ORCHESTER
Vielleicht wäre die irisierende Klangpalette der beiden Komponisten noch eindrucksvoller zur Geltung gekommen, hätte man die Streicherbesetzung nicht so drastisch reduziert: Mehr Musiker schaffen erfahrungsgemäß bei zurückgenommener Dynamik doch das tragfähigere Pianissimo. Und die zarten Damenstimmen sind viel eher durch den satten Bläsersatz gefährdet.
Joseph Marx, der Unbekannte
Wie auch immer: Die Tonkünstler genossen unter Fabien Gabel zuletzt bei Joseph Marx’ „Symphonischer Nachtmusik“ hörbar die Möglichkeit, das vielfarbige Feuerwerk der österreichischen Anti-Moderne zu zünden. Sie hatten zu Beginn des Nachmittags bereits demonstriert, wo all diese musikalischen Zaubereien ihre Wurzel haben: Wagner hatte in seinem »Tristan« schon im Vorspiel all jene Fragen aufgeworfen, die noch 100 Jahre später nicht beantwortet waren.
Schön, dass — diesmal jenseits von Isoldes „Liebestod“ — auch wieder in jene Regionen der folgenden Explorationen geleuchtet wird, die den vollständigen Bruch mit der Tonalität nicht mitmachen wollten. Auch die jüngere österreichische Musikgeschichte ist reich an Schönheiten, die wieder entdeckt werden wollen.

Hörtipp: Auf der Ö1-Plattform steht noch bis knapp vor Weihnachten der Mitschnitt des Konzerts mit Aigul Akhmetshina online. Ab 8. Jänner dann für vier Wochen das Konzert mit Kate Lindsey und Nikola Hillebrand.